23. Sippe: Schafe (Ovis)

[337] In leiblicher Hinsicht stehen die Schafe (Ovis) den Ziegen außerordentlich nah, in geistiger Hinsicht haben nur die wild lebenden Arten beider Gruppen Aehnlichkeit mit einander. Die Schafe unterscheiden sich von den Ziegen durch die regelmäßig vorhandenen Thränengruben, die flache Stirn, die kantigen, etwa dreiseitigen, querrunzeligen, schneckenförmig gedrehten Hörner und den Mangel eines Bartes. Im allgemeinen sind sie schlankgebaute Thiere mit schmächtigem Leibe, dünnen, hohen Beinen und kurzem Schwanze, vorn stark verschmälertem Kopfe, mäßig großen Augen und Ohren und doppelter, zottiger oder wolliger Behaarung. Im Geripp macht sich zwischen ihnen einerseits und den Ziegen, Antilopen und Hirschen anderseits ein erheblicher Unterschied nicht bemerklich. Dreizehn Wirbel tragen Rippen, sechs sind rippenlos, drei bis zweiundzwanzig bilden den Schwanz. Der innere Leibesbau bietet keine besonderen Eigenthümlichkeiten. [337] Alle wildlebenden Schafe bewohnen Gebirge der nördlichen Erdhälfte. Ihre eigentliche Heimat ist Asien; ihr Verbreitungsgebiet erstreckt sich jedoch bis Südeuropa, Afrika und den nördlichen Theil von Amerika. Jede Gebirgsgruppe Asiens besitzt eine oder mehrere ihr eigenthümliche Arten, wogegen Europa, Afrika und Amerika sehr arm erscheinen und, so viel bis jetzt bekannt, je nur eine einzige Art aufzuweisen haben. Mehrere Arten stehen einander sehr nahe und sind hauptsächlich auf die Verschiedenheit ihrer Hörner begründet worden, deren beziehentliche Größe und Windung als maßgebend betrachtet wird.


Geripp des Mufflon. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)
Geripp des Mufflon. (Aus dem Berliner anatomischen Museum.)

Bei den einen ist das rechte Horn von der Wurzel bis zur Spitze links und das linke rechts gewunden: dann treten die Hornspitzen nach außen hin auseinander; bei den anderen ist das rechte Horn rechts und das linke links gewunden: dann wenden sich die Hornspitzen nach hinten, und das Gehörn erinnert somit an das der Ziegen. Ob und in wie weit man berechtigt ist, nach diesen und anderen Verschiedenheiten der Gehörne alle von den Forschern bisher aufgestellten Arten anzuerkennen und festzuhalten, läßt sich gegenwärtig nicht ermitteln: wir kennen die Wildschafe noch viel zu wenig, als daß wir im Stande wären, ein bestimmtes Urtheil über sie zu fällen. Doch hat sich herausgestellt, daß ungeachtet einer nicht unerheblichen Veränderlichkeit des Gehörns einer und derselben Art das Gepräge der Hornbildung unzweifelhaft als eins der Hauptmerkmale zur Bestimmung der Arten angesehen werden darf.

Sämmtliche Schafe sind echte Gebirgskinder, scheinen sich nur in bedeutenden Höhen wohl zu fühlen und steigen meist bis über die Schneegrenze, einzelne bis zu sechs- und siebentausend [338] Meter unbedingter Höhe empor, wo außer ihnen nur noch Ziegen, ein Rind, das Moschusthier, und einige Vögel leben können. In ebenen Gegenden hausen bloß zahme Schafe, und man sieht es denen, welche in Gebirgsländern gezüchtet werden, deutlich genug an, wie wohl es ihnen thut, eine ihnen zusagende Oertlichkeit bewohnen zu dürfen. Grasreiche Triften oder lichte Wälder, schroffe Felsen und wüste Halden, zwischen denen nur hier und da ein Pflänzchen sprießt, bilden die Aufenthaltsorte der Wildschafe. Je nach der Jahreszeit wandern sie von der Höhe zur Tiefe oder umgekehrt: der Sommer lockt sie nach oben, der eisige Winter treibt sie in wohnlichere Gelände, weil er ihnen in der Höhe den Tisch verdeckt. Die Nahrung besteht im Sommer aus frischen und saftigen Alpenkräutern, im Winter aus Moosen, Flechten und dürren Gräsern. Die Schafe sind lecker, wenn sie reiche Auswahl haben, und genügsam im hohen Grade, wenn sich ihnen nur weniges bietet: dürre Gräser, Schößlinge, Baumrinden und dergleichen bilden im Winter oft ihre einzige Aesung, ohne daß man ihnen deshalb Mangel anmerkt.

