Keilschwanzadler (Aquila audax)

[637] Der Keilschwanzadler (Aquila audax, fucosa, albirostris und cuneicauda, Vultur und Uroaëtus audax Falco fucosus) ist 98 bis 100 Centimeter lang und etwa 2,3 Meter breit. Kopf, die Gurgelgegend, die Ober- und Unterseite sind schwärzlichbraun, fast alle Federn, namentlich die des Flügels und der Oberschwanzdecke, an den Rändern und an der Spitze blaßbraun, Rücken und Halsseiten rostfarbig. Die Iris ist nußbraun, die Wachshaut und ein nackter Streifen um das Auge sind gelblichweiß, der Schnabel an der Wurzel ist gelblichhornfarben, an der Spitze gelb, der Fuß hellgelb.

Bisher hat man nur diese eine Art der Keilschwanzadler gekannt; es scheint jedoch, als ob Australien deren mindestens zwei beherberge, eine, welche gedrungener gebaut und dunkler gefärbt ist als die andere, welche sich durch Schlankheit und lichte Färbung auszeichnet. Nach den Beobachtungen des »alten Buschmann« ist die dunkle Art oder Abart seltener als die andere, jedoch ebenso weit verbreitet.

Beide Arten, Ab- oder Spielarten bewohnen ganz Australien und sind nirgends selten. Man findet sie ebensowohl im tiefen Walde, wie in den Ebenen, paarweise und in Gesellschaften. Am häufigsten sind sie in den Kängurugründen: hier konnte der »alte Buschmann« im Laufe eines Winters über ein Dutzend Stück erlegen. »Alles, was die Schriftsteller von dem Muthe, der Kraft und der Raubsucht des Steinadlers erzählen«, sagt Gould, »paßt auch auf den Keilschwanzadler. Er raubt alle kleinen Arten von Kängurus, welche er auf den Ebenen und offenen Hügeln vorfindet bewältigt den edlen Trappen und ist der größte Feind der Schafherden, welche schreckliche Niederlagen von ihnen erleiden.« Die großen Kängurus vermag er nicht zu bewältigen, wohl aber deren Jungen; er weiß sich sogar solcher zu bemächtigen, welche noch im Beutel der Mutter sich befinden. »Einst« erzählt der »alte Buschmann«, »beobachtete ich einen Keilschwanzadler, wie er ein Mutterkänguru mit dem Jungen im Beutel durch den Wald jagte. Der schlaue Vogel verfolgte sein Wild auf Schritt und Tritt. Er wagte es nicht, das Mutterthier anzugreifen, wußte aber sehr wohl, daß, sobald es erschöpft, sein Junges von sich werfen und ihm zur Beute überliefern würde.«

Auf das Aas fällt der Keilschwanzadler mit der Gier der in Australien fehlenden Geier. Gould sah ihrer dreißig bis vierzig auf dem Leichname eines großen Ochsen versammelt. Einige bereits vollgefressene saßen auf den benachbarten Bäumen; die übrigen feierten noch ihr Mahl. Kängurujägern folgt der Keilschwanzadler meilenweit und tagelang nach, nachdem er in Erfahrung gebracht, daß bei ihren Jagden für ihn immer etwas abfällt. Er ist der Schrecken des Waldes wie der Ebene, in den Augen der Viehzüchter eine entsetzliche Landplage.

[637] Der Horst wird auf den unzugänglichsten Bäumen angelegt, nicht immer hoch über dem Boden, aber regelmäßig so, daß er fast unersteiglich ist. Seine Größe schwankt beträchtlich; denn ein Paar benutzt den alten Horst wiederholt und vergrößert ihn durch jährliche Ausbesserungen. Die Unterlage besteht aus starken Aststücken, der Mittelbau aus schwächeren; die Nestmulde ist mit feinen Zweigen und Gras belegt. Nach Ramsay fällt die Brutzeit in unsere letzten Sommermonate; man findet gewöhnlich im August die zwei runden, rauhschaligen Eier, welche acht Centimeter lang und an der dicksten Stelle sechs Centimeter breit und auf weißem Grunde mehr oder minder mit roströthlichen, hell gelblichbraunen und röthlichblauen Punkten und Flecken bedeckt sind. In manchen Waldungen sieht man viele unbewohnte Horste als zurückgebliebene Wahrzeichen aus jenen Tagen, in welchen diese Wälder der Fuß des weißen Mannes noch nicht betreten hatte.

Der Keilschwanzadler ist namentlich bei dem Aase leicht zu erlegen und noch leichter in Fallen aller Art zu fangen, wird auch von den Eingeborenen oft jung aus dem Neste gehoben, in den Küstenstädten aufgezogen und dann nach Europa gesendet. In unseren Thiergärten ist er eine nicht ungewöhnliche Erscheinung. Sein Preis ist so gering, daß man wirklich nicht recht begreift, wie es möglich war, mit der Summe, welche der Adler kostet, das Futter zu bestreiten, welches er auf der Herreise gebrauchte. Der Vogel trägt die Gefangenschaft in unserem Lande ohne alle Beschwerde. Von einem Paare berichtet Gurney, daß das Weibchen nicht nur im Käfige Eier gelegt, sondern dieselben auch bebrütet habe.


*


Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Vierter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Erster Band: Papageien, Leichtschnäbler, Schwirrvögel, Spechte und Raubvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 637-638.
Lizenz:
Kategorien: