Viscacha (Lagostomus trichodactylus)

[456] Der Vertreter der dritten Sippe, die Viscacha (sprich Wiskatscha), wie auch wir sie nennen (Lagostomus trichodactylus, Dipus maximus, Lagostomus und Callomys Viscacha, Lagotis criniger), ähnelt mehr der Chinchilla als den Arten der vorhergehenden Sippe. Der gedrungene, kurzhälsige Leib hat stark gewölbten Rücken, die Vorderbeine sind kurz und vierzehig, die kräftigen Hinterbeine doppelt so lang als jene und dreizehig. Der Kopf ist dick, rundlich, oben abgeflacht und an den Seiten aufgetrieben, die Schnauze kurz und stumpf. Auf Lippen und Wangen sitzen Schnurren von sonderbarer Steifheit, welche mehr Stahldraht als Horngebilden ähneln, große Federkraft besitzen und klingen, wenn man über sie streicht. Mittelgroße, aber schmale, stumpf zugespitzte, fast nackte Ohren, weit auseinander stehende, mittelgroße Augen, die [456] behaarte Nase und tief eingeschnittene Oberlippen tragen zur weiteren Kennzeichnung des Kopfes bei. Die Fußsohlen sind vorn behaart, in ihrer hinteren Hälfte aber nackt und schwielig, die Handsohlen dagegen ganz nackt. Kurze, von weichen Haaren umkleidete Nägel bewaffnen die Vorderfüße, längere und stärkere die Hinterfüße. Die Backenzähne, mit Ausnahme der oberen hintersten, zeigen zwei Schmelzblätter, der hinterste hat deren drei. Ein ziemlich dichter Pelz bedeckt den Leib. Die Oberseite besteht aus gleichmäßig vertheilten grauen und schwarzen Haaren, weshalb der Rücken ziemlich dunkel erscheint; der Kopf ist graulicher als die Seiten des Leibes, eine breite Binde, welche sich über den oberen Theil der Schnauze und der Wangen zieht, weiß, der Schwanz schmutzig weiß und braun gefleckt, die ganze Unter- und die Innenseite der Beine weiß. Mehrere Abweichungen sind bekannt geworden. Die am häufigsten vorkommenden haben mehr röthlichgrauen, schwarz gewölkten Rücken, weiße Unterseite, röthlichbraune Querbinde über die Wangen, schwarze Schnauze und schmutzig kastanienbraunen Schwanz.


Viscacha (Logostomus trichodactylus). 1/5 natürl. Größe.
Viscacha (Logostomus trichodactylus). 1/5 natürl. Größe.

Die Leibeslänge beträgt 50 Centim., die des Schwanzes 18 Centim.

Die Viscacha vertritt ihre Familienverwandten im Osten der Anden; ihr Wohngebiet bilden gegenwärtig die Pampas oder Grassteppen von Buenos Ayres bis Patagonien. Ehe die Anbauung des Bodens soweit gediehen war als gegenwärtig, fand man sie auch in Paraguay. Wo sie noch vorkommt, tritt sie in großer Menge auf. An manchen Orten trifft man sie so häufig, daß man beständig, jedoch niemals am Tage, zu beiden Seiten des Weges ganze Rudel sitzen sieht. Gerade die einsamsten und wüstesten Gegenden sind ihre Aufenthaltsorte; doch kommt sie bis dicht an die angebauten Gegenden heran, ja die Reisenden wissen sogar, daß die spanischen Ansiedelungen nicht mehr fern sind, wenn man eine Menge »Viscacheras« oder Baue unseres Thieres findet.

In den spärlich bewachsenen und auf weite Strecken hin kahlen, dürren Ebenen schlägt die Viscacha ihre Wohnsitze auf und gräbt sich hier ausgedehnte unterirdische Baue, am liebsten in der Nähe von Gebüschen und noch lieber nicht weit von Feldern entfernt. Die Baue werden gemeinschaftlich gegraben und auch gemeinschaftlich bewohnt. Sie haben eine Unzahl von Gängen und Fluchtröhren, oft vierzig bis funfzig, und sind im Innern in mehrere Kammern getheilt, je nach der Stärke der Familie, welche hier ihre Wohnung aufgeschlagen hat. Die Anzahl der Familienglieder kann auf acht bis zehn ansteigen; dann aber verläßt ein Theil der Inwohnerschaft [457] den alten Bau und legt sich einen neuen an, gern dicht in der Nähe des früheren. Nun geschieht es außerdem, daß die Höhleneule, welche wir als Gesellschafter der Prairiehunde kennen lernten, auch hier sich einfindet und ohne große Umstände von einem oder dem anderen Baue Besitz nimmt. Die reinlichen Viscachas dulden niemals einen Mitbewohner, welcher nicht ebenso sorgfältig auf Ordnung hält wie sie, und entfernen sich augenblicklich, wenn einer der Eindringlinge sie durch Unreinlichkeit belästigt. So kommt es, daß der Boden manchmal in dem Flächenraume von einer Geviertmeile vollständig unterwühlt ist.

