[103] Der Vielfraß (Gulo borealis, Ursus, Mustela und Taxus Gulo, Ursus sibiricus, Gulo vulgaris, arcticus, luscus, Volverene und leucurus) ist 95 Centim. bis 1 Meter lang, [103] wovon 12 bis 15 Centim. auf den Schwanz kommen, und am Widerrist 40 bis 45 Centim. hoch. Auf der Schnauze sind die Haare kurz und dünn, an den Füßen stark und glänzend, am Rumpfe lang und zottig, um die Schenkel, an den hellen Seitenbinden und am Schwanze endlich straff und sehr lang. Scheitel und Rücken sind braunschwarz mit grauen Haaren gemischt, der Rücken, die Unterseite und die Beine dunkelschwarz; ein hellgrauer Flecken steht zwischen Augen und Ohren, und eine hellgraue Binde verläuft von jeder Schulter an längs der Seiten hin. Das Wollhaar ist grau, an der Unterseite mehr braun.
Der Vielfraß bewohnt den Norden der Erde. Von Südnorwegen und Finnmarken an findet man ihn durch ganz Nordasien und Nordamerika bis Grönland. Früher war die südliche Grenze seiner Verbreitung in Europa unter tieferen Breiten zu suchen als gegenwärtig; zur Renthierzeit erstreckte sie sich bis zu den Alpen. Eichwald versichert, daß er noch spät in den Wäldern von Litauen vorgekommen sei; Brincken hat ihn noch vor einigen Jahren im Walde von Bialowies beobachtet, wo er jetzt auch nicht mehr gefunden wird; Bechstein erzählt von einem Vielfraße, welcher bei Frauenstein in Sachsen, und Zimmermann von einem anderen, welcher bei Helmstedt im Braunschweigischen erlegt wurde. Die beiden letzteren werden als versprengte Thiere angesehen, weil man nicht wohl annehmen kann, daß der Vielfraß in so späten Zeiten noch so weit nach Süden gegangen ist. Gegenwärtig sind Norwegen, Schweden, Lappland, Großrußland, namentlich die Gegenden um das Weiße Meer, ganz Sibirien, Kamtschatka und Nordamerika sein Wohngebiet.
Die älteren Naturforscher erzählen von ihm die fabelhaftesten Dinge, und ihnen ist es zuzuschreiben, daß der Vielfraß einen in allen Sprachen gleichbedeutenden Namen führt. Man hat sich vergebliche Mühe gegeben, das deutsche Wort Vielfraß aus dem Schwedischen oder Dänischen abzuleiten. Die Einen sagen, daß das Wort aus Fjäl und Fräß zusammengesetzt sei und Felsenkatze bedeute; Lenz behauptet aber, daß das Wort Vielfraß der schwedischen Sprache durchaus nicht angehöre, und weist auch die Annahme zurück, daß es aus dem Finnischen abgeleitet sei. Die Schweden selbst sind so unsicher hinsichtlich der Bedeutung des Namens, daß jene Ableitung wohl zu verwerfen sein dürfte. Bei den Finnen heißt das Thier Kampi, womit man jedoch auch den Dachs bezeichnet, bei den Russen Rosomacha oder Rosomaka und bei den Skandinaviern Jerf; die Kamtschadalen nennen es Dimug und die Amerikaner endlich Wolverene. Höchst wahrscheinlich wurde der Name nach den ersten Erzählungen ins Deutsche übersetzt und ging nun erst in die übrigen Sprachen über. Wenn man jene Erzählungen liest und glaubt, muß man dem alten Kinderreim
»Vielfraß nennt man dieses Thier,
Wegen seiner Freßbegier!«
