Rothkehlchenpieper (Anthus cervinus)

[250] Im hohen Norden Europas und Asiens, von Lappland an bis Kamschatka und zum Himalaya, und andererseits in Nordafrika vertritt den Wiesenpieper der ihm nah verwandte gleich große Rothkehlchenpieper (Anthus cervinus, rosaceus, rufogula ris, japonicus, ruficollis, rufosuperciliaris, montanellus, termophilus und Cecilii, Motacilla cervina), welcher sich von jenem dadurch unterscheidet, daß der Augenstreifen, die Kopf- und Halsseiten, Kinn, Kehle und Kropf schön einfarbig rostfleischröthlich, die dunklen Schaftflecke an Bauch und Schenkelseiten kleiner und die beiden Flügelquerbinden heller und deutlicher sind.

Man hat den Wiesenpieper in der ganzen Nordhälfte Europas sowie im größten Theile Nordasiens als Brutvogel gefunden und während des Winters in Südeuropa, Südwestasien und Nordafrika beobachtet. Bei uns erscheint er mit der Schneeschmelze, gewöhnlich schon zu Anfang des März, spätestens um die Mitte des April, und verweilt bis zum November, selbst bis zum December. Er wandert in großen Scharen, nicht selten mit den Feldlerchen, und reist ebensowohl bei Tage wie bei Nacht. Als halber Sumpfvogel bewohnt er in der Heimat wie in der Winterherberge wasserreiche Gegenden, am liebsten feuchte, sumpfige Oertlichkeiten; nur unterwegs sieht man ihn dann und wann auch auf trockenerem Gelände. Die Tundra erscheint in seinen Augen als Paradies.

Er ist äußerst lebhaft und während des ganzen Tages in Bewegung, läuft, soviel als möglich zwischen Gras und Ried versteckt, ungemein hurtig umher, erhebt sich gewandten Fluges in die Luft, stößt seinen Lockton aus und streicht nun rasch geradeaus, einem ähnlichen Orte zu, läßt sich aber selten auf Baumzweigen nieder und hält sich nie lange hier auf. Der Flug geschieht in kurzen Absätzen und erscheint dadurch zuckend oder hüpfend, auch anstrengend, obgleich dies nicht der Fall ist. Der Lockton, ein heiseres, feines »Ißt«, wird oft rasch nach einander ausgestoßen und klingt dann schwirrend; der Ausdruck der Zärtlichkeit lautet sanft wie »Dwitt« oder »Zeritt«. Der Gesang besteht aus verschiedenen zusammenhängenden Strophen: »Wittge wittge, wittge witt, zick zick, jück jück« und »Türrrrr«, miteinander verbunden, aber etwas verschieden betont, sind die Grundlaute. Das Männchen singt, wie alle Pieper, fast nur im Fluge, indem es vom Boden oder von der Spitze eines niederen Strauches, in schiefer Richtung flatternd sich aufschwingt, ziemlich hoch in die Luft steigt, hier einige Augenblicke schwebend oder rüttelnd verweilt und nun mit hoch gehaltenen Flügeln singend herabschwebt oder mit angezogenen Fittigen schnell herabfällt. Man vernimmt das Lied vom Morgen bis zum Abend und von der Mitte des April bis gegen den Juli hin fast ununterbrochen.

Gegen seinesgleichen zeigt sich der Wiesenpieper höchst gesellig und friedfertig; mit anderen neben ihm wohnenden Vögeln, Schafstelzen, Schilf- und Seggenrohrsängern, Rohrammern und dergleichen, neckt er sich gern herum. In der Brutzeit behauptet jedes Pärchen seinen Stand, und es kommt auch wohl zwischen zwei benachbarten Männchen zu Kampf und Streit; im ganzen aber liebt unser Vogel selbst um diese Zeit geselliges Zusammenleben. Das Nest steht zwischen Seggenschilf, Binsen oder Gras auf dem Boden, meist in einer kleinen Vertiefung, immer so versteckt, daß es schwer zu finden ist. Eine Menge dürrer Stengel, Würzelchen und Halme, zwischen welche zuweilen etwas grünes Erdmoos eingewebt wird, bilden die Außenwandungen; die tiefe, zierlich gebildete Mulde ist mit feinen Halmen und Pferdehaaren ausgelegt. Fünf bis sechs, achtzehn Millimeter lange, vierzehn Millimeter dicke Eier, welche auf graulichweißem oder schmutzigröthlichem Grunde überall dicht mit graubraunen oder gelbbraunen Punkten, Schmitzen oder Kritzeln bezeichnet sind, bilden das Gelege und werden in dreizehn Tagen gezeitigt. Die Jungen verlassen das Nest, noch ehe sie ordentlich fliegen können, verstehen es aber so meisterhaft, zwischen den niedern Pflanzen sich zu verstecken, daß sie doch vor den meisten Feinden gesichert sind. Bei Annäherung [250] eines solchen geberden sich die Alten sehr ängstlich und setzen sich rücksichtslos jeder Gefahr aus. Wenn alles gut geht, ist die erste Brut im Anfange des Mai, die zweite zu Ende des Juli flügge; doch findet man auch bis in den August hinein Junge, welche eben das Nest verlassen haben.

In einem großen Käfige hält sich der Wiesenpieper recht gut, wird sehr zahm und singt ziemlich eifrig. Im Zimmer darf man ihn nicht umherlaufen lassen, weil sich bald Haare, Fäden oder Schmutz an seine Füße hängen und diesen gefährliche Krankheiten zuziehen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 250-251.
Lizenz:
Kategorien: