Vicuña (Auchenia Vicunna)

[87] »Zierlicher als das Lama«, sagt Tschudi, »ist die Vicuña, sprich Wikunja (Auchenia Vicunna). An Größe steht sie zwischen dem Lama und Paco, unterscheidet sich aber von beiden durch [87] viel kürzere und gekräuseltere Wolle von ausnehmender Feinheit. Der Scheitel, die obere Seite des Halses, der Rumpf und die Schenkel sind von eigenthümlicher, röthlichgelber Färbung (Vicuñafarbe); die untere Seite des Halses und die innere der Gliedmaßen hell-ockerfarben, die 12 Centim. langen Brusthaare und der Unterleib weiß.

Während der nassen Jahreszeit halten sich die Vicuñas auf den Kämmen der Kordilleren auf, wo die Pflanzenwelt nur höchst spärlich sich zeigt. Sie bleiben, weil ihre Hufe weich und empfindlich sind, immer auf den Rasenplätzen und ziehen sich, auch verfolgt, niemals auf die steinigten, nackten Gipfel und noch viel weniger, wie unsere Gemsen, auf Gletscher und Schneefelder zurück. In der heißen Jahreszeit steigen sie in die Thäler herab.


Vicuña (Auchenia Vicunna). 1/16 natürl. Größe.
Vicuña (Auchenia Vicunna). 1/16 natürl. Größe.

Der scheinbare Widerspruch, daß die Thiere im Winter die kalten, im Sommer die heißen Gegenden aufsuchen, erklärt sich dadurch, daß während der trockenen Jahreszeit die Kordillerenrücken ganz ausgedörrt sind und die überhaupt spärliche Pflanzenwelt ihnen nur in den Thälern, wo es Quellen und Sümpfe gibt, hinreichende Nahrung darbietet. Sie grasen fast den ganzen Tag, und es ist eine Seltenheit, einmal ein liegendes Rudel dieser Thiere zu überraschen. Während der Brunstzeit kämpfen die Männchen mit der größten Erbitterung um die Stelle des Anführers der Rudel von Weibchen; denn jedes duldet nur ein Männchen. Die einzelnen Scharen bestehen aus sechs bis funfzehn Weibchen. Das Männchen hält sich immer zwei bis drei Schritte von seiner Weiberschar zurück und bewacht sie sorgfältigst, während sie sorglos weidet. Bei Annäherung der geringsten Gefahr gibt es ein Zeichen durch helles Pfeifen und schnelles Vortreten; sogleich vereinigt sich das Rudel, steckt die Köpfe [88] neugierig nach der gefahrdrohenden Stelle hin, nähert sich ein paar Schritte, und dreht sich dann plötzlich zur Flucht. Das Männchen deckt den Rückzug, bleibt öfters stehen und beobachtet den Feind. Die Bewegungen bei schnellem Laufen bestehen in einem schleppenden, wiegenden Galopp, welcher nicht so rasch ist, als daß in einer Pampa diese Thiere von einem wohlberittenen Reiter nicht eingeholt werden könnten. Unmöglich aber ist solches auch auf dem schnellsten Pferde, wenn sich die Vicuñas an die Bergabhänge halten und besonders, wenn sie bergauf laufen; denn dann sind sie den Pferden gegenüber im größten Vortheile. Mit seltener Treue und Anhänglichkeit lohnen die Weibchen die Wachsamkeit ihres Anführers; denn wenn dieser verwundet oder getödtet wird, so laufen sie laut pfeifend im Kreise um ihn herum und lassen sich alle todtschießen, ohne die Flucht zu ergreifen. Trifft aber das tödtende Blei zuerst ein Weibchen, so flieht die ganze Schar. Die Huanacoweibchen dagegen fliehen, wenn das sie führende Männchen getödtet wird.