freilich beistimmen. Michow sagt folgendes: »In Litauen und Moscowien gibt es ein Thier, welches sehr gefräßig ist, mit Namen Rosomaka. Es ist so groß wie ein Hund, hat Augen wie eine Katze, sehr starke Klauen, einen langhaarigen, braunen Leib und einen Schwanz wie der Fuchs, jedoch kürzer. Findet es ein Aas, so frißt es so lange, daß ihm der Leib wie eine Trommel strotzt; dann drängt es sich durch zwei nahestehende Bäume, um sich des Unraths zu entledigen, kehrt wieder um, frißt von neuem und preßt sich dann nochmals durch die Bäume, bis es das Aas verzehrt hat. Es scheint weiter nichts zu thun, als zu fressen, zu saufen und dann wieder zu fressen«. In dieser Weise schildert auch Geßner den Vielfraß; Olaus Magnus aber weiß noch mehr. »Unter allen Thieren,« sagt er, »ist dieses das einzige, welches, wegen seiner beständigen Gefräßigkeit, im nördlichen Schweden den Namen Jerf, im Deutschen den Namen Vielfraß erhalten hat. Sein Fleisch ist unbrauchbar, nur sein Pelz ist sehr nützlich und kostbar und glänzt sehr schön und noch mehr, wenn man ihn künstlich mit anderen Farben verbindet. Nur Fürsten und andere große Männer tragen Mäntel davon, nicht bloß in Schweden, sondern auch in Deutschland, wo sie wegen ihrer Seltenheit noch viel theurer zu stehen kommen. Auch lassen die Einwohner diese Pelze nicht gern in fremde Länder gehen, weil sie damit ihren Wintergästen eine Ehre zu erweisen pflegen, indem sie [104] nichts für angenehmer und schöner halten, als ihren Freunden Betten von solchem Pelze anweisen zu können. Dabei darf ich nicht verschweigen, daß alle diejenigen, welche Kleider von solchen Thieren tragen, nie mit Essen und Trinken aufhören können. Die Jäger trinken ihr Blut; mit lauem Wasser und Honig vermischt, wird es sogar bei Hochzeiten aufgetragen. Das Fett ist gut gegen faule Geschwüre usw. Die Jäger haben verschiedene Kunststücke erfunden, um dieses listige Thier zu fangen. Sie tragen ein Aas in den Wald, welches noch frisch ist. Der Vielfraß riecht es sogleich, frißt sich voll, und während er sich, nicht ohne viele Qual, zwischen die Bäume durchdrängt, wird er mit Pfeilen erschossen. Auch stellt man ihm Schlagfallen, wodurch er erwürgt wird. Mit Hunden ist er kaum zu fangen, weil diese seine spitzigen Klauen und Zähne mehr fürchten, als den Wolf.«
Schon Steller widerlegt die abgeschmackten Fabeln, und Pallas gibt eine richtige Lebensbeschreibung des absonderlichen Gesellen. Ich selbst habe ihn auf meiner Reise in Skandinavien bloß ein einziges Mal zu Gesicht bekommen, und zwar auf einer Renthierjagd, welche wir gemeinschaftlich, d.h. ich und der Vielfraß, unternahmen; mein alter Erik Swenson, einer der naturkundigsten Jäger, welche ich überhaupt angetroffen habe, konnte mir jedoch manches über die Lebensweise mittheilen, so daß ich also auch nach eigenen Forschungen über ihn zu berichten vermag.
Der Vielfraß bewohnt die gebirgigen Gegenden des Nordens, zieht z.B. die nackten Höhen der skandinavischen Alpen den ungeheueren Wäldern des niederen Gebirges vor, obwohl er auch in diesen zu finden ist. Die ödeste Wildnis ist sein Aufenthalt. Er hat keine feststehenden Wohnungen, sondern wechselt sie nach dem Bedürfnisse und verbirgt sich, wenn die Nacht hereinbricht, an jedem beliebigen Orte, welcher ihm einen Schlupfwinkel gewährt, sei es im Dickichte der Wälder oder im Geklüfte der Felsen, in einem verlassenen Fuchsbaue oder in einer anderen, natürlichen