2. Sippe: Mäuse (Mus)

[347] Die Ur- und Vorbilder der Familie, die Mäuse im engern Sinne (Murina), sind infolge ihrer Zudringlichkeit als Gäste des Menschen in ihrem Treiben und Wesen nur zu bekannt. Unter ihnen findet sich jene Arten, welche sich mit den Menschen über die ganze Erde verbreitet und gegenwärtig auch auf den ödesten Inseln angesiedelt haben. Es ist noch nicht so lange her, daß diese Weltwanderung der Thiere stattfand; ja man kennt an vielen Orten noch genau die Jahreszahl, in welcher sie zuerst auftraten: gegenwärtig aber haben sie ihre Rundreise um den Erdball vollendet. Nirgends dankt ihnen der Mensch die unverwüstliche Anhänglichkeit, welche sie an seine Person, an sein Haus und seinen Hof an den Tag legen, überall verfolgt und haßt er sie auf das schonungsloseste, alle Mittel setzt er in Bewegung, um sich von ihnen zu befreien: und dennoch bleiben sie ihm zugethan, treuer noch als der Hund, treuer als irgend ein anderes Thier. Leider sind diese anhänglichen Hausfreunde abscheuliche Hausdiebe, wissen sich mit ihren spitzbübischen Werkzeugen überall einzunisten und bereiten ihrem Gastfreunde nur Schaden und Verlust. Hieraus erklärt sich, daß alle wahren Mäuse schlechtweg häßliche, garstige Thiere genannt werden, obgleich sie dies in Wahrheit durchaus nicht sind, im Gegentheile vielmehr als schmucke, anmuthige, nette Gesellen bezeichnet werden müssen.

Im allgemeinen kennzeichnen die Mäuse, welche man in einer zweiten Unterfamilie vereinigt, die spitze, behaarte Schnauze, die breite, gespaltene Oberlippe, die in fünf Reihen geordneten, langen und starken Schnurren, die großen, runden, tiefschwarzen Augen, die frei aus dem Pelze hervorragenden Ohren und vor allem der lange, nackte, bloß spärlich mit steifen Härchen bekleidete, anstatt der Behaarung mit viereckigen und verschoben viereckigen Schuppen bedeckte Schwanz. Die [347] Vorderfüße haben vier Zehen und eine Daumenwarze, die Hinterfüße sind fünfzehig. Im Gebisse finden sich drei Backenzähne in jedem Kiefer, welche von vorn nach hinten zu an Größe abnehmen. Ihre Kaufläche ist höckerig, schleift sich aber mit der Zeit mehr und mehr ab, und dann entstehen quere Schmelzbänder, welche in hohem Alter ebenfalls verschwinden können. Der Pelz besteht aus kurzem, wolligen Grundhaar und längeren, steifen Grannen, welche abgeplattet erscheinen. In der Pelzfärbung sind Schwarzbraun und Weißgelb vorwiegend.

Schon im gewöhnlichen Leben unterscheidet man zwei Hauptgruppen, die Ratten und Mäuse, und diese Unterscheidung nimmt auch die Wissenschaft an. Die Ratten sind die plumperen und häßlicheren, die Mäuse die leichteren und zierlicheren Gestalten. Bei jenen hat der Schwanz zwischen 200 und 260 Schuppenringe, bei diesen nur zwischen 120 und 180; dort sind die Füße dick und kräftig, hier schlank und fein; die Ratten werden im ausgewachsenen Zustande über 30 Centim., die Mäuse nur gegen 24 Centimeter lang; jene haben getheilte Querfalten im Gaumen, bei diesen sind die Querfalten erst von der zweiten an in der Mitte getheilt. Man ersieht hieraus, daß diese Unterscheidungsmerkmale immerhin einer ziemlich sorgfältigen Prüfung bedürfen und eigentlich nur für den Forscher von Fach besonderen Werth haben. In ihrem Leben dagegen unterscheiden sich die eigentlichen Ratten von den wahren Mäusen auffallend genug.

Mit ziemlicher Sicherheit dürfen wir annehmen, daß die Ratten, welche gegenwärtig in Europa hausen, ursprünglich hier nicht heimisch waren, vielmehr einwanderten. In den Schriften der Alten findet sich nur eine einzige Stelle, welche auf Ratten bezogen werden kann; es bleibt aber unklar, welche Art Amyntas, dessen Mittheilungen Aelian widergibt, gemeint haben mag. Nachweislich fand sich die Hausratte zuerst in Europa und Deutschland ein oder vor; ihr folgte die Wanderratte und dieser endlich in der neuesten Zeit die aus Egypten stammende Dachratte (Mus alexandrinus). Zur Zeit wohnen die erstgenannten beiden, hier und da auch wohl alle drei Arten noch nebeneinander; die Wanderratte, als die stärkste von allen, vertreibt und vernichtet jedoch die beiden Verwandten und bemächtigt sich mehr und mehr der Alleinherrschaft. Hoffen wir, daß wir es nicht noch mit anderen reiselustigen Gliedern der Familie zu thun bekommen, daß wir insbesondere verschont bleiben von einer Einwanderung der Hamsterratte (Mus oder Cricetomys gambianus), welche unsere Ratten nicht allein an Größe, sondern auch hinsichtlich ihrer Thätigkeit bei weitem übertrifft und gegenwärtig den Kaufleuten Sansibars mehr zu schaffen macht als alle europäischen Ratten zusammengenommen: wir würden, käme dieses Thier zu uns, erst erfahren, was eine Ratte zu leisten vermag!

Einstweilen genügt es, wenn ich die beiden bekanntesten Arten, die Haus- und die Wanderratte, schildere, so gut ich vermag.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 347-348.
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