Im Monat Februar wirft jedes Weibchen ein Junges, welches gleich nach der Geburt eine außergewöhnliche Ausdauer und Schnelligkeit entwickelt, wie folgendes Beispiel beweist. Im Februar 1842 gelang es uns, auf der Höhe von Chacapalpa eine einzelne Vicuña, welche ihr Junges säugte, zu überraschen. Sie ergriff sogleich die Flucht, indem sie das Kleine vor sich hertrieb. Wir verfolgten diese beiden Thiere in Gesellschaft eines durch seine Ortskenntnis ausgezeichneten Freundes auf Punapferden, welche an diese Art Jagd sehr gewöhnt waren, drei volle Stunden lang, fast immer im gestreckten Galopp hinter ihnen herjagend, ehe es uns gelang, die Mutter von ihrem Jungen zu trennen. Sobald dies erreicht war, konnten wir letzteres ohne Schwierigkeit mit den Händen greifen. Wir fanden, daß dieses Thierchen vielleicht wenige Stunden vor unserer Ankunft geboren worden war; denn die Nabelschnur war noch vollkommen frisch und strotzend, so daß wir vermutheten, die Geburt habe in der Nacht stattgehabt. Die kleine Vicuña ließen wir durch einen Indianer nach Chacapalpa bringen und daselbst mit Milch und Wasser auffüttern. Sie wuchs munter heran, wurde aber leider von einem Hunde todt gebissen.

Die jungen männlichen Vicuñas bleiben so lange mit ihrer Mutter zusammen, bis sie ausgewachsen sind; dann aber vereinigt sich das ganze Rudel Weibchen und treibt die nun schon zeugungsfähigen Männchen durch Beißen und Schläge fort. Diese vereinigen sich nun zu eigenen Rudeln, welche sich anderen anschließen, die von den besiegten Männchen gebildet werden und so zu Scharen von zwanzig bis dreißig Stück anwachsen können. Hier geht es freilich nicht immer friedlich her. Da kein Anführer die Truppe leitet, sind alle sehr mißtrauisch und wachsam, so daß der Jäger nur mit vieler Vorsicht und Schwierigkeit sich einem solchen Rudel nähern und selten mehr als ein Stück erlegen kann. Zur Brunstzeit ist die Unordnung unter solchen Haufen grenzenlos, weil im bunten Wirrwarr sich alle schlagen und stoßen und dabei ein helles, abgebrochenes, sehr widrig tönendes Geschrei, ähnlich dem Angstgeschrei der Pferde, ausstoßen.

Man trifft zuweilen auch einzelne Vicuñas an, denen man sich mit Leichtigkeit nähern, und welche man, wenn sie die Flucht ergreifen, nach einem kurzen Galopp einholen und mit der Wurfschlinge oder Wurfkugel einfangen kann. Die Indianer behaupten, diese Thiere seien deshalb so zahm, weil sie an Würmern litten. Wir haben uns von der Richtigkeit dieser Thatsache vollkommen überzeugt, weil wir bei der Untersuchung eines derartigen Thieres fanden, daß die Bauchspeicheldrüse und die Leber eigentlich nur ein Gewimmel von Eingeweidewürmern waren. Wir sind geneigt, wie die Indianer, die Ursache dieser Krankheit den feuchten Weiden, welche die Vicuñas besuchen, zuzuschreiben; denn die Beobachtung weist nach, daß die wurmkranken Thiere fast ausschließlich während der nassen Jahreszeit gefunden werden.

Das Geschrei dieser Thiere läßt sich schwer beschreiben, ist aber so bezeichnend, daß man es, einmal gehört, nicht wieder vergißt. Die reine dünne Luft trägt diese durchdringenden Töne bis in die weite Ferne, von wo aus auch ein sehr scharfes Auge die Thiere noch nicht entdecken kann.«

Acosta theilt mit, daß die Vicuñas sehr flüchtig und furchtsam sind und augenblicklich vor den Jägern und selbst vor anderen Thieren davonlaufen, wobei sie ihre Jungen vor sich hertreiben. [89] Sie vermehren sich nicht stark, und deshalb haben die Inkas die Jagd verboten, selbstverständlich nur unter ihren Unterthanen; denn sie stellen der Jagd halber große Feste an. Seit die Spanier in das Land gekommen sind, haben sich die schönen Thiere wesentlich vermindert, weil die Christen ihnen weniger Schonung zu Theil werden ließen als die Indianer, welche zwar ebenfalls viele von ihnen fingen und tödteten, die Weibchen aber laufen ließen und somit der Vermehrung keinen Eintrag thaten. In der Neuzeit scheint dies anders geworden zu sein.