Höhle. Wie alle Marder mehr Nacht- als Tagthier, schleicht er doch in seiner so wenig von den Menschen beunruhigten Heimat ganz nach Belieben umher und zeigt sich auch im Lichte der Sonne, würde dies auch unter allen Umständen thun müssen, da ja bekanntlich in seinem Vaterlande während des Sommers die Sonne ein Vierteljahr lang Tag und Nacht am Himmel steht. In dem von Radde bereisten südlichen Grenzgebiete des östlichen Sibirien ist das Vorkommen des Vielfraßes viel mehr an das Vorhandensein der Moschusthiere als der Renthiere geknüpft. Das Auftreten des erstgenannten Wiederkäuers hängt nun aber wesentlich mit dem pflanzlichen Gepräge der betreffenden Gegenden zusammen, und daher findet man da, wo in weitgedehnten bleichgelben und grauen Flechtengebieten eine Alpenflora noch die äußerste Grenze des Baumwuchses schmückt, Moschusthier und Vielfraß am häufigsten, während man in einer durchschnittlichen Höhe von 1000 Meter über dem Meere in dem Gebiete der üppigen Pflanzenwelt beide Thiere nur zufällig und vereinzelt antrifft. Dem entsprechend ist der Vielfraß im östlichen Sajan entschiedener Gebirgsbewohner, welcher, ohne festen Wohnsitz zu haben, beständig umherschweift und namentlich diejenigen Oertlichkeiten der Hochgebirge aufsucht, an denen den Moschusthieren Schlingen gelegt werden. Unter ähnlichen Verhältnissen tritt er überall im Süden von Sibirien auf, und ebenso verhält es sich, unter Berücksichtigung örtlicher Eigenthümlichkeiten, im Norden Amerikas. In seinen Bewegungen plump und ungeschickt, weiß er doch durch Ausdauer seiner Beute sich zu bemächtigen, und sollte er sie, laut Radde, sechs bis sieben Tage lang verfolgen, bevor er sie stellt. Im Winter, welchen er nach Art der nächstverwandten Marder, ohne längere Zeit zu schlafen, durchlebt, setzen ihn seine großen Tatzen in den Stand, mit Leichtigkeit über den Schnee zu gehen, und da er kein Kostverächter ist, führt er ein sehr behagliches und gemüthliches Leben, ohne jemals in große Noth zu kommen. Seine Bewegungen sind sehr eigenthümlicher Art, und namentlich der Gang zeichnet sich vor dem aller übrigen mir bekannten Thiere aus. Der Vielfraß wälzt sich nämlich in großen Bogensätzen dahin, ganz merkwürdig humpelnd und Purzelbäume schlagend. Doch fördert diese Gangart immer noch so rasch, daß er kleine Säugethiere bequem dabei einholt und auch größeren bei längerer Verfolgung nahe genug auf den Leib rücken kann. Im Schnee zeigt sich seine Fährte, diesem Gange [105] entsprechend, in tiefen Löchern, in welche er mit allen vier Beinen gesprungen ist. Aber gerade sein eigenthümlicher Gang ist dann ganz geeignet, ihn leicht zu fördern, während das von ihm verfolgte Wild mit dem tiefen Schnee sehr zu kämpfen hat. Trotz seiner Ungeschicklichkeit versteht er es, niedere Bäume zu besteigen. Auf deren Aesten liegt er, dicht an den Stamm gedrückt, auf der Lauer und wartet, bis ein Wild unter ihm weggeht. Dem springt er dann mit einem kräftigen Satze auf den Rücken, hängt sich am Halse fest, beißt ihm rasch die Schlagadern durch und wartet, bis es sich verblutet hat. Unter seinen Sinnen steht der Geruch oben an; doch sind auch sein Gesicht und Gehör hinlänglich scharf.
