2. Sippe: Lamas (Auchenia)

[76] Auch die Kamele beweisen uns, daß die amerikanischen Thiere, welche als Vertreter altweltlicher Arten oder Sippen auftreten, gegen diese betrachtet, nur Zwerge sind. Die Lamas (Auchenia) sind Kamele; aber sie stehen hinter den altweltlichen Arten in ihrer Größe ebensoweit zurück wie der Puma hinter dem Löwen oder wie der größte Dickhäuter Amerikas hinter den Riesen der Alten Welt. Freilich kommt hierzu, daß die amerikanischen Kamele Bewohner der Gebirge sind und schon deshalb nicht dieselbe Größe erreichen können wie ihre altweltlichen Verwandten, welche der Ebene angehören. Die Lamas unterscheiden sich von den eigentlichen Kamelen aber nicht bloß durch ihre geringere Größe, sondern auch durch den verhältnismässig großen, stark zurückgedrückten Kopf mit spitzer Schnauze, ihre großen Ohren und Augen, den dünnen, schmächtigen Hals, die hohen und schlanken Beine mit mehr gespaltenen Zehen und nur geringen Schwielen und durch das lange, wollige Haarkleid. Dem Rumpfe fehlt der Höcker; die Weichen sind noch mehr eingeschnürt als bei den echten Kamelen. Die beiden oberen Schneidezähne sind nach vorn breit und abgerundet, nach hinten schmal, die unteren zwei, sehr breiten und hinten gekanteten, stehen wagerecht im Kiefer; die Backenzähne sind einfach gebaut und ändern nach dem Alterszustande, indem der vorderste, eckzahnartige schon während der Saugezeit verloren geht. Lange Halswirbel, zehn Brustwirbel, der Zwerchfell-, sieben Lenden-, fünf Kreuz- und zwölf Schwanzwirbel kennzeichnen das Gerippe. Die lange, schmale Zunge ist mit harten, hornigen Wärzchen bedeckt; der Pansen wird in zwei Hälften getheilt, der Psalter fehlt gänzlich; der Darmschlauch erreicht ungefähr die sechzehnfache Länge des Leibes.

Die Lamas zerfallen in vier verschiedene Formen, welche schon seit alten Zeiten die Namen Huanaco oder Guanaco, Lama, Paco oder Alpaca und Vicuña führen. Noch haben die Forscher sich nicht geeinigt, ob sie diese vier Thiere sämmtlich als besondere Arten ansehen sollen oder nicht. Die einen erblicken in dem Guanaco die Stammart des Lama und des Paco und [76] glauben vornehmlich darin eine Unterstützung ihrer Meinung zu finden, daß Lama und Guanaco sich fruchtbar mit ein ander vermischen und fruchtbare Blendlinge erzeugen; die anderen erachten die geringen Unterschiede in der Gestalt für wichtig genug, um die vier Lamas, wie die Eingebornen es immer gethan haben, als besondere Arten anzusehen. Tschudi, ein Forscher, welcher alle Lamas in ihrer Heimat beobachten konnte, schließt sich der Ansicht der Eingebornen an, und sein Ausspruch hat lange für maßgebend gegolten. Bedenken wir jedoch, wie groß und in wie hohem Grade umgestaltend der Einfluß der Zähmung auf Thierformen ist, so werden wir auch die entgegengesetzte Anschauung für berechtigt erklären müssen und in dem Lama und dem Paco kaum etwas anderes als gezähmte Nachkommen des Guanaco erkennen dürfen.

Guanaco und Vicuña leben noch heutigen Tages wild; Lama und Paco sind schon seit undenklichen Zeiten zu Hausthieren geworden. Bereits die ersten Entdecker Amerikas fanden beide im gezähmten Zustande vor; die Ueberlieferung der Peruaner verlegt die Zähmung der Thiere in das früheste Zeitalter menschlichen Daseins und bringt sie mit der irdischen Erscheinung ihrer Halbgötter in Verbindung. Abergläubische Auschauungen herrschten unter jenen Völkerschaften hinsichtlich der Verwendung des Lama beim Opferdienste; namentlich die Färbung der zum Weihopfer der Götter bestimmten Thiere war, je nach den verschiedenen Festen, genau vorgeschrieben. Die zuerst landenden Spanier fanden überall bedeutende Lamaherden im Besitze der Gebirgsbewohner und beschrieben die Thiere, wenn auch etwas unklar, doch so ausführlich, daß man selbst die einzelnen Formen ohne Mühe erkennen kann.

