Strandreiter (Himantopus candidus)

[318] In allen Ländern um das Mittelmeer, besonders häufig in Nordafrika, ebenso auch in Südasien, lebt der merkwürdigste aller Wasserläufer, der Strandreiter, Stelzenläufer, Riemenfuß, oder die Storchschnepfe (Himantopus candidus, vulgaris, rufipes, albicollis, nigricollis, [318] longipes, brevipes, atropterus, melanopterus, asiaticus, europaeus, intermedius, minor, melanocephalus und autumnalis, Hypsibates himantopus), Vertreter einer gleichnamigen, artenarmen Sippe (Himantopus) und, mit der Sippschaft des verwandten Säbelschnäblers, der Unterfamilie der Stelzenläufer (Recurvirostrinae), deren Merkmale in dem langen, schwachen Schnabel und den unverhältnismäßig hohen Beinen liegen. Sein Schnabel ist lang und schwach, nach der Spitze zu verdünnt, gerade, auf der Firste abgerundet, an der Spitze abwärts gebogen, nur an der Wurzel weich, der dreizehige Fuß außerordentlich lang, schwach und hoch über die Ferse hinauf unbefiedert, die äußere Zehe mit der mittleren durch eine kurze Spannhaut verbunden, jede Zehe mit einem kleinen, schmalen, spitzigen Nagel bewehrt, der Flügel sehr lang und schmal, in ihm die erste Schwinge bedeutend über die anderen verlängert, der Afterflügel kurz, der zwölffederige Schwanz mittellang, im Verhältnisse zu den Flügeln aber doch kurz erscheinend, das Kleingefieder dicht, auf der Unterseite fast pelzig, im Hochzeitskleide zweifarbig, nach Jahreszeit und Alter merklich verschieden. Im Frühlingskleide sind der Hinterkopf, ein schmaler Streifen auf dem Hinterhalse und der Mantel schwarz, letzterer grünlich glänzend, der Schwanz aschgrau, alle übrigen Theile weiß, auf der Vorderseite zart rosenroth überflogen. Beim Weibchen ist die Färbung minder lebhaft, das Weiß weniger blendend, das Schwarz glanzloser, die dunkle Färbung des Hinterkopfes ausgebreiteter, aber matter als beim Männchen. Im Winterkleide fehlt die schwarze Kopf- und Nackenfärbung, welche höchstens durch Grau angedeutet wird. Bei jungen Vögeln ist die Unterseite graulichweiß, der Hinterhals grau und weiß gewellt und das Gefieder der Schulter ebenfalls mehr oder weniger grau. Das Auge ist prachtvoll karminroth, der Schnabel schwarz, der Fuß blaß karmin-oder rosenroth. Die Länge beträgt achtunddreißig, die Breite siebzig, die Fittiglänge dreiundzwanzig, die Schwanzlänge acht Centimeter.

Der Strandreiter bewohnt Süd- und Südosteuropa, Mittelasien und Nordafrika, zählt jedoch mit Recht zu den deutschen Vögeln, da er nicht nur wiederholt in unserem Vaterlande vorgekommen ist, sondern auch hier gebrütet hat. In namhafter Anzahl tritt er zunächst in Ungarn auf; nächstdem bewohnt er viele, je doch bei weitem nicht alle geeigneten Gewässer der drei südlichen Halbinseln Europas, Südrußland, von der sibirischen Grenze an südlich, ganz Mittelasien und Indien. Hier wie in Persien, Egypten und Nordwestafrika, auch schon auf Sardinien, lebt er jahraus jahrein; in den nördlicher gelegenen Ländern seines Brutgebietes erscheint er zu Ende des April oder im Anfange des Mai und verweilt höchstens bis zu Ende des September im Lande. Auf seinem Zuge durchwandert er ganz Afrika bis zum Vorgebirge der Guten Hoffnung und Asien bis zur Insel Luzon. Die wenigen Paare, welche in Deutschland nisteten, hatten große, ausgedehnte und abgelegene Brüche zu ihren Wohnsitzen ausersehen und trieben hier so still ihr Wesen, daß man sie nur zufällig bemerkte; in Egypten hingegen lebt derselbe Vogel in unmittelbarer Nähe der Dörfer oder in diesen selbst, und wenn sich hier, wie gewöhnlich, ein für die Büffel bestimmtes Bad befindet, darf man mit Sicherheit darauf rechnen, einen Trupp Strandreiter in dieser Lache umherlaufen zu sehen, hat also Gelegenheit, die sonst vorsichtigen Vögel in größter Nähe zu betrachten, da sie den Menschen ohne Bedenken bis auf wenige Schritte an sich herankommen lassen. Es überraschte mich, wahrzunehmen, daß diejenigen Stelzenläufer, welche ich im Inneren Afrikas antraf, ungewöhnlich scheu waren, da ich dies nicht einmal an denen beobachtet hatte, wel che im Winter in Egypten einwandern, die Seen beziehen, sich hier oft in Scharen von zwei- bis dreihundert Stück zusammenschlagen und bis zum nächsten Frühjahre verbleiben.

