Angoraziege (Capra hircus angorensis)

[324] Als die edelste unter allen dürfen wir wahrscheinlich die Angoraziege (Capra hircus angorensis) hinstellen, nach Ansicht einzelner Forscher einen Abkömmling der Schraubenziege darstellend, ein schönes, großes Thier von gedrungenem Leibesbau, mit starken Beinen, kurzem Halse und Kopfe, sehr eigenthümlich gewundenem Gehörn und auffallendem Haar. Beide Geschlechter tragen Hörner. Diese sind bei dem Bocke stark zusammengedrückt, nicht gedreht, scharf gekantet und hinten stumpf zugespitzt, stehen gewöhnlich wagerecht von dem Kopfe ab, bilden eine weite, doppelte Schraubenwindung und richten sich mit der Spitze nach aufwärts, erscheinen also dreifach gebogen.


Angoraziege (Capra hircus angorensis). 1/12 natürl. Größe.
Angoraziege (Capra hircus angorensis). 1/12 natürl. Größe.

Die Ziege trägt kleinere, schwächere, runde, einfach gebogene Hörner, welche in der Regel, ohne sich über den Kopf oder Hals zu erheben, um das Ohr sich herumdrehen, [324] d.h. einfach stark nach abwärts und dann nach vorn und abwärts wenden, wobei die bis zum Auge reichende Spitze nach außen gerichtet ist. Nur das Gesicht, die Ohren und der unterste Theil der Läufe sind mit kurzen, glatt anliegenden Haaren bedeckt; das übrige Vlies ist überaus reichlich, dicht und lang, fein, weich, glänzend, seidenartig, lockig gekräuselt, und besteht vorwiegend aus Wollhaaren, welche die spärlich vorhandenen Grannen fast überwuchern. Beide Geschlechter tragen einen ziemlich langen, aus straffen oder steifen Haaren gebildeten Bart. Ein blendendes, gleichmäßiges Weiß ist die vorherrschende Färbung dieser Ziegenrasse; seltener kommen solche vor, welche auf lichtem Grunde dunkle Flecken zeigen. Im Sommer fällt das Vlies in großen Flocken aus, wächst aber sehr rasch wieder nach. Französische Züchter haben gefunden, daß ein Vlies zwischen 1250 und 2500 Gramm wiegt.

Die Angoraziege scheint den Alten gänzlich unbekannt gewesen zu sein. Belon ist der erste, welcher einer Wollziege Erwähnung thut, deren Vlies fein wie Seide und weiß wie der Schnee sei und zur Verfertigung des Kamelot oder Kämmelgarns verwandt werde. Ihren Namen trägt die Ziege nach der kleinen Stadt Angora im türkischen Paschalik Anadoli in Kleinasien, der schon bei den Alten hochberühmten Handelsstadt Ankyra. Von hier aus hat man sie weiter verbreitet, neuerdings mit Glück auch in Europa ein geführt. Ihre Heimatsgegend ist trocken und heiß im Sommer, jedoch sehr kalt im Winter, obwohl dieser nur drei oder vier Monate dauert. Erst wenn es keine Nahrung auf den Bergen mehr gibt, bringt man die Ziegen in schlechte Ställe, wogegen sie das ganze übrige Jahr auf der Weide verweilen müssen. Sie sind höchst empfindlich, obwohl die schlechte Behandlung nicht dazu beiträgt, sie zu verweichlichen. Reine, trockene Luft ist zu ihrem Wohlsein eine unumgänglich nothwendige Bedingung. Während der heißen Jahreszeit wäscht und kämmt man das Vlies allmonatlich mehrere Male, um seine Schönheit zu erhalten oder doch zu steigern.

Die Anzahl der Ziegen, welche man überhaupt in Anadoli hält, wird auf eine halbe Million angeschlagen. Auf einen Bock kommen etwa hundert Ziegen und darüber. Im April ist die Schur, und unmittelbar darauf wird die Wolle eingepackt. Angora allein liefert fast eine Million Kilogramm, welche einem Werthe von 3,600,000 Mark entsprechen. Zehntausend Kilogramm werden im Lande selbst zur Fertigung starker Stoffe für die Männer und feinerer für die Frauen, sowie auch zu Strümpfen und Handschuhen verarbeitet, alles übrige geht nach England. In Angora selbst ist fast jeder Bürger Wollhändler.

Man hat beobachtet, daß die Feinheit der Wolle mit dem Alter ihrer Erzeuger abnimmt. Bei einjährigen Thieren ist das Vlies wunderbar schön; schon im zweiten Jahre verliert es etwas; vom vierten Jahre an wird es rasch schlechter und schlechter; sechsjährige Thiere muß man schlachten, weil sie zur Wollerzeugung gar nicht mehr geeignet sind.

Schon seit der ersten Kunde, welche man über die Angoraziege erhielt, hat man Versuche gemacht, sie bei uns einzuführen. Die spanische Regierung brachte im Jahre 1765 einen starken Trupp Angoraziegen nach der Iberischen Halbinsel; was aus ihnen geworden ist, weiß man aber nicht. Im Jahre 1787 führte man einige hunderte in den französischen Niederalpen ein, woselbst sie so ausgezeichnet gediehen, daß man einen hübschen Gewinn erlangte. Später brachte man sie auch nach Toscana und selbst nach Schweden. Im Jahre 1830 kaufte Ferdinand VII. hundert Angoraziegen und setzte sie zuerst im Parke des Schlosses El Retiro bei Madrid aus. Hier vermehrten sie sich so rasch, daß man sie auf Berge des Escorial übersiedeln mußte. In dieser ihnen sehr günstigen Gegend machte man die Beobachtung, daß ihre Wolle sich ebenso fein erhielt wie in ihrem eigentlichen Vaterlande. Später wurden sie nach Südcarolina gebracht, und auch dort befanden sie sich wohl. Endlich führte die kaiserlich französische Gesellschaft für Einbürgerung fremder Thiere im Jahre 1854 die Angoraziege von neuem in Frankreich ein, und man hat bis jetzt keine Ursache gehabt, über das Mißgedeihen derselben zu klagen; es wird sogar behauptet, daß die Wolle der in Frankreich geborenen Thiere feiner wäre als die ihrer Eltern.

[325] Nur die Bockzeit hat das französische Klima verändert. Bei der Einführung brunsteten die Angoraziegen im Oktober, später aber immer im September. Sie fürchten ebensowenig Hitze als große Kälte, sind auch nur unmittelbar nach der Schur so empfindlich, daß Erkältung sie tödten kann; Feuchtigkeit aber wird ihnen verderblich. Nach genauen Berechnungen, welche man angestellt hat, ergab sich ein Reingewinn von jährlich 23,74 Franken für jede Ziege, wobei zu erwägen, daß man in Frankreich die Stallfütterung anwendet, die Haltung dieser Thiere also in trockenen Ländern, wie Spanien, Algier etc., noch weit vortheilhafter sein wird. Schon jetzt hat man festgestellt, daß die Zucht viel gewinnreicher ist als die der Schafe, und es steht zu erwarten, daß sich dieses werthvolle Thier nach und nach weiter und weiter verbreiten wird.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 324-326.
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