Bezoarziege (Capra Aegagrus)

[314] Die Bezoarziege oder der Paseng (Capra Aegagrus, Hircus und Aegoceros Aegagrus, Capra bezoartica, Aegoceros pictus) ist zwar etwas kleiner als der europäische Steinbock, aber doch merklich größer als unsere Hausziege. Die Länge des ausgewachsenen Bockes beträgt etwa 1,5 Meter, die Länge des Schwanzes 20 Centim., die Höhe am Widerrist 95 Centim. und die am Kreuze 2 Centim. mehr. Die Ziege ist merklich kleiner. Der Leib ist ziemlich gestreckt, der Rücken schneidig, der Hals von mäßiger Länge, der Kopf kurz, die Schnauze stumpf, die Stirn breit, längs des Nasenrückens fast gerade, das Auge verhältnismäßig, das Ohr ziemlich groß; die Beine sind verhältnismäßig hoch und stark, die Hufe stumpf zugespitzt; der Schwanz ist sehr kurz und gleichmäßig mit langen zottigen Haaren besetzt. Die sehr großen und starken, von beiden Seiten zusammengedrückten und hinten und vorn scharfkantigen, auf der äußeren Seite aber gerundeten oder gewölbten Hörner, welche schon bei mittelgroßen Thieren über 40 Centim., bei alten oft mehr als das Doppelte messen, bilden, von der Wurzel angefangen, einen starken, einfachen und gleichförmig nach rückwärts gekrümmten Bogen, welcher bei alten Männchen ungefähr einen Halbkreis beschreibt, stehen an der Wurzel eng zusammen, beugen sich sodann bis über ihre Mitte hin allmählich nach abwärts, wenden sich aber mit der Spitze wieder stark nach vor- und einwärts, so daß sie an ihrem äußersten Ende um 12 bis 15 Centim. näher zusammenstehen als in der Mitte, wo die Entfernung zwischen beiden 30 bis 40 Centim. beträgt. Das rechte Horn ist schwach mit der Spitze nach rechts, das linke nach links gewunden. Die Knoten oder Querwülste des Gehörns, zwischen denen zahlreiche Querwurzeln liegen, steigen bei alten Thieren bis auf zehn und zwölf an. Beide Geschlechter tragen einen starken Bart; die übrige Behaarung besteht aus ziemlich langen, straffen, glatt anliegenden Grannen und kurzen, mittelmäßig feinen Wollhaaren. Die Färbung ist ein helles Röthlichgrau oder Rostbräunlichgelb, welches an den Halsseiten und gegen den Bauch hin wegen dem hier reichlicher auftretenden weißspitzigen Haare lichter wird; Brust und Unterhals sind dunkelschwarzbraun, Bauch, Innen- und Hinterseite der Schenkel weiß. Ein scharf abgegrenzter, von vorn nach hinten sich verschmälernder, dunkelschwarzbrauner Längsstreifen verläuft über die Mittellinie des Rückens bis zu dem einfarbigen schwarzen Schwanze. Hinter den Vorderbeinen beginnt ein gleichfarbiger Streifen, welcher die Ober-und Unterseite scharf von einander scheidet. Die Vorderläufe sind vorn und seitlich dunkelschwarzbraun, über der Handwurzel, wie die hinteren, weiß gestreift. Der Kopf ist an den Seiten röthlichgrau, auf der Stirn braunschwarz, vor dem Auge und an der Wurzel des Nasenrückens wie Kinn- und Kehlbart dunkelschwarzbraun, an den Lippen weiß.

Das Verbreitungsgebiet der Bezoarziege erstreckt sich über einen ausgedehnten Landstrich West- und Mittelasiens. Sie findet sich auf der Südseite des Kaukasus, im Taurus und den meisten übrigen Gebirgen Kleinasiens und Persiens, bis weit nach Süden hin, kommt aber auch [314] auf mehreren Inseln des Mittelländischen, insbesondere des Griechischen Meeres und vielleicht sogar auf den höheren Gebirgen der Griechischen Halbinsel vor. Wie die neuesten Untersuchungen fast außer Zweifel stellen, ist sie nämlich dasselbe Thier, dessen Homer bei Schilderung der Kyklopeninsel gedenkt:


»Der Ziegen unendliche Menge durchstreift sie,

Wilden Geschlechts, weil nimmer ein Pfad der Menschen sie scheuchet«.