Schon Xerez, welcher die Eroberung Perus durch Pizarro schildert, erwähnt des Lama als eines Lastthieres. »Sechs Leguas von Caxamalca«, sagt er, »wohnten an einem mit Bäumen umwachsenen See indianische Hirten mit Schafen von verschiedener Art, mit kleinen, wie die unserigen, und mit so großen, daß sie dieselben als Lastthiere zum Tragen ihrer Bedürfnisse brauchten.« Pedro de Cieza unterscheidet die vier Arten schon im Jahre 1541 sehr genau. »Es gibt keinen Theil der Welt«, bemerkt er, »wo man so sonderbare Schafe findet wie in Peru, Chile und einigen Provinzen des La Plata. Sie gehören zu den vortrefflichsten und nützlichsten Thieren, welche Gott erschaffen hat, gleichsam aus besonderer Sorge für die daselbst wohnenden Leute, welche ohne dieses Vieh nicht im Stande wären, ihr Leben zu fristen. In den Thälern Ebene säen die Eingebornen Baumwolle und fertigen sich daraus ihre Kleider; im Hochgebirge und in vielen anderen Gegenden wächst weder ein Baum, noch Baumwolle, so daß die Einwohner nichts haben würden, um sich zu kleiden. Daher gab ihnen Gott eine solche Menge von diesem Wieh; aber die wüthenden Kriege der Spanier haben es bereits sehr vermindert. Die Eingebornen nennen die Schafe Lamas, die Widder Urcos. Sie gleichen in der Größe einem kleinen Esel mit breiten Hüften und dickem Bauche; am Halse und in der Gestalt ähneln sie dem Kamele, im Aussehen den Schafen. Die Thiere leben von den Kräutern der Felder. Sie sind sehr zahm und gar nicht widerspenstig; nur wenn sie Schmerzen haben, werfen sie sich nieder und ächzen wie die Kamele. Die Widder nehmen leicht zwei bis drei Arrobas auf den Rücken, und das Fleisch, welches sehr gut ist, verliert nichts von seiner Güte durch das Lasttragen. Es gibt einen andern Verwandten von diesen Thieren, welchen sie Guanaco nennen. Er hat dieselbe Gestalt, ist aber größer. Davonlaufen starke Herden wild in den Feldern herum und springen mit solcher Leichtigkeit, daß der Hund sie kaum einholt. Außerdem findet man noch eine andere Sorte dieser Schafe, welche Vicuñas heißen. Sie sind noch hurtiger als die Guanacos und gehen in den Wüsten umher, um die Kräuter zu fressen, welche ihnen Gott hat wachsen lassen. Ihre Wolle ist vortrefflich und so gut, ja noch feiner als die der Merinoschafe. Ich weiß nicht, ob man Tuch aus ihr weben könnte; aber dasjenige Zeug, welches für die Vornehmen dieses Landes gewebt wird, ist zum Verwundern schön. Das Fleisch der Vicuñas und Guanacos ist sehr gut; es gleicht im Geschmacke dem Schaffleische. In der Stadt de la Paz habe ich geräuchertes Salzfleisch von einem fetten Guanaco gegessen, welches mir so gut schmeckte wie keines in meinem Leben. Endlich [77] gibt es noch eine andere Art von zahmem Vieh, welches Paco heißt, aber sehr garstig und langwollig ist; es hat auch die Gestalt der Lamas oder Schafe, ist aber kleiner. Die Lämmer gleichen sehr den spanischen. Ohne diese Widder und Schafe wäre man nicht im Stande, die vielen Waaren von Potosi, welcher einer der größten Handelsplätze ist, hin und her zu schaffen.«

Aus diesen Angaben geht unzweifelhaft so viel hervor, daß sich binnen dreier Jahrhunderte die vier verschiedenen Formen der Lamas nicht verändert haben.

Alle Lamas sind Bewohner der Hochebenen des gewaltigen Gebirges der Kordilleren. Sie befinden sich nur in den kalten Gegenden wohl und steigen deshalb bloß im äußersten Süden der Andeskette bis in die Pampas oder großen Ebenen Patagoniens herab. In der Nähe des Gleichers liegt ihr Aufenthaltsort in einer Höhe zwischen vier- und fünftausend Meter über dem Meere, und tiefer als zweitausend Meter über dem Meere gedeihen sie hier nicht, während ihnen dagegen das kalte Patagonien auch in geringeren Meereshöhen zusagende Aufenthaltsorte bietet. Die wildlebenden ziehen sich während der nassen Jahreszeit auf die höchsten Kämme und Rücken der Gebirge zurück und steigen während der trockenen Zeit in die fruchtbaren Thäler herab. Sie leben in größeren oder kleineren Gesellschaften, nicht selten in Rudeln von mehreren hundert Stück, und bilden Gegenstände der eifrigsten Jagd.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 76-78.
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