Mehr als bei anderen Hausthieren, vielleicht mit alleiniger Ausnahme des Renthieres, sieht man an den Schafen, wie die Sklaverei entartet. Das zahme Schaf ist nur noch ein Schatten von dem wilden. Die Ziege bewahrt sich bis zu einem gewissen Grade auch in der Gefangenschaft ihre Selbständigkeit: das Schaf wird im Dienste des Menschen ein willenloser Knecht. Alle Lebhaftigkeit und Schnelligkeit, das gewandte, behende Wesen, die Kletterkünste, das kluge Erkennen und Meiden oder Abwehren der Gefahr, der Muth und die Kampflust, welche die wilden Schafe zeigen, gehen bei den zahmen unter; sie sind eigentlich das gerade Gegentheil von ihren freilebenden Brüdern. Diese erinnern noch vielfach an die munteren, klugen, geweckten und übermüthigen Ziegen: denn sie stehen ihnen in den meisten Eigenschaften und Fertigkeiten gleich und haben denselben regen Geist, dasselbe lebhafte Wesen; die zahmen sind unausstehliche Geschöpfe und können wahrhaftig nur den Landwirt begeistern, welcher aus dem werthvollen Vliese guten Gewinn zieht. Charakterlosigkeit ohne Gleichen spricht sich in ihrem Wesen und Gebaren aus. Der stärkste Widder weicht feig dem kleinsten Hunde; ein unbedeutendes Thier kann eine ganze Herde erschrecken; blindlings folgt die Masse einem Führer, gleichviel ob derselbe ein erwählter ist oder bloß zufällig das Amt eines solchen bekleidet, stürzt sich ihm nach in augenscheinliche Gefahr, springt hinter ihm in die tobenden Fluten, obgleich es ersichtlich ist, daß alle, welche den Satz wagten, zu Grunde gehen müssen. Kein Thier läßt sich leichter hüten, leichter bemeistern als das zahme Schaf; es scheint sich zu freuen, wenn ein anderes Geschöpf ihm die Last abnimmt, für das eigene Beste sorgen zu müssen. Daß solche Geschöpfe gutmüthig, sanft, friedlich, harmlos sind, darf uns nicht wundern; in der Dummheit begründet sich ihr geistiges Wesen, und gerade deshalb ist das Lamm nicht eben ein glücklich gewähltes Sinnbild für tugendreiche Menschen. In den südlichen Ländern, wo die Schafe mehr sich überlassen sind als bei uns, bilden sich ihre geistigen Fähigkeiten anders aus, und sie erscheinen selbständiger, kühner und muthiger als hier zu Lande.

Die Vermehrung der Schafe ist ziemlich bedeutend. Das Weibchen bringt nach einer Tragzeit von zwan zig bis fünfundzwanzig Wochen ein oder zwei, seltener drei oder vier Junge zur Welt, welche bald nach ihrer Geburt im Stande sind, den Alten nachzufolgen. Die wilden Mütter vertheidigen ihre Jungen mit Gefahr ihres Lebens und zeigen eine außerordentliche Liebe zu ihnen: die zahmen sind stumpf gegen die eigenen Kinder, wie gegen alles übrige und glotzen den Menschen, welcher ihnen die Lämmer wegnimmt, unendlich dumm und gleichgültig an, ohne sich zu wehren. Nach verhälntismäßig kurzer Zeit werden die Jungen selbständig und bereits vor ihrem erfüllten ersten Lebensjahre selbst wieder fortpflanzungsfähig.

Fast alle wilden Arten lassen sich ohne erhebliche Mühe zähmen und behalten ihre Munterkeit wenigstens durch einige Geschlechter bei, pflanzen sich auch regelmäßig in der Gefangenschaft fort. An Leute, welche viel mit ihnen sich abgeben, schließen sie sich innig an, folgen ihrem Rufe, nehmen gern Liebkosungen entgegen und können einen so hohen Grad von Zähmung erlangen, daß sie mit anderen Hausthieren auf die Weide gesandt werden dürfen, ohne günstige Gelegenheiten zur [339] Wiedererlangung ihrer Freiheit zu benutzen. Die zahmen Schafe hat der Mensch, welcher sie seit Jahrtausenden pflegte, ihres hohen Nutzens wegen über die ganze Erde verbreitet und mit Erfolg auch in solchen Ländern eingeführt, welche ihnen ursprünglich fremd waren.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 337-340.
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