Schon seit Belons Zeiten, seit Mitte des sechzehnten Jahrhunderts also, wußten wir, daß auf Kreta eine Wildziege lebe, und später wurde in Erfahrung gebracht, daß dasselbe Thier oder ein ihm sehr ähnliches auch auf den Kykladen vorkommt.


Bezoarziege (Capra Aegagrus). 1/18 natürl. Größe.
Bezoarziege (Capra Aegagrus). 1/18 natürl. Größe.

Im Jahr 1844 berichtet Graf von der Mühle folgendes: »Auf der Insel Joura bei Skopelos, nördlich von Euböa, welche, einen alten Einsiedler ausgenommen, ganz unbewohnt ist, wimmelt es von einer Ziegenart, – von welcher, konnte ich nicht erfahren, selbst trotz aller Anstrengungen und Versprechungen nicht einmal ein Gehörn erhalten. Sie sind so schlimm, daß sie den Jäger anfallen, und, wenn er nicht vorsichtig ist, ihn über die Felsen hinabstürzen. Im Jahre 1839 wurde eine Abtheilung griechischer Soldaten durch widrigen Wind auf diese Insel verschlagen, welche in kurzer Zeit zwanzig Stück theilweise mit den [315] Bajonetten erlegten. Dieselbe Ziege kommt auch auf dem Veluchi- und Oetagebirge vor«. Zehn und beziehentlich zwölf Jahre später theilt nun Erhard mit, daß auch er von dem Vorkommen wilder Ziegen auf Kreta, mehreren Kykladen und Strophaden Kunde gewonnen habe und im Mai des Jahres 1854 in den Besitz einer auf Eremomelos oder Antimelos, einem kleinen, aber sehr hohen und fast unwegsamen Felseneilande, erlegten Wildziege gekommen sei. Der von ihm untersuchte Balg eines erwachsenen männlichen Thieres im Sommerkleide schien ihm mit der Beschreibung des Bezoarbockes nicht übereinzustimmen, und er sah sich deshalb veranlaßt, das fragliche Thier unter den Namen Aegoceros pictus als neue Ziegenart zu beschreiben. In seiner Ansicht wurde er bestärkt, nachdem er im Frühlinge des Jahres 1856 einen von der Insel Joura stammenden, etwa drei Monate alten Bock mit dem seinigen verglichen hatte und in letzterem wie auch in dem ihm später von Kreta zugegangenen Stücke die Bezoarziege erkannte. Nachdem nun aber in den letzten Jahren durch die Bemühungen des englischen Konsuls Sandwith auf Kandia ein lebender Bock der hier vorkommenden Wildziege nach London gelangt war, stellte man die Arteinheit aller Wildziegen der Griechischen Meere und der Bezoarziege fest, und somit zählen wir nunmehr die letztere auch zu den europäischen Thieren. Die auf den Gebirgen des Festlandes vorkommende sogenannte Wildziege soll, nach Erhard, mit unserer Art nichts zu thun haben, und nichts anderes als die Gemse sein. Dagegen ist mir noch in der neuesten Zeit von beachtenswerther Seite versichert worden, daß englische Jäger von Korfu aus die Albanischen Hochgebirge besuchen, um dort auf Wildziegen zu birschen; es erscheint demnach nicht unwahrscheinlich, daß der Paseng auch in diesem, bis jetzt noch so überaus wenig bekannten Theile Europas vorkommt.

