[486] Der bekannteste unter unseren deutschen Würgern ist der Dorndreher oder Neuntödter, Neunmörder, Dorntreter, Dorndrechsler, Dornheher, Dorngreuel, Todtengreuel, Dornreich, Dickkopf, Quarkringel, Warkvogel, Spießer, Mill- und Singwürger usw. (Lanius collurio, spinitorquus, colluris und dumetorum, Enneoctonus collurio, Bild S. 481). Kopf, Hinterhals, Bürzel und Schwanzdecken sind hell aschgrau, die übrigen Obertheile schön braunroth, ein schmaler Stirnrand und ein oben und unten weiß begrenzter Zügelstreifen schwarz, Backen, Kinn, Kehle und die unteren Schwanzdecken weiß, die übrigen Untertheile blaß rosenroth, die Hand- und Armschwingen bräunlich grauschwarz, schmal hellbraun gekantet, die Oberarmschwingen fast ganz rostbraun; an der Wurzel jeder Armschwinge steht ein kleines, lichtes Fleckchen, welches, wenn der Flügel ausgebreitet ist, eine sichtbare Binde bildet; die Mittelfedern des Schwanzes sind braunschwarz, die folgenden an der Wurzel, die äußersten bis zu Dreiviertel weiß und nur an der Spitze schwarz. Das Auge ist braun, der Schnabel schwarz, der Fuß grauschwarz. Das Weibchen ist oben rostgrau, auf der Unterseite auf weißlichem Grunde braun gewellt. Die Jungen ähneln ihm, zeigen aber [486] auch auf der Oberseite lichte Fleckenzeichnung. Die Länge beträgt achtzehn, die Breite achtundzwanzig, die Fittiglänge neun, die Schwanzlänge sieben Centimeter.
Unter allen deutschen Würgern ist der Dorndreher der verbreitetste. Er bewohnt fast ganz Europa von Finnland und Rußland an bis Südfrankreich und Griechenland und ebenso das gemäßigte Sibirien. In Spanien gehört er zu den Seltenheiten; doch soll er hier in den nordwestlichen Provinzen als Brutvogel gefunden werden; in Griechenland brütet er nur in den höheren Gebirgen. Gelegentlich seiner Winterreise durchstreift er ganz Afrika, ist während unserer Wintermonate in allen Waldungen des Inneren wie der Küstenländer Südafrikas und selbst der dem Festlande benachbarten Inseln eine sehr häufige Erscheinung, wartet dort bei sehr reichlichem Futter seine Mauser ab, welche in die Monate December und Januar fällt, und kehrt sodann allmählich heimwärts. Bei uns zu Lande erscheint er selten vor dem Anfange des Mai und verweilt in der Regel nur bis um die Mitte des August.
Gebüsche aller Art, welche an Wiesen und Weideplätze grenzen, Gärten und Baumpflanzungen sind seine Aufenthaltsorte. Dichte Hecken scheinen ihm unumgänglich nothwendiges Erfordernis zum Wohlbefinden zu sein. Rottet man solche Hecken aus, so verläßt dieser Würger, selbst wenn er früher häufig war, die Gegend. Aber er ist genügsam; denn schon ein einziger dichter Busch im Felde befriedigt ihn vollständig. Er baut dann viele Jahre nach einander sein Nest immer an eine und dieselbe Stelle und behauptet den einmal gewählten Wohnplatz mit Hartnäckigkeit gegen jeden anderen Vogel, namentlich gegen ein zweites Paar seiner Art. Da er nun außerdem den Verhältnissen sich anbequemt, nöthigenfalls in die Obstgärten der Ortschaften wie in das Innere des Waldes übersiedelt, nimmt er von Jahr zu Jahr an Menge zu und zählt schon jetzt, sehr zu Ungunsten der kleinen Sänger, zu den gemeinsten Vögeln vieler Gegenden unseres Vaterlandes.