Den Tag über liegt die ganze Familie verborgen im Baue, gegen Sonnenuntergang zeigt sich eins und das andere, und mit Einbruch der Dämmerung hat sich eine mehr oder minder zahlreiche Gesellschaft vor den Löchern versammelt. Diese prüft sehr sorgfältig, ob alles sicher ist, und treibt sich längere Zeit in der Nähe des Baues umher, ehe sie sich anschickt, nach Aesung auszugehen. Dann kann man hunderte miteinander spielen sehen und vernimmt ihr schweineartiges Grunzen schon auf bedeutende Entfernungen hin. Wenn alles vollständig ruhig geworden ist, zieht die Gesellschaft auf Nahrung aus, und ihr ist alles Genießbare recht, was sich findet. Gräser, Wurzeln und Rinden bilden wohl den Haupttheil ihres Futters; sind aber Felder in der Nähe, so besuchen die Thiere auch diese und richten hier merkliche Verheerungen an. Bei ihren Weidegängen sind sie ebenfalls höchst vorsichtig: niemals kommt es dahin, daß sie ihre Sicherung vergessen. Eines um das andere richtet sich auf den Hinterbeinen empor und lauscht und lugt sorgfältig in die Nacht hinaus. Bei dem geringsten Geräusche ergreifen alle die Flucht und stürzen in wilder Hast unter lautem Geschrei nach den Höhlen zurück; ihre Angst ist so groß, daß sie auch dann noch schreien und lärmen, wenn sie bereits die sichere Wohnung wieder erreicht haben. Göring hörte niemals, daß die Viscachas beim Laufen grunzten, vernahm aber, so oft er sich einer Höhle näherte, stets das laute Gebelfer der innen verborgenen Thiere.

In ihren Bewegungen haben die Viscachas viel Aehnlichkeit mit den Kaninchen; doch stehen sie denselben an Schnelligkeit bedeutend nach. Sie sind munterer, lustiger und mehr zum Spielen aufgelegt als jene. Auf ihren Weidegängen scherzen sie fast fortwährend mit einander, rennen hastig umher, springen grunzend übereinander weg, schnauzen sich an usw. Wie der Schakalfuchs tragen sie die verschiedensten Dinge, die sie auf ihren Weidegängen finden, nach ihren Höhlen hin und schichten sie vor der Mündung derselben in wirren Haufen, gleichsam als Spielzeug auf. So findet man Knochen und Genist, Kuhfladen und durch Zufall in Verlust gekommene Gegenstände, welche ihnen ganz entschieden nicht den geringsten Nutzen gewähren, vor ihren Höhlen aufgeschichtet, und die Gauchos gehen daher, wenn sie etwas vermissen, zu den nächsten Viscacheras hin, um dort das verlorene zu suchen. Aus dem Innern ihrer Wohnungen schaffen sie alles sorgfältig weg, was nicht hineingehört, auch die Leichen ihrer eigenen Art. Ob sie sich einen Vorrath für den Winter in ihrer Höhle sammeln, um davon während der rauhen Jahreszeit zu zehren, ist noch unentschieden; wenigstens behauptet es nur einer der älteren Naturforscher.

Die Stimme besteht in einem sonderbaren lauten und unangenehmen Schnauben oder Grunzen, welches nicht zu beschreiben ist.

Ueber die Fortpflanzung ist bis jetzt sicheres nicht bekannt. Die Weibchen sollen zwei bis vier Junge werfen, und diese nach zwei bis vier Monaten erwachsen sein. Göring sah immer nur ein Junges bei den alten Viscachas. Es hielt sich stets in nächster Nähe von seiner Mutter. Die Alte scheint es mit vieler Liebe zu behandeln und vertheidigt es bei Gefahr. Eines Abends ververwundete mein Gewährsmann mit einem Schusse eine Mutter und ihr Kind. Letzteres blieb betäubt liegen; die Alte aber war nicht tödtlich getroffen. Als sich Göring näherte, um seine Beute zu ergreifen, machte die Alte alle möglichen Anstrengungen, um das Junge fortzuschaffen. Sie umging es wie tanzend und schien sehr betrübt zu sein, als sie sah, daß ihre Anstrengungen nichts fruchteten. Beim Näherkommen unseres Jägers erhob sich die Alte plötzlich auf ihre Hinterbeine, sprang fußhoch vom Boden auf und fuhr schnaubend und grunzend mit solcher Heftigkeit [458] auf ihren Feind los, daß dieser sich durch Stöße mit dem Flintenkolben des wüthenden Thieres erwehren mußte. Erst als die Alte sah, daß alles vergeblich und ihr Junges nicht zu retten war, zog sie sich nach ihrem nahen Baue zurück, schaute aber auch von dort aus noch immer mit sichtbarer Angst und grimmigem Zorne nach dem Mörder ihres Kindes. Wenn man diese Jungen einfängt und sich mit ihnen abgibt, werden sie zahm und können, wie unsere Kaninchen, mit Leichtigkeit erhalten werden.

Man stellt der Viscacha weniger ihres Fleisches und Felles halber als wegen ihrer unterirdischen Wühlereien nach. An den Orten, wo sie häufig ist, wird das Reiten wirklich lebensgefährlich, weil die Pferde oft die Decken der feichten Gänge durchtreten und hierdurch wenigstens außerordentlich aufgeregt werden, wenn sie nicht stürzen oder gar ein Bein brechen und dabei ihren Reiter abwerfen. Der Landeingeborene erkennt die Viscacheras schon von weitem an einer kleinen, wilden, bitteren Melone, welche vielleicht von den Thieren gern gefressen wird. Diese Pflanze findet sich immer da, wo viele Viscacheras sind, oder umgekehrt, diese werden da angelegt, wo die Pflanzen nach allen Seiten hin ihre grünen Ranken verbreiten. Es ist somit ein Zeichen gegeben, die gefährlichen Stellen zu vermeiden. Allein die Gauchos lieben es nicht, in ihren Ritten aufgehalten zu werden und hassen die Viscachas deshalb außerordentlich. Man versucht, diese mit allen Mitteln aus der Nähe der Ansiedelungen zu vertreiben und wendet buchstäblich Feuer und Wasser zu ihrer Vernichtung an. Das Gras um ihre Höhlen wird weggebrannt und ihnen somit die Nahrung entzogen; ihre Baue werden unter Wasser gesetzt und sie gezwungen, sich ins Freie zu flüchten, wo die außen lauernden Hunde sie bald am Kragen haben. Göring wohnte einer solchen Viscachajagd bei. Man zog von einem größeren Kanal aus einen Graben bis zu den Viscacheras und ließ nun Wasser in die Höhlen laufen. Mehrere Stunden vergingen, ehe der Bau gefüllt wurde, und bis dahin vernahm man außer dem gewöhnlichen Schnauben nichts von den so tückisch verfolgten Thieren. Endlich aber zwang sie die Wassernoth zur Flucht. Aengstlich und wüthend zugleich, erschienen sie an den Mündungen ihrer Höhle, schnaubend fuhren sie wieder zurück, als sie außen die lauernden Jäger und die furchtbaren Hunde stehen sahen. Aber höher und höher stieg das Wasser, größer und fühlbarer wurde die Noth: endlich mußten sie flüchten. Augenblicklich waren ihnen die wachsamen Hunde auf den Fersen; eine wüthende Jagd begann. Die Viscachas wehrten sich wie Verzweifelte; doch eine nach der anderen mußte erliegen, und reiche Beute belohnte die Jäger. Unser Gewährsmann beobachtete selbst, daß getödtete Viscachas von ihren Genossen nach dem Innern der Baue geschleppt wurden. Er schoß Viscachas aus geringer Entfernung; doch ehe er noch zur Stelle kam, waren die durch den Schuß augenblicklich getödteten bereits im Innern ihrer Höhlen verschwunden. Außer dem Menschen hat das Thier noch eine Unzahl von Feinden. Der Kondor soll den Viscachas ebenso häufig nachgehen wie ihren Verwandten oben auf der Höhe des Gebirges; die wilden Hunde und Füchse auf der Steppe verfolgen sie leidenschaftlich, wenn sie sich vor ihrer Höhle zeigen, und die Beutelratte dringt sogar in das Heiligthum dieser Baue ein, um sie dort zu bekämpfen. Zwar vertheidigt sich die Viscacha nach Kräften gegen ihre starken Feinde, balgt sich mit den Hunden erst lange herum, streitet tapfer mit der Beutelratte, beißt selbst den Menschen in die Füße: aber was kann der arme Nager thun gegen die starken Räuber! Er unterliegt denselben nur allzubald und muß das junge Leben lassen. Doch würde trotz aller dieser Verfolgungen die Zahl der Viscachas sich kaum vermindern, thäte die mehr und mehr sich verbreitende Anbauung des Bodens ihrem Treiben nicht gar so großen Abbruch. Der Mensch ist es auch hier, welcher durch die Besitznahme des Bodens zum furchtbarsten Feinde unseres Thieres wird.

Die Indianer der Steppe glauben, daß eine in ihre Höhle eingeschlossene Viscacha nicht fähig ist, sich selbst wieder zu befreien und zu Grunde gehen muß, wenn nicht ihre Gefährten sie ausgraben. Sie verstopfen deshalb die Hauptausgänge des Viscacheras und binden einen ihrer Hunde dort als Wächter an, damit er die hülfefertigen anderen Viscachas abhält, bis sie selbst mit [459] Schlingen, Netzen und Frettchen wieder zur Stelle sind. Die Erklärung dieser sonderbaren Meinung ist leicht zu geben. Die eingeschlossenen Viscachas hüten sich natürlich, sobald sie den Hund vor ihren Bauen gewahren, herauszukommen, und der Indianer erreicht somit seinen Zweck. Die übrigen Viscachas thun gar nichts bei der Sache.

Die Indianer essen das Fleisch und benutzen auch wohl das Fell, obgleich dieses einen weit geringeren Werth hat als das der früher genannten Arten.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 456-460.
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