22. Sippe: Ziegen (Capra)

[291] Der stämmige und kräftige Leib der Ziegen (Capra), denen wir unbedenklich die höhere Stellung innerhalb ihrer Unterfamilie einräumen, ruht auf starken, nicht sehr hohen Beinen; der Hals ist gedrungen, der Kopf verhältnismäßig kurz und breit an der Stirn; der Schwanz, welcher [291] aufrecht getragen zu werden pflegt, wie oben beschrieben, dreieckig und unten nackt. Die Augen sind groß und lebhaft, Thränengruben nicht vorhanden, die Ohren aufgerichtet, schmal zugespitzt und sehr beweglich. Die abgerundet vierseitigen oder zweischneidigen, deutlich nach den Jahreszuwüchsen gegliederten, vorn wulstig verdickten Hörner, welche beiden Geschlechtern zukommen, wenden sich entweder in einfach halbmondförmiger Richtung nach hinten oder biegen sich dann noch leierartig an der Spitze aus. Bei den Böcken sind sie regelmäßig viel schwerer als bei den Ziegen.


Geripp des Alpensteinbockes. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)
Geripp des Alpensteinbockes. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)

Das Haarkleid ist ein doppeltes, da die feinere Wolle von groben Grannen überdeckt wird. Bei manchen Arten liegen die Grannen ziemlich dicht an, bei anderen verlängern sie sich mähnenartig an gewissen Stellen, bei den meisten auch am Kinne zu einem steifen Barte. Immer ist die Färbung des Pelzes düster, erd-oder felsenfarbig, vorzugsweise braun oder grau. Erwähnenswerth, weil zur Kennzeichnung der Thiere gehörend, ist schließlich noch der durchdringende Geruch, bezeichnend Bockgestank genannt, womit alle Ziegen jederzeit, während der Brunstzeit aber in besonderer Stärke, unsere Nasen beleidigen.

Ursprünglich bewohnten die Ziegen Mittel- und Südasien, Europa, Nordafrika; heutzutage haben wir die gezähmten über die ganze Erde verbreitet. Sie sind durchgehends Bewohner der Gebirge, zumal der Hochgebirge, wo sie einsame, menschenleere Stellen aufsuchen. Die meisten Arten gehen bis über die Grenze des ewigen Schnees hinauf. Sonnige Stellen mit trockener Weide, dünn bestandene Wälder, Halden und Geröllabstürze, sowie auch kahle Klippen und Felsen, welche starr aus dem ewigen Schnee und Eise emporragen, sind ihre Standorte. Alle Arten lieben die Geselligkeit. Sie sind bewegliche, lebendige, unruhige, kluge und neckische Thiere. Ohne Unterlaß laufen und springen sie umher; nur während des Wiederkäuens liegen sie ruhig an einer und [292] derselben Stelle. Bloß alte, von dem Rudel abgeschiedene Männchen leben einsiedlerisch; die übrigen Stücke halten stets mit anderen ihrer Art treu zusammen. Obwohl thätig bei Tage und Nacht, geben sie doch dem Tage den Vorzug. Ihre Eigenschaften offenbaren sich bei jeder Gelegenheit. Sie sind überaus geschickt im Klettern und Springen und bekunden dabei einen Muth, eine Berechnung und eine Entschiedenheit, welche ihnen große Ehre machen. Sicheren Tritts überschreiten sie die gefährlichsten Stellen im Gebirge, schwindelfrei stehen sie auf den schmalsten Kanten, gleichgültig schauen sie in die furchtbarsten Abgründe hinab, unbesorgt, ja förmlich tollkühn, äsen sie sich an fast senkrecht abfallenden Wänden. Sie besitzen eine verhältnismäßig ungeheuere Kraft und eine wunderbare Ausdauer und sind somit ganz geeignet, ein armes Gebiet zu bewohnen, in welchem jedes Blättchen, jedes Hälmchen unter Kämpfen und Ringen erworben werden muß. Neckisch und spiellustig unter sich, zeigen sie sich vorsichtig und scheu anderen Geschöpfen gegenüber und fliehen gewöhnlich bei dem geringsten Lärm, obwohl man nicht eben behaupten darf, daß es die Furcht ist, welche sie in die Flucht schreckt; denn im Nothfalle kämpfen sie muthig und tapfer und mit einer gewissen Rauflust, welche ihnen sehr gut ansteht.