Die Lebens- und Jagdweise des Vielfraßes hat widersprechende Berichte hervorgerufen. Einige Schriftsteller behaupten, daß er bloß von solchen Thieren lebe, welche zufällig getödtet worden sind, daß er also Aas jeder übrigen Nahrung vorziehe. Nur im Sommer soll er Murmelthiere und Mäuse ausgraben oder die Fallen, welche Jäger gestellt haben, und selbst die Häuser der Nordländer plündern. Dem ist jedoch nicht so, vielmehr die uns von Pallas gegebene Beschreibung seiner Lebensweise durchaus richtig. Er sieht schläfrig und plump aus, weiß aber seine Jagd mit hinlänglichem Erfolge zu betreiben. Seine Hauptnahrung bilden die Mäusearten des Nordens und namentlich die Lemminge, von denen er eine erstaunliche Menge vertilgt. Bei der großen Häufigkeit dieser Thiere in gewissen Jahren, braucht er sich kaum um ein anderes Wild zu bekümmern. Den Wölfen und Füchsen folgt er auf ihren Streifzügen nach, in der Hoffnung, etwas von ihrem Raube zu erbeuten. Im Nothfalle aber betreibt er selbst die höhere Jagd. Steller erzählt, daß er das Renthier mit List zu sich heranlocke, indem er auf einen Baum klettere und von dort aus in Absätzen Renthiermoos herabwürfe, welches dann von dem Ren aufgefressen würde, wodurch ihm Gelegenheit gegeben werde, einen guten Sprung zu machen. Dann soll er dem Wilde die Augen auskratzen und auf ihm sitzen bleiben, bis sich der geängstete Hirsch an Bäumen zu Tode stößt. Allein diese Angaben scheinen bloß auf Erzählungen zu beruhen und dürften unrichtig sein. Gewiß aber ist es, daß er Renthiere, ja selbst Elenthiere angreift und niedermacht. Thunberg erkundete, daß er sogar Kühe umbringt, indem er ihnen die Gurgel abbeißt. Löwenhjelm erwähnt in seiner Reisebeschreibung von Nordland, daß er dort Schaden unter den Schafherden anrichte, und Erman erfuhr von den Ostjaken, daß er dem Elenthiere auf den Nacken springe und es durch Bisse tödte. Hiermit stimmen die Mittheilungen Radde's vollständig überein. In geeigneten Gebirgen am Baikalsee wird der dort häufige Vielfraß in der Nähe der Ansiedelungen eine Plage für das junge Hornvieh; im Gebirge selbst stellt er die ermüdeten Moschusthiere auf vorspringenden Zinken und wirft sich von höheren Stufen derselben auf sie herab. Eine im Jahre 1855 stattgehabte Auswanderung der Renthiere aus dem östlichen Sajan südwärts in die Quellgebirge des Jenisei blieb jedoch ohne Einfluß auf die Lebensweise des Vielfraßes; die Karagassen und Sojotten behaupteten sogar, er habe hier niemals ein Renthier angegriffen, sondern sei ausschließlich auf das Moschusthier angewiesen. Unter letzterem scheint er arge Verheerungen anzurichten. Erik erzählte mir, daß er sich, zumal im tiefen Schnee, leise unter dem Winde an die vergrabenen Schneehühner heranmacht, sie in den Höhlen, welche sich die Vögel ausscharren, verfolgt und dann mit Leichtigkeit tödtet. Den Jägern ist er ein höchst verhaßtes Thier. Mein Begleiter versicherte mich, daß ein jedes erlegte Renthier, welches er nicht sorgfältig unter Steinen verborgen habe, während seiner Abwesenheit von dem Vielfraße angefressen worden sei. Sehr häufig stiehlt er auch die Köder von den Fallen weg oder frißt die darin gefangenen Thiere an. Genau ebenso treibt er es in Sibirien und Amerika. Nach Radde geht er schlau den Schlingen, welche für die Moschusthiere gestellt werden, nach, folgt den Fallen der Zobel und wird den Jägern, welche leider nicht immer zeitig genug nachsehen können, eine lästige Plage, indem er die Beute ausfrißt. In den Hütten der Lappen richtet er oft bedeutende Verwüstungen an. Er bahnt sich mit seinen Klauen einen Weg durch Thüren und Dächer und raubt Fleisch, Käse, getrockneten Fisch und dergl., zerreißt aber auch die dort aufbewahrten Thierfelle und frißt, bei großem Hunger, selbst einen Theil derselben. Während des [106] Winters ist er Tag und Nacht auf den Beinen, und wenn er ermüdet, gräbt er sich einfach ein Loch in den Schnee, läßt sich dort verschneien und ruht in dem nun ganz warmen Lager behaglich aus.