Der Strandreiter liebt salzige Gewässer, ohne sich jedoch an sie zu binden. Einen Seevogel kann man ihn nicht nennen. Allerdings kommt auch er zuweilen an der Meeresküste vor und treibt sich dann unter Wasserläufern und Säbelschnäblern umher; gewöhnlich aber trifft man ihn in den erwähnten kleinen Teichen oder Lachen und während der Brutzeit in den größeren Brüchen an, deren Wasser süß oder höchstens brackig ist. An Geselligkeit scheint er alle übrigen Wasserläufer zu übertreffen; paarweise sieht man ihn bloß während der Fortpflanzungszeit, im Laufe des [319] übrigen Jahres stets in Gesellschaft von mindestens sechs bis zwölf Stück, und im Winter in den zahlreichen Scharen wie angegeben. Einzelne habe ich nur im Sudân gesehen, dann aber immer unter anderem Strand- und Wassergeflügel. Die kleineren Gesellschaften scheinen sich wenig um Verwandte zu kümmern; die großen Züge hingegen treiben sich oft unter solchen und insbesondere unter den Säbelschnäblern umher: es mag jedoch sein, daß bei beiden Vögeln in gleicher Weise ergiebige Oertlichkeiten mehr zu diesen Vereinigungen beitragen, als der Hang zur Geselligkeit. Am Rande der Gewässer sieht man ihn selten, regelmäßig vielmehr in einer gewissen Tiefe des Wassers und hier entweder umherwadend oder auch, und keineswegs selten, schwimmend. Seine Stellung ist die eines Wasserläufers, der Gang durchaus nicht wackelnd und ungeschickt, wie man annehmen möchte, sondern ein leichtes, zierliches, gemessenes Schreiten, welches der großen Schritte halber immerhin fördert, der Flug ungemein leicht und schön, gewandt und anmuthig. Beim Auffliegen schlägt er die Schwingen schnell zusammen; wenn er aber erst eine gewisse Höhe erreicht hat, fliegt er langsamer und gemächlicher dahin; vor dem Niedersetzen beschreibt er schwebend einen oder mehrere Bogen. Die langen Beine werden im Fluge gerade nach hinten ausgestreckt und verleihen der Gestalt des fliegenden Strandreiters etwas so bezeichnendes, daß man ihn nie verkennen kann. Die Stimme erinnert an die anderer Wasserläufer, ohne ihr jedoch zu gleichen: Baldamus hat sie sehr treffend durch die Silben »Huitt, huett, huitt, huett, huitt, huitt, witt, witt, wett, wett« wiedergegeben. Während der Paarungszeit vernimmt man sie besonders oft, aber regelmäßig nur im Fluge oder höchstens unmittelbar vor dem Aufstehen.

Längere Beobachtung des Strandreiters lehrt, daß er zu den klügsten Sumpfvögeln gehört. Sein Vertrauen dem Egypter gegenüber ist vollkommen begründet; denn kein Araber wird den ihm wohlbekannten Vogel verfolgen oder stören; ein einziger Schuß aber macht ihn sofort vorsichtig und längere Verfolgung sehr scheu. Ich habe mir oft viel Mühe geben müssen, um die Gatten eines Paares zu erlegen, wenn es mir anfangs nicht gelungen war, beide mit einem Schusse zu tödten. Der Verlust des treugeliebten Gatten erregt beim überlebenden die größte Betrübnis; aber nur selten kehrt dieser nach dem Auffliegen wieder zu dem getödteten zurück und umkreist ihn ein- oder mehreremal, wie so viele andere Vögel zu thun pflegen. Die Scheu der wenigen Stelzenläufer, welche ich im Sudân beobachtete, erkläre ich mir einfach dadurch, daß ihnen der Weiße augenblicklich auffiel.

Kerbthiere scheinen die ausschließliche Nahrung des Strandreiters zu bilden. Man sieht ihn beständig mit dem Fange derselben beschäftigt, und zwar indem er sie von der Oberfläche des Wassers aufliest, gründelnd in dem Schlamme sucht oder aus der Luft wegfängt. Soviel ich beobachten konnte, waren es hauptsächlich Fliegen, Mücken und Käfer, denen er nachstellt.

Das Nest habe ich leider nicht selbst gesehen, wohl aber Eier erhalten. In Egypten brütet der Vogel in den Monaten April und Mai, in den nördlichen Ländern einige Tage, in Indien viel später, am liebsten gesellig, erbaut das Nest im Riedgrase in einer natürlichen Vertiefung, welche eben über dem Spiegel des umgebenden Wassers liegt, trägt auch wohl kleine Steinchen zusammen, um die Wände aufzuschichten, und kleidet sodann die Mulde spärlich mit einigen Halmen aus. Die Eier haben ungefähr die Gestalt derer unseres Kiebitzes, auch ziemlich die gleiche Größe, etwa fünfundvierzig Millimeter Längs-, dreißig Millimeter Querdurchmesser, aber eine viel zartere Schale. Ihre Grundfärbung ist ein dunkles Ockergelb, Olivengrün oder Oelgelb; die Zeichnung besteht in wenigen aschgrauen Schalenflecken und vielen roth- und schwarzbraunen, rundlichen und länglichen, größeren oder kleineren, am dicken Ende dichter stehenden Flecken von unregelmäßiger Gestalt. Das Weibchen brütet eifrig, und beide Eltern schreien kläglich, wenn sich jemand dem Neste nähert. Sofort nach dem Auskriechen verlassen die Jungen das Nest: einige Wochen später sind sie ausgefiedert.

Die Ungarn stellen der »Storchschnepfe«, wie sie unseren Strandreiter nennen, nach, obgleich das Fleisch nicht besonders schmackhaft genannt werden kann und, nach meinen Beobachtungen, eigentlich nur im Winter genießbar ist. Gefangene habe ich niemals gesehen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 318-320.
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