Ueber das Freileben der Bezoarziege auf den vorher genannten Inseln gibt Erhard eine, später durch Sandwith vollkommen bestätigte Mittheilung. Auf Kreta findet man unsere Ziege noch auf den meisten Gebirgen, namentlich aber um und auf dem Ida, welcher sich zu 2500 Meter Höhe erhebt, in bedeutender Anzahl. Gewöhnlich sieht man Herden von vierzig bis funfzig Stück beisammen, welche sich je doch mit Beginn der Paarungszeit, in der Mitte des Herbstes, in kleinere Rudel von sechs bis acht Stück auflösen. Die Ziege wirft meist noch vor Beginn des Frühlings zwei, seltener drei Junge, welche vom Tage ihrer Geburt an der neu sich bildenden Herde zugesellt werden. Zuweilen begatten sich die Bezoarziegen auch mit ihren gezähmten Abkömmlingen oder Verwandten und erzeugen dann Blendlinge, welche, der Sitte des wilden Vaters getreu, fern von jeder menschlichen Wohnung auf den hohen Spitzen des Ida schwer zugängliche Standorte suchen. Ein solcher Blendlingsbock, größer als jeder andere seiner Verwandten, soll in den funfziger Jahren auf dem Ida sich umhergetrieben haben und wegen seines bis zum Weiß ergraueten Haares ein allen Hirten wohlbekanntes Thier gewesen sein. Saftige und dürre Kräuter fast ohne Wahl werden als Aesung gedachter Wildziegen angegeben; doch sollen sie den Kapernstrauch mit Vorliebe aufsuchen. Auf Eremomelos lebte unsere Ziege von jeher in viel kleineren Herden und in den oben erwähnten Jahren nur noch in einzelnen Stücken; ihre rasche Verminderung aber soll weniger der Jagd als dem Umstande zuzuschreiben sein, daß Schafe, welche vor Jahren zur Weide auf Antimelos getrieben worden, ihnen eine Seuche mitgetheilt haben, an welcher viele zu Grunde gingen. Da auf dem beschränkten Gebiete der kleinen Insel weder Baum nach Grashalm wächst, so kann die Aesung, laut Erhard, nur in Knospen der alle Inseln des Kykladenmeeres reichlich überziehenden Stachelkräuter, namentlich des Ginsters und Stachelginsters, Strauchbibernells, des Sumach, der Tamariske, des Thymians, Wundklees, Pfefferkrautes, der Flokenblume und anderer niederer Pflanzen bestehen.

Im westlichen Asien, wo die Bezoarziege in allen höheren Gebirgen lebt und meist sehr zahlreich auftritt, bewohnt sie, laut Kotschy, regelmäßig einen Höhengürtel von 1500 Meter an aufwärts, am liebsten diejenigen Stellen des Gebirges, wo um die kahlen Felsspitzen hohe, gelblichblühende Doldengewächse, ihre hauptsächlichste Aesung, in reichlicher Fülle wachsen. Nach Angabe türkischer Jäger, welche sie »Gejick«, die alten Böcke »Thöke« nennen, liebt sie wie der Steinbock die [316] Gipfel der Berge und gefällt sich in der Nähe des ewigen Schnees und der Gletscher. Insbesondere sind es die Böcke, welche im Sommer bis hierher emporsteigen, um, nach Art ihres Geschlechtes zeitweilig, zumeist auf nördlichen Lagen des Gebirges sich aufhaltend, einsiedlerisch zu leben, wogegen die Ziegen und die Zicklein wie die jüngeren Thiere beiderlei Geschlechtes das niedere Alpenland bevorzugen und namentlich die Cederbestände des Hochgebirges zu ihren Ständen erwählen. Nach Kotschy verbringen sie den Tag auf schattigen Felsenrücken in Verstecken und ziehen erst des Nachts auf Aesung, bei dieser Gelegenheit bis über die Baumgrenze hinauf zu dem höheren Alpengürtel aufklimmend. Anderen Angaben zufolge steigen sie frühzeitig am Morgen von dem Walde, in welchem sie die Nacht verbrachten zu den Höhen empor, weiden auf dem Gipfel und auf den höchst gelegenen Gehängen der Gebirge oft in unmittelbarer Nähe der Gletscher, und kehren des Abends nach den Wäldern zurück. Saftige Alpenpflanzen bieten ihnen im Sommer, dürres Gras, Cedernadeln, Blätter und Früchte verschiedener Eichenarten im Winter genügende Aesung, Baumschößlinge und Blattknospen in jeder Zeit erwünschte Zukost; salzhaltige Thonlager, von den türkisch redenden Hirten »Dusla« genannt, werden von ihnen so regelmäßig aufgesucht, daß man auf solchen Stellen mit ziemlicher Sicherheit eine Begegnung mit ihnen erwarten darf und dann wohl auch beobachten kann, wie sie, den Boden beleckend, dahinschreiten, als wären sie mit Grasen beschäftigt. Sobald der eintretende Winter die hohen Kuppen mit Schnee umhüllt, steigen die Böcke zu den Ziegen herab, um sich zu paaren und in ihrer Gesellschaft die ärmere Jahreszeit zu verleben. Mit Beginn des Frühjahres beziehen letztere zuerst die höheren bereits vom Schnee entblößten Lager des Gebirges, um hier ihre Jungen zur Welt zu bringen.