Daß er auch in gänzlich baumlosen Gebirgsgegenden, dem ausschließlichen Aufenthalte der wilden Renthiere, diesen großen Schaden zufügt, habe ich nicht bloß aus dem Munde meiner Jäger vernommen, sondern ebenso aus dem Benehmen einer von ihm bedrohten Renthierherde schließen können. Ich bemerkte einen Vielfraß, welcher auf einer mit wenig Steinen bedeckten Ebene hinter einem größeren Blocke saß und die Renthiere mit größter Theilnahme betrachtete. Jedenfalls gedachte er ein unvorsichtiges Kalb bei Gelegenheit zu überraschen. Sein Standpunkt war vortrefflich gewählt: er hatte den Wind mit derselben Gewissenhaftigkeit beobachtet wie wir. Die scheuen Renthiere bekamen jedoch bei einer Wendung, welche das sich äsende Rudel machte, Witterung und stiebten augenblicklich in die Weite. Jetzt mochte er einsehen, daß für heute seine Jagd erfolglos bleiben würde, und wandte sich, trottelnd und Purzelbäume schlagend, den Kopf und Schwanz zur Erde gesenkt, dem höheren Gebirge zu, lauschte plötzlich, sprang seitwärts, fing einen Lemming, verspeiste denselben mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit und setzte dann seinen Weg weiter fort. Ich war leider zu entfernt von ihm, um meinen Grimm an der gestörten Jagd ihm fühlen lassen zu können; er aber nahm sich in der Folge wohl in Acht, uns wieder zu nahe zu kommen.
Eine kleine Beute, welche der Vielfraß gemacht hat, verzehrt er auf der Stelle mit Haut und Haaren, eine größere aber vergräbt er sehr sorgfältig und hält dann noch eine zweite Mahlzeit davon. Die Samojeden behaupten, daß er auch Menschenleichen aus der Erde scharre und zeitweilig von diesen sich nähre.
Infolge seiner umfassenden Thätigkeit als Raubthier steht der Vielfraß bei sämmtlichen nordischen Völkerschaften keineswegs in besonderer Achtung, und man jagt, verfolgt und tödtet ihn, wo man nur immer kann, obgleich sein Fell keineswegs überall benutzt wird. Die Kamtschadalen freilich schätzen es sehr hoch und glauben, daß es kein schöneres Rauchwerk geben kann als eben dieses Fell. Gerade die weißgelben Felle, welche von den Europäern für die schlechtesten gehalten werden, gelten in ihren Augen als die allerschönsten, und sie sind fest überzeugt, daß der Gott des Himmels, Bulutschei, Rosomaka- oder Vielfraßkleider trage. Die gefallsüchtige Itelmänin trägt zwei Stück Vielfraßfelle von Handgröße über dem Kopfe, oberhalb der Ohren; man kann deshalb seiner Frau oder Geliebten nicht besser sich verbindlich machen, als wenn man ihr derartige Rosomakenfleckchen kauft, deren Preis dort dem eines Biberfelles gleichgeachtet wird. Vor Stellers Zeiten konnte man von den Kamtschadalen für einen Vielfraß eine Menge andere Felle eintauschen, welche zusammen nicht selten dreißig bis sechszig Rubel werth waren. Die Liebhaberei für diese Fleckchen geht soweit, daß die Frauen, welche keine besitzen, gefärbte Fellstücke aus dem Balge einer Seente tragen. Steller fügt hinzu, daß trotz des hohen Werthes gedachter Felle Vielfraße in Kamtschatka häufig sind, weil die Einwohner es nicht verstehen, sie zu fangen, und bloß zufällig einen erbeuten, welcher sich in die Fuchsfallen verirrt.
Der Eskimo legt sich vor der Höhle des Vielfraßes auf den Bauch und wartet, bis derselbe herauskommt, springt dann sofort auf, verstopft das Loch und läßt nun seine Hunde los, welche zwar ungern auf solches Wild gehen, es aber doch festmachen. Nunmehr eilt der Jäger hinzu, zieht dem Räuber eine Schlinge über den Kopf und tödtet ihn. In Norwegen und Lappland wird er mit dem Feuergewehre erlegt.
Trotz seiner geringen Größe ist der Vielfraß kein zu verachtender Gegner, weil unverhältnismäßig stark, wild und widerstandsfähig. Man versichert, daß selbst Bären und Wölfe ihm aus dem Wege gehen; letztere sollen ihn, wahrscheinlich seines Gestankes wegen, überhaupt nicht anrühren. Gegen den Menschen wehrt er sich bloß dann, wenn er nicht mehr ausweichen kann. Gewöhnlich rettet er sich angesichts eines Jägers durch die Flucht, und wenn er getrieben wird, auf einen Baum oder auf die höchsten Felsspitzen, wohin ihm seine Feinde nicht nachfolgen können. Von raschen Hunden wird er in ebenen, baumlosen Gegenden bald eingeholt, vertheidigt sich aber mit Ausdauer [107] und Muth gegen dieselben und beißt wüthend um sich. Ein einziger Hund überwältigt ihn nicht; zuweilen wird es auch mehreren schwer, ihn zu besiegen. Wenn er vor seinen Verfolgern nicht auf einen Baum entkommen kann, wirft er sich auf den Rücken, faßt den Hund mit seinen scharfen Krallen, wirft ihn zu Boden und zerfleischt ihn mit dem Gebisse derart, daß jener an den ihm beigebrachten Wunden oft zu Grunde geht.