»Die Indianer«, berichtet Tschudi, »bedienen sich nur selten der Feuergewehre, um die Vicuñas zu erlegen. Sie stellen Jagden an, zu welchen jede Familie der Hochebene wenigstens einen Mann stellen muß; die Wittwen gehen als Köchinnen mit. Es werden Stöcke und ungeheuere Knäuel von Bindfaden mitgenommen. In einer passenden Ebene werden die Stöcke, je zwölf bis funfzehn Schritte von einander, in die Erde gesteckt und durch Bindfaden in der Höhe von achtzig Centim. mit einander verbunden. Auf diese Weise wird ein kreisförmiger Raum von einer halben Stunde Umfang abgesteckt, indem auf einer Seite ein Eingang von ein paar hundert Schritten Breite offen gelassen wird. Die Weiber hängen an die Schnur des Umkreises bunte Lappen, welche vom Winde hin und her geweht werden. Sobald alles fertig ist, zerstreuen sich die Männer, von denen ein Theil beritten ist, und treiben von vielen Meilen in der Runde alle Rudel von Vicuñas durch den Eingang in den Kreis. Wenn eine gehörige Anzahl versammelt ist, wird dieser geschlossen. Die scheuen Thiere wagen nicht, über den Faden mit den flatternden Fetzen zu springen, und werden leicht mit den Bolas erlegt. Die Bolas bestehen aus drei Kugeln, zwei schweren und einer leichteren, von Blei oder Steinen, die an langen Schnüren, aus den Sehnen von Vicuñas gedreht, befestigt sind. Diese Schnüre werden an ihren freien Enden zusammengeknüpft. Beim Gebrauche wird die leichtere Kugel in die Hand genommen und die beiden übrigen in weiten Kreisen über den Kopf geschwungen. In der gehörigen Entfernung vom Ziele, nämlich funfzehn bis zwanzig Schritte, wird die Handkugel auch losgelassen, und nun schwirren alle drei im Kreise auf dem bestimmten Punkt los und schlingen sich um den Gegenstand, welchen sie treffen. Den Thieren wird gewöhnlich nach den Hinterfüßen gezielt. Die Bolas binden diese so fest zusammen, daß jede Bewegung gehemmt ist und das Opfer stürzt. Es bedarf großer Gewandtheit und langer Uebung, um sich der Bolas geschickt zu bedienen, besonders zu Pferde; denn nicht selten verwundet der Neuling sich oder sein Thier lebensgefährlich. Die mit Bolas gefangenen Vicuñas werden abgeschlachtet und das Fleisch unter die Anwesenden gleichmäßig vertheilt. Die Felle hingegen gehören der Kirche.

Im Jahre 1827 erließ Bolivar ein Gesetz, demzufolge die gefangenen Vicuñas nicht getödtet, sondern nur geschoren werden sollten. Das Gesetz blieb aber nicht in Kraft; denn das Scheren dieser Thiere wurde durch ihre Wildheit fast unmöglich gemacht. Zur Zeit der Inkas wurden die Jagden in viel großartigerem Maßstabe ausgeführt: sie versammelten jährlich bis dreißigtausend Indianer, welche aus einem Umkreise von zwanzig Meilen alles Wild in einen ungeheuren, auf vorbenannte Weise umzäunten Platz treiben mußten. Bei dem sich immer enger schließenden Kreise wurden die Reihen der Indianer zuletzt verdoppelt und vervielfacht, daß kein Thier entfliehen konnte. Die schädlichen, wie die Bären, Kuguare und Füchse, wurden getödtet, von den Hirschen, Rehen, Vicuñas und Huanacos nur eine bestimmte Anzahl. Es sollen oft bis gegen vierzigtausend Thiere zusammengetrieben worden sein. Wenn Huanacos in die jetzigen Umzäunungen kommen, so durchbrechen sie die Schnur oder setzen darüber weg, dann folgen ihnen auch die Vicuñas. Es wird daher beim Treiben wohl Acht darauf gegeben, keine der ersteren mitzujagen. Sobald alle Vicuñas in der Umzäunung getödtet sind, wird der Faden aufgerollt und einige Meilen weiter wieder aufgestellt. Die ganze Jagd dauert eine Woche. Die Anzahl der in dieser Zeit getödteten Thiere beträgt oft nur funfzig, oft aber auch mehrere hundert. Ich nahm während fünf Tagen an einer solchen Jagd theil; es wurden 122 Vicuñas gefangen, und aus dem Erlöse der Felle ein neuer Altar in der Kirche gebaut.