In ihrem Auftreten, Wesen und Gebaren erinnert die Bezoarziege lebhaft an den Steinbock. Rasch und sorglos läuft sie auf schwierigen Wegen dahin, steht oft stundenlang, schwindelfrei in die ungeheueren Abgründe schauend, auf vorspringenden Felszacken, klettert vortrefflich und wagt gefährliche Sätze mit ebensoviel Muth als Geschick. Sie ist außerordentlich scheu und weiß den meisten Gefahren zu entgehen. Ihre Sinne sind vortrefflich entwickelt: sie wittert auf ungeheuere Entfernungen hin und vernimmt auch das leiseste Geräusch. Auch ihre geistigen Fähigkeiten stehen ungefähr auf derselben Stufe wie die des Steinwildes.

Während der Brunst, welche in den November fällt, kämpfen die Böcke hartnäckig und gewaltig mit einander, wie die Scharten und halb abgestoßenen Splitter an der Vorderkante der Hörner zur Genüge beweisen. Der Satz erfolgt im April oder Mai, und zwar bringen jüngere Ziegen ein oder zwei, ältere regelmäßig zwei, nicht allzuselten aber auch drei Zicklein zur Welt. Diese folgen der Mutter sofort nach der Geburt, vom dritten Tage ihres Lebens an selbst auf den schwierigsten Pfaden, wachsen rasch heran und sind, wie alle Ziegen, jederzeit zu Scherz und Spiel geneigt.

Um solche Jungen zu fangen, begeben sich, laut Kotschy, drei bis vier gute Bergsteiger des Cilicischen Taurus, bevor noch die Gerstenernte in den Gebirgsdörfern beginnt, in die Alpen und spähen nach trächtigen Bezoarziegen aus, welche vor dem Wurfe einen schwer zugänglichen Lagerplatz zu erwählen und regelmäßig zu ihm zurückzukehren pflegen. Ist eine solche Ziege aufgefunden und der Zugang zu ihrem Lager als möglich erachtet worden, so bleiben die Bergsteiger in ihrem Verstecke, das Thier beobachtend, bis es geworfen. Am dritten Tage nach der Geburt versuchen sie das Zicklein zu fangen, indem sie die Ziege in die Flucht scheuchen. Nach gelungenem Fange eilt man mit der gewonnenen Beute sofort in das Dorf hinab, um das junge Wildzicklein einer Hausziege, welche kurz vorher zum erstenmal geworfen hat, in Pflege zu geben. Da die Wildziege nicht so milchreich ist wie die Hausziege, überbindet man deren Euter mit einem Lederbeutel, welcher den Zitzen der Bezoarziege täuschend nachgemacht wurde. Alten Ziegen legt man niemals Wildlinge an das Euter, weil sie dann nicht gedeihen. Obwohl die Milch der Bezoarziegen reicher und süßer ist als die der Hausziegen, gewöhnen sich die Wildzicklein doch nicht selten an die Pflegemutter und ihre Milch. Am leichtesten soll die Aufzucht einer zeitig im Jahre und nicht als Zwilling geworfenen Bezoarziege gelingen. Solche wächst, nach Versicherung der Eingeborenen,[317] schnell heran und erhält weit stärkere und längere Hörner als jedes Zwillingsthier, so daß ein alleinge borener Bezoarbock später, wenn er erwachsen ist, für die vorzüglichste Beute erklärt wird.

Unsere Thiergärten erhalten lebende Bezoarziegen noch immer recht selten, obgleich der Versand der von frühester Jugend an eingewöhnten Thiere dieser Art wenig Schwierigkeiten bereitet.

