Geierfalken (Polyborinae)

[729] In der letzten Unterfamilie vereinigen wir die Geierfalken (Polyborinae), Raubvögel mit verhältnismäßig langem, an der Wurzel geradem, an der Spitze schwach gebogenem, zahnlosem und kurzhakigem Schnabel, hoch- und dünnläufigen Füßen, deren mittellange und schwachen Fänge mit wenig gebogenen, an der Spitze aber schlank zugespitzten Nägeln bewehrt werden, kurzen Flügeln, langem und breitem Schwanze und hartem Gefieder, welches die Zügel, ausnahmsweise auch Kehle und Vorderstirn, frei läßt, und am Hinterkopfe sich zuspitzt.

Ueber Heimat, Aufenthalt, Lebensweise und Betragen dieser merkwürdigen Vögel liegen zahlreiche und ausführliche Beobachtungen vor. Wir verdanken namentlich dem Prinzen von Wied, d'Orbigny, Darwin, Schomburgk, Tschudi, Audubon und Burmeister eingehendere Schilderungen der Geierfalken, »welche«, wie Darwin sagt, »durch ihre Anzahl, geringe Scheu und widrige Lebensweise jedem auffallen müssen, der bloß an die Vögel des nördlichen Europa gewöhnt ist.« Sie ersetzen nicht allein die Geier, sondern auch die Raben, Krähen und Elstern. Wo man aber auch seinen Fuß hinsetzen mag in Südamerika, vom Meeresgestade an bis zu den Hochbergen der Andes hinauf, überall wird man ihnen begegnen. »Die Geierfalken«, sagt d'Orbigny, »sind die aufdringlichsten Schmarotzer des Menschen in den verschiedenen Stufen seiner Gesittung. Treue Gefährten des wilden Wanderers begleiten sie ihn von einem Saume des Waldes zu dem anderen, längs der Ufer der Flüsse oder durch die Ebene dahin und nehmen ihren zufälligen Aufenthalt da, wo jener sich niederläßt. Wo man auch einige Zeit verweilen mag, wo man eine Hütte aufschlägt, [729] erscheint der Geierfalk, um auf ihr sich niederzulassen, gleichsam als wolle er zuerst Besitz nehmen, bereit, die weggeworfenen Nahrungsreste des vereinsamten Ansiedlers aufzuheben. Wenn der Mensch einen Weiler gründet, folgt ihm der Geierfalk auch dahin, nimmt in der Nachbarschaft seinen Stand und streift nun ohne Unterlaß zwischen den Häusern umher, welche ihm reichliche und leicht zu gewinnende Nahrung versprechen. Wenn endlich der Mensch sich anschickt, Ländereien urbar zu machen und sich mit einer großen Zahl von Hausthieren umgibt, scheint sich die nie ermattende Beschäftigung des Geierfalken noch zu vermehren. Sein Leben wird jetzt gesichert; denn er fürchtet sich nicht, selbst inmitten der Ortschaften sein Wesen zu treiben und hier aus der Nachlässigkeit der Bewohner Vortheil zu ziehen, sei es, indem er ein junges Hühnchen erhebt, oder sei es, indem er von den zum Trocknen aufgehängten Fleischstücken eines oder das andere wegstiehlt. Wie der Geier, muß auch er der Fahrlässigkeit der Dörfer-und Städtebewohner abhelfen, indem er die Thierleichen und den Unflat verschlingt.« Zwei Arten der Familie finden sich stets vor den Thüren der Wohnungen in der Tiefe oder nahe der Wälder, andere umschwärmen in derselben Absicht das Haus im Gebirge, wieder andere bewohnen die ausgedehnten Waldungen, und einige endlich finden sich längs der Seeküste; denn sie fressen alles genießbare, welches das Thierreich ihnen bietet, sogar Früchte des Waldes.

Das Flugbild macht die Geierfalken von weitem kenntlich; denn ihr Flügel sieht viereckig zugestutzt aus, weil die ausgebreiteten Schwingen an Länge gleich zu sein scheinen. Der Flug selbst kann schnell sein, ist aber meist langsam und führt niedrig über dem Boden dahin; der Gang geschieht ohne Beschwerde, würdevoll und mit gemessenen Schritten. Eine Art ist so sehr auf dem Boden zu Hause, daß sie niemals Bäume, sondern immer Felsblöcke zu ihren Ruheplätzen erwählt. Unter den Sinnen steht das Auge obenan; das Gehör ist gut entwickelt; aber auch der Geruch scheint wohl ausgebildet zu sein. Ihr geistiges Wesen ist ein Gemisch von Harmlosigkeit und Frechheit, Geselligkeit und Unverträglichkeit. Verstand kann man ihnen keineswegs absprechen; liebenswürdig aber sind sie nicht. Besonders unangenehm ist auch ihr oft wiederholter, durchdringender Schrei, welcher unter lebhaften Bewegungen des Kopfes ausgestoßen und namentlich dann vernommen wird, wenn sie etwas genießbares erspäht haben.

Der Horst wird oft auf dem Boden oder auf Bäumen angelegt. Die zwei bis sechs Eier sind rundlich und fleckig, nach Art anderer Falkeneier. Beide Eltern scheinen zu brüten.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Vierter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Erster Band: Papageien, Leichtschnäbler, Schwirrvögel, Spechte und Raubvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 729-730.
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