Auch der Dorndreher ist ein dreister, muthiger, munterer, unruhiger Vogel. Selbst wenn er sitzt, dreht er den Kopf beständig nach allen Seiten und wippt dabei mit dem Schwanze auf und nieder. Die höchsten Spitzen der Büsche und Bäume bilden für ihn Warten, von denen aus er sein Jagdgebiet überschaut, und zu denen er nach jedem Ausfluge zurückkehrt. Aufgejagt stürzt er sich von der Höhe bis gegen den Boden herab, streicht tief über denselben dahin und schwingt sich erst dann wieder empor, wenn er von neuem sich setzen will. Auch er fliegt ungern weit in einem Zuge, ruht vielmehr auf jedem geeigneten Sitzplatze ein wenig aus und setzt erst hierauf seinen Weg fort. Die Lockstimme ist ein ziemlich deutlich hervorgestoßenes »Gäck gäck gäck« oder ein schwer zu beschreibendes »Seh« oder »Grä«. Beide Laute werden verschieden betont und drücken bald freudige, bald ängstliche Gefühle aus. Aehnliche Töne dienen zur Warnung der unerfahrenen Jungen. Von einzelnen Männchen vernimmt man kaum andere Laute, während andere zu den ausgezeichnetsten Sängern zählen. Auch der Dorndreher besitzt eine wahrhaft überraschende Fähigkeit, anderer Vögel Stimmen nachzuahmen. »Ich habe einmal«, sagt mein Vater, »diesen Vogel wundervoll singen hören. Ein Männchen, welches kein Weibchen bei sich hatte, saß auf der Spitze eines Busches und sang lange Zeit ziemlich laut und äußerst angenehm. Es trug Strophen von der Feld-und Baumlerche, von der Grasmücke und anderen Sängern vor. Die Töne der drei erstgenannten Arten kehrten oft wieder und waren so voll und untereinander gemischt, daß sie äußerst lieblich klangen.« Je älter ein Männchen wird, um so mehr steigert sich seine Begabung. »Wenn ein Sänger«, berichtet Graf Gourcy meinem Vater, »den Namen Spottvogel verdient, so ist es unbestreitbar dieser. Nach meiner Meinung hat er, außer einigen rauhen Strophen, keinen eigenen Gesang, und deswegen singen auch die aufgezogenen, wenn sie nicht unter anderen gut singenden Vögeln aufwachsen, ziemlich schlecht. Die Wildfänge werden nicht leicht zahm; sind sie es aber einmal und an einem Standorte gefangen, wo sie von lauter gut singenden Vögeln umgeben waren, dann kann man keinen angenehmeren Sänger in der Stube besitzen als diesen Würger; denn mit immer erneuerter Lust hört man ihn seine vielfach abwechselnden, zum Täuschen ähnlichen Gesänge vortragen. Nur schade, daß beinahe ein jeder seinen schönen Liedern einige schlechte Töne beimischt! [487] Besonders ist es der Unkenruf, den sich fast alle zu eigen machen. Der, welchen ich jetzt besitze, ist ein vorzüglicher Vogel, welcher auf eine täuschende und entzückend schöne Art die Gesänge der Nachtigall, der Feldlerche, Rauchschwalbe, Sperbergrasmücke, des Mönchs, Goldammers, den Ruf der Amsel und des Rebhuhnes nachahmt und auf eine so feine Art ineinander verschmilzt, daß man durchaus keinen Uebergang bemerkt. Außerdem bellt er noch wie ein Hund. Er sang zuweilen noch im September und begann schon am sechzehnten November wieder.«
Leider macht sich dieser so muntere und singfähige Vogel in anderer Hinsicht im höchsten Grade unbeliebt. Er ist einer der abscheulichsten Feinde der kleinen Singvögel. Kerbthiere bilden allerdings seine Hauptnahrung, und namentlich Käfer, Heuschrecken, Schmetterlinge, auch wohl Raupen werden eifrig von ihm verfolgt und selbst dann noch getödtet, wenn er bereits gesättigt ist; er stellt jedoch auch allen kleinen Wirbelthieren nach, welche er irgendwie bezwingen kann, fängt Mäuse, Vögel, Eidechsen und Frösche, haust namentlich unter der gefiederten Sängerschaft unserer Gärten und Gebüsche in verderblichster Weise. Da, wo ein Dorndreherpaar sich ansässig gemacht hat, verschwinden nach und nach alle kleinen Grasmücken, Laub- und Gartensänger, ja sogar die Höhlenbrüter. Sie verlassen infolge der ewigen Bedrohung die Gegend oder werden von dem Dorndreher ergriffen und aufgefressen. Die Nester weiß er sehr geschickt auszuspüren, und hat er eins gefunden, so holt er sich gewiß ein Junges nach dem anderen weg. Naumann hat beobachtet, daß er junge Dorngrasmücken, gelbe Bachstelzen, Krautvögelchen und Spießlerchen erwürgte und fortschleppte, daß er die in Sprenkeln gefangenen Vögel anging, daß er Finken aus den Gebauern herauszuziehen versuchte. Andere Beobachter erfuhren dasselbe. »Ich habe«, sagt Lenz, »schon einige Male folgende Versuche gemacht: 1) In einem großen, mit starkem Dornzaune umgebenen Garten schoß ich in einigen Jahren jeden Würger, sowie er sich ansiedelte, todt. So konnten die nützlichen Vögelchen ruhig in den von mir angeschlagenen Kästchen und in selbstgebauten Nestern brüten, wurden über das Ungeziefer ganz Herr, und ich bekam Massen trefflichen Obstes. 