In Westasien treten den Bezoarziegen mehrere Raubthiere feindlich entgegen. Pardelluchs und Panther werden im Taurus, Tiger und Löwe in den persischen Gebirgen den alten, mehrere Adler und vielleicht auch der Bartgeier allüberall den jungen gefährlich. Gelegentlich der Besteigung des hohen Damavendkegels in Nordpersien wurde Kotschy Augenzeuge einer vom Tiger ausgehenden Verfolgung der Bezoarziegen, welche aus Furcht vor dem schlimmen Feinde die ihnen sonst eigene Scheu verloren und sich unter die weidenden Maulthiere unseres Berichterstatters mengten, um hier Schutz zu suchen. Erst als einer der Treiber erschreckt auf einen Tiger zeigte, welcher auf einer Anhöhe, den Ziegen gegenüber, in einer Entfernung von kaum fünfhundert Schritten sichtbar wurde, nunmehr aber, durch den Rauch des Feuers überrascht und gescheucht, murrend und ärgerlich mit dem Schweife wedelnd, von weiterer Verfolgung abstand, erklärte sich die bis dahin unbegreifliche Zutraulichkeit der Wildziegen, welche beim Erscheinen des Raubthieres sofort ihr Heil im Ersteigen der zerklüfteten Felsenwände jenes Bergkegels suchten.

Ein noch heute vielfach verbreiteter, obschon längst widerlegter Aberglaube ist Ursache, daß in vielen Ländern Asiens auch der Mensch den munteren Gebirgskindern eifrigst nachstellt. In dem Magen der erlegten Bezoarziegen vermeint man nämlich jene Kugeln, welche zu dem Namen unserer Thiere Veranlassung gegeben haben, häufiger als bei anderen Wiederkäuern zu finden, und führt deshalb überall da, wo man noch an die Wunderkräfte der Bezoarkugeln glaubt, einen wahren Vernichtungskrieg gegen ihre Erzeuger. Bereits seit uralten Zeiten maßen sich die Fürsten das Vorrecht an, den Bezoarhandel in ihre Hände zu nehmen. Schon der alte Bontius weiß, daß alle, diesen Wunderkugeln zugeschriebenen Kräfte durchaus keinen Arzneiwerth haben; Rumph erzählt, daß die Indianer den Europäer auslachen, welcher behauptet, Bezoarkugeln im Magen wilder Ziegen gefunden zu haben, weil sie ihrerseits wissen wollen, daß die gesuchte Arznei aus den Magen der Affen käme; auch ist es wohl bekannt, daß alle Bezoarkugeln überhaupt benutzt werden, nicht bloß die unserer Ziegen, sondern auch die, welche man bei anderen Wiederkäuern gefunden hat: gleichwohl wird das leidige Quacksalbermittel noch heutigen Tages in ganz Indien und Persien hoch bezahlt und fordert unternehmende Jäger immer zu neuen Vertilgungszügen gegen die Bezoarziegen auf.

Die Jagd ist nicht eben leicht, weil sie nur im hohen Gebirge stattfinden kann, und die Ziege die Verfolgung auch dort noch oft zu vereiteln weiß. Es gilt also, alle Listen und Kunstgriffe anzuwenden, welche bei der Steinbockjagd nothwendig sind. Kämpfer, welcher im Jahre 1686 einer Jagd auf Bezoarziegen beiwohnte, erzählt, daß man erst sechs Stunden auf den schlimmsten Wegen des Gebirges Benna in Persien klettern mußte, ehe man nur in das eigentliche Gebiet der Thiere gelangte. Dort aber gab es deren eine große Menge. Am ersten Tage bekam man nichts, am zweiten wurde ein Bock geschossen, dessen Magen eine Bezoarkugel enthielt. Nach viertägiger Jagd hatte man zwei der letzteren erbeutet, und hierin bestand der ganze Gewinn der Jagd.

Weder auf den Griechischen Inseln noch im Kaukasus oder Cilicischen Taurus scheint man etwas von dem Heilschwindel mittels der Bezoarkugeln zu wissen und stellt daher unseren Wildziegen einzig und allein des Wildprets, der Decke und des Gehörns halber nach. Auf Antimelos wie auf Kreta wird die Jagd bloß an einzelnen Stellen von wenigen mit dem Gebirge wohl vertrauten Hirten betrieben; denn noch heute gelten für die Berge Kretas des Dichters Worte:


»Nie auch wandern hinein nachspürende Jäger, die mühvoll

Durch das Gehölz arbeiten und luftige Gipfel umklettern«.