Die Rollzeit des Vielfraßes fällt in den Herbst oder Winter, in Norwegen, wie Erik mir erzählte, in den Januar. Nach vier Monaten Tragzeit, gewöhnlich also im Mai, wirft das Weibchen, in einer einsamen Schlucht des Gebirges oder in den dichtesten Wäldern, zwei bis drei, selten auch vier Junge auf ein weiches und warmes Lager, welches es entweder in hohlen Bäumen oder in tiefen Höhlen angelegt hat. Es hält schwer, ein solches Wochenbett aufzufinden; bekommt man aber Junge, welche noch klein sind, so kann man sie ohne große Mühe zähmen. Genberg zog einen Vielfraß mit Milch und Fleisch auf und gewöhnte ihn so an sich, daß er ihm wie ein Hund auf das Feld nachlief. Er war beständig in Thätigkeit, spielte artig mit allerlei Dingen, wälzte sich im Sande, scharrte sich im Boden ein und kletterte auf Bäume. Schon als er drei Monate alt war, wußte er sich mit Erfolg gegen die ihn angreifenden Hunde zu vertheidigen. Er fraß nie unmäßig, war gutmüthig, erlaubte Schweinen, die Mahlzeit mit ihm zu theilen, litt aber niemals Hunde um sich. Immer hielt er sich reinlich und stank gar nicht, außer, wenn mehrere Hunde auf ihn losgingen, welche er wahrscheinlich durch die Entleerung seiner Stinkdrüsen zurückschrecken wollte. Gewöhnlich schlief er bei Tage und lief bei Nacht umher. Er lag lieber im Freien als in seinem Stalle und liebte überhaupt den Schatten und die Kälte. Als er ein halbes Jahr alt war, wurde er bissiger, blieb jedoch immer noch gegen Menschen zutraulich, und als er einmal in den Wald entflohen war, sprang er einer alten Magd auf den Schlitten und ließ sich von ihr nach Hause fahren. Mit zunehmendem Alter wurde er wilder, und einmal biß er sich derart mit einem großen Hunde herum, daß man letzterem zu Hülfe eilen mußte, weil man für sein Leben fürchtete. Auch im Alter spielte er immer noch mit den bekannten Leuten; hielten ihm jedoch Unbekannte einen Stock vor, so knirschte er mit den Zähnen und ergriff ihn wüthend mit den Klauen.
So lange ein gefangener Vielfraß jung ist, zeigt er sich höchst lustig, fast wie ein junger Bär. Wenn man ihn an einen Pfahl gebunden hat, läuft er in einem Halbkreise herum, schüttelt dabei den Kopf und stößt grunzende Töne aus. Vor dem Eintritte schlechter Witterung wird er launisch und mürrisch. Obgleich nicht eben schnell in seinen Bewegungen, ist er doch fortwährend in Thätigkeit, und bloß, wenn er schläft, liegt er still auf einer und derselben Stelle. Einen Baum, welchen man in seinem Käfige angebracht hat, besteigt er mit Leichtigkeit und scheint sich durch die merkwürdigsten Turnkünste, welche er auf den Aesten ausführt, besonders zu vergnügen. Zuweilen spielt er förmlich mit den Zweigen, indem er mit Leichtigkeit und ohne jede Furcht aus ziemlichen Höhen herunter auf die Erde springt und an den eisernen Stäben seines Käfigs oder an seinem Lieblingsbaume rasch wieder emporklettert; zuweilen rennt er in einem kurzen Galopp im Kreise innerhalb seines Käfigs umher, hält jedoch ab und zu inne, um zu sehen, ob ihm nicht einer von den Zuschauern ein Stückchen Kuchen oder sonst einen Leckerbissen durch das Gitter geworfen habe.