Saftige Gebirgspflanzen aller Art bilden die Nahrung der Ziegen. Lecker in hohem Grade, suchen sie sich stets die besten Bissen heraus, verstehen es auch vortrefflich, Orte auszuwählen, welche ihnen gute Weide bieten, und wandern deshalb oft von einer Gegend in die andere. Alle Arten sind Freunde vom Salz und besuchen daher Stellen, wo diese Leckerei sich findet, sehr regelmäßig. Wasser ist für sie Bedürfnis, daher meiden sie Gegenden, in denen es weder Quellen noch Bäche gibt.

Die höheren Sinne scheinen ziemlich gleich entwickelt zu sein. Sie äugen, vernehmen und wittern sehr scharf, manche Arten wirklich auf unglaubliche Entfernungen hin. Ihre geistigen Fähigkeiten stehen, wie schon angedeutet, auf ziemlich hoher Stufe; man muß sie als kluge, geweckte Thiere bezeichnen. Das Gedächtnis ist zwar nicht besonders gut; aber Erfahrung witzigt sie doch bald in hohem Grade, so daß sie mit vieler Schlauheit und List drohenden Gefahren zu begegnen wissen. Manche Arten muß man launenhaft nennen, andere sind förmlich boshaft und tückisch.

Die Anzahl ihrer Jungen schwankt zwischen Eins und Vier. Alle wildlebenden Arten gebären höchstens deren zwei, die gezähmten nur in sehr seltenen Fällen vier. Die Zicklein kommen ausgebildet und mit offenen Augen zur Welt und sind schon nach wenigen Minuten im Stande, der Alten zu folgen. Wildlebende Arten laufen am ersten Tage ihres Lebens ebenso kühn und sicher auf den Gebirgen umher wie ihre Eltern.

Man darf wohl sagen, daß alle Ziegen vorwiegend nützliche Thiere sind. Der Schaden, welchen sie anrichten, ist so gering, daß er kaum in Betracht kommt, der Nutzen dagegen sehr bedeutend, namentlich in solchen Gegenden, wo man die Thiere gebraucht, um Oertlichkeiten auszunutzen, deren Schätze sonst ganz verloren gehen würden. Die öden Gebirge des Südens unseres Erdtheils sind förmlich bedeckt mit Ziegenherden, welche auch an solchen Wänden das Gras abweiden, wo keines Menschen Fuß Halt gewinnen könnte. Von den wilden Arten kann man fast alles benutzen, Fleisch und Fell, Horn und Haar, und die zahmen Ziegen sind nicht bloß der Armen liebster Freund, sondern im Süden auch die beinahe ausschließlichen Milcherzeuger.

Die Unterscheidung der Wildziegen ist außerordentlich schwer, weil die Arten sich sehr ähneln und der Beobachtung ihres Lebens viele Hindernisse entgegentreten. So viel scheint festzustehen, daß der Verbreitungskreis der einzelnen ein verhältnismäßig beschränkter ist, und daß somit fast jedes größere Gebirge, welches Mitglieder unserer Familie beherbergt, auch seine eigenen Arten besitzt. Diese Arten lassen sich in vier verschiedene Unterabtheilungen ordnen, welche wir Steinböcke, Ziegen, Halbziegen und Schneeziegen nennen; es ist denselben jedoch kaum die Bedeutung von Sippen zuzusprechen. Noch können wir nicht sagen, inwieweit sich das Leben der verschiedenen Arten unterscheidet; denn bis jetzt sind wir bloß im Stande, das Treiben von [293] einzelnen in allgemeinen Umrissen zu zeichnen: schwebt doch selbst über der Herkunft unserer Hausziege ein bis jetzt noch keinesweges aufgehelltes Dunkel!