2) In einem ebenso beschaffenen Garten ließ ich die Würger nach ihrem Belieben hausen. Dabei verließen aber alle anderen Vögelchen den Garten, selbst diejenigen, welche daselbst in den Brutkästchen zu nisten pflegten; meine Bäume wurden von den Raupen erbärmlich kahl gefressen, und ich bekam gar kein Obst. 3) In dem noch größeren Garten eines meiner Nachbarn hegte ich die Würger in einer Ecke, welche ein großes Dorngebüsche bildete. Dagegen zerstörte ich jedes andere Würgernest in diesem Garten, sowie es gebaut war, erschoß auch die Alten. So zeigte sichs denn bald, daß rings um die bewußte Ecke alle Obstbäume entblättert wurden und keine Frucht trugen, während sie an anderen Stellen gut gediehen.«
Mehr noch als andere Arten seiner Familie hat der Dorndreher die Gewohnheit, alle gefangene Beute vor dem Verzehren erst auf einen Dorn oder sonstigen spitzigen Zweig zu spießen. »Er sammelt«, sagt Naumann, »sogar hier, wenn er gerade gesättigt ist, ganze Mahlzeiten und verzehrt diese Vorräthe, sobald ihn der Hunger wieder angreift, mit einem Male. So findet man bei schönem Wetter fast nur Käfer, Kerbthiere und kleine Frösche, bei kalter, stürmischer Witterung hingegen oft ganze Gehecke junger Vögel an die Dornen gespießt, und ich habe manchmal darunter sogar schon flügge ausgeflogene Grasmücken und Schwalben gefunden. Das Gehirn der Vögel scheint einer seiner Leckerbissen zu sein; denn den meisten Vögeln, welche ich aufgespießt fand, hatte er zuerst nur das Gehirn aus den Schädeln geholt. Stört man ihn bei seiner Mahlzeit, so läßt er alles stecken und verdorren. Die kleinen Frösche, welche man sehr oft darunter findet, sind auf eine sonderbare Weise allemal ins Maul gespießt.«
Ungestört brütet das Dorndreherpaar nur einmal im Jahre. Das Nest steht immer in einem dichten Busche, am liebsten in Dornsträuchen und zwar niedrig über dem Boden. Es ist groß, dicht, dick und gut gebaut, äußerlich aus starken Grasstöcken und Grashalmen, Quecken, Moos und dergleichen zusammengesetzt, nach innen zu mit feineren Stoffen derselben Art, welche sorgfältig zusammengelegt und durcheinander geflochten werden, ausgebaut und in der Mulde mit zarten [488] Grashalmen und feinen Wurzeln ausgefüttert. Das Gelege enthält fünf bis sechs Eier von verschiedener Größe und Färbung. Sie sind entweder länglich oder etwas bauchig oder selbst rundlich, durchschnittlich einundzwanzig Millimeter lang, funfzehn Millimeter dick und auf gelblichem, grünlich graugelbem, blaßgelbem und fleischrothgelbem Grunde spärlicher oder dichter mit aschgrauen, ölbraunen, blutrothen und rothbraunen Flecken gezeichnet. Das Weibchen brütet allein und sitzt so fest auf den Eiern, daß man ihm Leimruthen auf den Rücken legen und es so fangen kann. Die Jungen werden von beiden Alten groß gefüttert, außerordentlich geliebt und muthig vertheidigt.
In der Gefangenschaft hält der Dorndreher nur bei guter Pflege mehrere Jahre aus. Mit anderen Vögeln verträgt sich dieser Mörder ebensowenig wie irgend ein anderes Mitglied seiner Familie, überfällt im Gesellschaftsbauer selbst Vögel, welche noch einmal so groß sind als er, quält nach und nach Drosseln und Staare zu Tode, obgleich diese sich nach besten Kräften zu wehren versuchen. Naumanns Vater hielt zuweilen mehrere Dorndreher in einem kleinem Gartenhäuschen, in welchem er einen kleinen Galgen, das heißt ein mit spitzigen Nadeln und Nägeln bespicktes Querholz angebracht hatte. Sperlinge und andere kleine Vögel, welche der genannte den Würgern gesellte, wurden von diesen sehr bald gefangen, dann immer auf die Nägel gesteckt und entfleischt. Schließlich hing der ganze Galgen voller Gerippe.
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