Das eigentliche Wesen des Vielfraßes zeigt sich aber doch erst, wenn er Gesellschaft seines Gleichen hat. Im Berliner Thiergarten leben gegenwärtig drei Stück des in unseren Käfigen so seltenen Thieres, und zwar ein altes und zwei noch nicht erwachsene, welche in früher Jugend ankamen. Etwas lustigeres und vergnügteres, als diese beiden Geschöpfe sind, kann man sich nicht denken. Nur äußert selten sieht man sie kurze Zeit der Ruhe pflegen; den größten Theil des Tages verbringen sie mit Spielen, welche ursprünglich durchaus nicht böse gemeint zu sein scheinen, bald aber ernster werden und gelegentlich in einen Zweikampf übergehen, bei welchem beide Recken Gebiß und Tatzen wechselsweise gebrauchen. Unter kaum wiederzugebendem Gekläff, Geknurr und Geheul rollen sie übereinander weg, so daß der eine bald auf dem Rücken, bald auf dem Bauche des anderen liegt, von diesem abgeschüttelt und nun seinerseits niedergeworfen wird, springen auf, [108] suchen sich mit den Zähnen zu packen, zerren sich an den Schwänzen und kollern von neuem ein gutes Stück über den Boden fort. Endet das Spiel und beziehentlich der Zweikampf, so trollen beide hintereinander her, durchmessen ihren Käfig nach allen Seiten, durchschnüffeln alle Winkel und Ecken, untersuchen jeden Gegenstand, welcher sich findet, werfen Futter- und Trinkgefäße über den Haufen, ärgern die rechtschaffenen Waschweiber, welche ihre Käfige zu reinigen haben, durch unstillbaren Forschungseifer nach Dingen und Gegenständen, welche sie unbedingt nichts angehen, erzürnen sich wiederum und beginnen das alte Spiel, achtsame Beobachter stundenlang fesselnd. Ganz anders benehmen sie sich angesichts des futterspendenden Wärters. Alle Ungeduld, welche ein hungriges Thier zu erkennen gibt, gelangt jetzt bei ihnen zum Ausdrucke. Der Name Vielfraß wurde mir, als ich sie zum ersten Male füttern sah, urplötzlich verständlich. Winselnd, heulend, knurrend, kläffend, zähnefletschend und sich gegenseitig mit Ohrfeigen und anderweitigen Freundschaftsbezeigung bedenkend, rennen sie wie toll und unsinnig im Käfige umher, gierig nach dem Fleische blickend, wälzen sich, wenn der Wärter dasselbe ihnen nicht augenblicklich reicht, gleichsam verzweifelnd auf dem Boden und fahren, sobald ihnen der Brocken zugeworfen wird, mit einer Gier auf diesen los, wie ich es noch bei keinem anderen Thiere, am wenigsten aber bei einem so sorgsam wie sie gepflegten und gefütterten, beobachtet habe. Der unstillbare Blutdurst der Marder scheint bei ihnen in Freßgier umgewandelt zu sein. Sie stürzen sich, alles andere vergessend, wie sinnlos auf das Fleischstück, packen es mit Gebiß und Klauen zugleich und kauen nun unter lebhaftem Schmatzen, Knurren und Fauchen so eifrig, schlingen und würgen so gierig, daß man nicht im Zweifel bleiben kann, die Fabelei der älteren Schriftsteller habe Ursprung und gewissermaßen auch Berechtigung in Beobachtung solcher gefangenen Vielfraße.
Nach Lomer gelangen jährlich höchstens 3500 Vielfraßfelle im Werthe von 32,000 Mark in den Handel, die meisten von Nordamerika her. Jedenfalls aber werden mehr Vielfraße alljährlich getödtet und ihrer Felle beraubt; denn nicht allein die Kamtschadalen, sondern auch die Jakuten und andere Völkerschaften Sibiriens schätzen letztere ungemein hoch und zahlen sie mit guten Preisen. Nach Radde bleiben alle Felle der in Ostsibirien erlegten Vielfraße im Lande und kosten schon an Ort und Stelle vier bis fünf Rubel das Stück. Die asiatischen Völkerschaften und ebenso die Polen benutzen sie zu schweren Pelzen, Amerikaner und Franzosen dagegen zu Fußdecken, für welche sie sich der verschiedenen Färbung und Haarlänge wegen vorzüglich eignen.
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