Dazu kommt die Vorsicht der Wildziegen, welche regelmäßig Wachen auszustellen pflegen, sowie die außerordentliche Lebenszähigkeit der Thiere, welche mit Schüssen durch Lungen und [318] Darm fast ebenso schnell wie unverwundete an den steilen Felswänden hinauflaufen und so dem Jäger meist verloren gehen. Im Nothfalle sollen alte Böcke verwegen genug sein, unvorsichtige Jäger über die furchtbaren Klippen hinabzustürzen. Auf Eremomelos betreibt man die Jagd meistens vom Bote aus, mit Hülfe weittragender Kugelbüchsen, da die hohen Klippen an den meisten Stellen nur mit Lebensgefahr oder gar nicht begangen werden können. Das Fleisch wird als äußerst wohlschmeckend gerühmt und feuert manchen Hirten zur Jagd an; aber selten nur »schenkt ein Gott muthstärkendes Wildpret«, und bloß in wenigen Hütten sieht man den Schmuck des Gehörnes erlegter Böcke als Zeugnisse glücklicher Jagden. Erhard befürchtet, daß die Bezoarziege auf Antimelos unter den vernichtenden Einflüssen des Menschen und der Zeit bald erliegen dürfte; Sandwith dagegen verspricht ihr auf Kreta noch ein längeres und wenig gestörtes Sein, da außer dem Steinadler und Bartgeier, denen doch immer nur jüngere zur Beute fallen, kein anderes Raubthier auf dem Eilande vorkommt. Im Taurus beginnen die Jagden, laut Kotschy, wenn die zahlreichen Herden bereits seit vier Wochen das Alpenland verlassen haben, die Vorräthe für den Winter im Haushalte geordnet und die letzten Feldarbeiten beendet sind. Vier oder fünf Jäger, geübte und ausdauernde Bergsteiger, versehen sich für fünf bis sechs Tage mit einem kuchenartig gebackenen, in Rollen gewickelten Brode, Käse, Zwiebeln, Kaffee und Tabak, welche Vorräthe sie in einem Sacke aus Wildziegenfell auf dem Rücken tragen, steigen zu dem Alpengürtel des Gebirges hinauf, erforschen die Wildfährten und legen sich dann auf den Anstand, in der Regel am Saume eines Gehölzes, in welchem die Bezoarziegen zu ruhen pflegen, weil diese an anderen Stellen des Gebirges nur ausnahmsweise bis auf Schußweite sich beschleichen lassen. Auf erfolgversprechenden Wechseln veranstaltet man auch wohl Treibjagden. Nicht selten durchstreift man das Gebirge mehrere Tage nach einander, ohne auch nur ein Stück des geschätzten Wildes zu sehen, wogegen man zu anderer Zeit mehrmals an einem Tage Trupps von vier bis zwölf Böcken oder Ziegen zu Gesicht bekommt. Ein gewöhnlicher Schütze ist zufrieden, wenn er im Laufe des Winters vier bis fünf Bezoarziegen erbeutet; Kotschy lernte jedoch auch einen Jäger kennen, welcher innerhalb funfzehn Jahren gegen anderthalbhundert, damit aber doch noch nicht einmal die Hälfte der von seinem verstorbenen Vater getödteten Stücke dieses Wildes erlegt hatte.

Der durch die Jagd erzielte Nutzen ist selbst im Taurus nicht unbedeutend. Das ausgezeichnet schmackhafte Wildpret, welches an das unseres Rehes erinnert und ebenso zart und mürbe wie letzteres ist, wird entweder frisch genossen oder in lange, schmale Streifen geschnitten und an der Luft getrocknet, um es später verwenden zu können, die im Winter erbeutete, langhaarige Decke von den Muselmännern als Gebetteppich benutzt und, weil man ihren scharfen Geruch angenehm findet, hoch geschätzt, die kurzhaarige Sommerdecke zu Schläuchen, das Gehörn zu Säbelgriffen, Pulverhörnern und anderen Kleinigkeiten verarbeitet, so daß sich ein erlegter Bezoarbock immerhin mit dreißig bis vierzig Mark unseres Geldes verwerthet.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 314-319.
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