Die Steinböcke, nach Auffassung einzelner Forscher eine besondere Untersippe (Capra) bildend, bewohnen die Gebirge der Alten Welt und auf ihnen Höhen, woselbst andere große Säugethiere verkümmern würden. Nur wenige Wiederkäuer folgen ihnen in die Hochgefilde, auf denen sie jahraus jahrein sich umhertreiben, höchstens während des eisigen Winters in etwas tiefer gelegene Gelände herabsteigend. Mit dieser Lebensweise geht Hand in Hand, daß jede Steinbockart nur eine geringe Verbreitung hat. Einzelne Naturforscher wollen zwar die verschiedenen Steinbockarten bloß als Abänderungen einer und derselben Hauptart gelten lassen und nehmen nicht nur für Europa, sondern überhaupt bloß eine einzige Art an, bleiben uns aber die Erklärung schuldig, wie diese Stammart sich allgemach so verbreitet hat, daß sie gegenwärtig nicht bloß auf den Alpen, den Pyrenäen und dem Gebirgsstocke der Sierra Nevada, sondern auch auf dem Kaukasus, den Hochgebirgen Asiens, den Alpengebirgen des Steinigten Arabien und Abessinien zu finden ist. Wenn auch zugegeben werden mag, daß die Steinböcke erst durch die Verfolgungen der Menschen hier und da, z.B. auf unseren Alpen, in die Höhen getrieben worden sind, in denen sie sich jetzt ständig aufhalten, steht doch so viel fest, daß sie nicht fähig sind, die Ebenen zu durchwandeln, welche zwischen den erwähnten Gebirgen liegen, daß wir somit schon aus diesem Grunde die verschiedenen Formen als Arten ansehen müssen. Wenn wir dies thun, haben wir in den Steinböcken ein reiches Geschlecht vor uns. Europa allein zählt zwei, vielleicht drei verschiedene Steinbockarten. Eine derselben (Capra Ibex) bewohnt die Alpen, eine (Capra pyrenaica) die Pyrenäen und andere spanische Gebirge, eine dritte (Capra caucasica) den Kaukasus. Außerdem findet sich ein Steinbock (Capra sibirica) in Sibirien, einer (Capra Beden) im Steinigten Arabien, ein dritter (Capra Walie) in Abessinien, ein vierter (Capra Skyn) auf dem Himalaya. Alle diese Thiere sind einander sehr ähnlich in Gestalt und Färbung und unterscheiden sich hauptsächlich durch das Gehörn und den Bart am Kinne. Zur Zeit besitzen wir noch keineswegs Stoff genug, um über die Frage, ob hier überall Artverschiedenheiten zu Grunde liegen oder nicht, mit der nothwendigen Sicherheit entscheiden zu können. Unsere Museen sind bis jetzt noch durchaus nicht solche Vorrathskammern zu den Arbeiten eines Naturforschers gewesen, wie er sie braucht; denn die besten Museen zeigen höchstens ein oder zwei Stücke von Steinböcken, und von einer Sammlung der Thiere, in welcher alle Altersverschie denheiten und mancherlei Abweichungen, wie sie ja immer vorkommen, vertreten wären, ist noch keine Rede. Uebergänge von einer zur anderen Form sind jedoch noch nicht nachgewiesen, und somit müssen wir die erwähnten einstweilen wohl als verschiedene Arten betrachten.

Unter allen Steinböcken geht uns selbstverständlich diejenige Art am nächsten an, welche unsere Alpen bewohnt. Mit Unrecht übersetzt man den lateinischen Namen Capra Ibex noch immer mit »europäischer Steinbock«; denn von allen anderen Arten unseres Erdtheiles leben sicherlich gegenwärtig ihrer noch viel mehr als von dem Steinbocke der Alpen, welcher leider seinem gänzlichen Untergange entgegengeht.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 291-294.
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