[90] Jung eingefangene Vicuñas lassen sich leicht zähmen und benehmen sich sehr zutraulich, indem sie sich an ihre Pfleger mit Liebe anschließen und ihnen, wie wohlgezogene Hausthiere, auf Schritt und Tritt nachlaufen; mit zunehmendem Alter aber werden sie, wie alle ihre Verwandten, tückisch und durch das ewige Spucken unerträglich. Ein Pfarrer hat ein Pärchen Vicuñas mit vieler Mühe groß gezogen und sie vier Jahre lang bei einander behalten, ohne daß sie sich begattet hätten. Das Weibchen entfloh im fünften Jahre seiner Gefangenschaft mit einem Halsbande und einem Stück Leine, an welches es gebunden war. Es suchte sich an ein Rudel wilder Vicuñas anzuschließen, wurde aber immer von denselben durch Beißen und Stoßen weggetrieben und mußte so allein auf den Hochebenen herumirren. Wir haben es monatelang nachher öfter auf unseren Streifzügen getroffen: es entfloh aber stets bei unserer Annäherung. Das Männchen war das größte Thier seiner Art, welches wir je gesehen haben; seine Stärke entsprach seiner Größe. Wenn sich ihm jemand zu sehr näherte, richtete es sich auf den Hinterbeinen senkrecht auf und schlug mit einem Schlage der Vorderbeine den stärksten Mann zur Erde nieder. Es zeigte durchaus keine Anhänglichkeit gegen seinen Wärter, obgleich dieser es während mehr als fünf Jahren gepflegt hatte.«

Schon zu Acostas Zeiten schoren die Indianer auch die Vicuñas und verfertigten aus der Wolle Decken von sehr hohem Werthe, welche das Aussehen weißseidenen Stoffes hatten und, weil sie nicht gefärbt zu werden brauchten, sehr lange ausdauerten. Die Kleider von diesen Zeugen waren besonders für heiße Witterung geeignet. Noch gegenwärtig webt man die feinsten und dauerhaftesten Stoffe aus dieser Wolle und filzt haltbare, weiche Hüte aus ihr.

Von allen Lama-Arten werden Bezoarkugeln gewonnen, welche in früherer Zeit große Bedeutung hatten; gegenwärtig aber nur nach ihrem wahren Werthe geachtet sind, als eigenthümliche Magenausscheidungen, deren Hauptbestandtheile kohlensaurer und phosphorsaurer Kalk nebst Gallenfett und zersetzten Pflanzenstoffen sind.

Einzelne Naturforscher vereinigten mehrere kleine, höchst zierlich gebaute Wiederkäuer, unter denen sich auch die Zwerge der ganzen Ordnung befinden, die Moschusthiere nämlich, mit den Hirschen; wir sehen in ihnen eine besondere Familie.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 87-91.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

In Paris ergötzt sich am 14. Juli 1789 ein adeliges Publikum an einer primitiven Schaupielinszenierung, die ihm suggeriert, »unter dem gefährlichsten Gesindel von Paris zu sitzen«. Als der reale Aufruhr der Revolution die Straßen von Paris erfasst, verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit. Für Schnitzler ungewöhnlich montiert der Autor im »grünen Kakadu« die Ebenen von Illusion und Wiklichkeit vor einer historischen Kulisse.

38 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon