Nacktfußbartgeier (Gypaëtus nudipes)

[8] Nun will man gefunden haben, daß die sardinischen, spanischen und südafrikanischen Geieradler dunkler, die auf den Pyrenäen und dem Altai lebenden aber lichter gefärbt seien, als der, welcher die [8] Schweizer Alpen bewohnt; Meves hat auch entdeckt, daß sich die Rostgoldfärbung des Gefieders durch Waschen ausreiben und durch chemische Mittel ausbleichen läßt. Einzelne Forscher sind deshalb geneigt, anzunehmen, daß die Färbung dem Vogel ursprünglich nicht eigen, sondern nur eine Folge sei von wiederholtem Baden in eisenhaltigen Gewässern; sie haben sogar versucht, darauf hin die Artverschiedenheit der Geieradler in Frage zu stellen oder geradezu zu leugnen, und kühn behauptet, daß das dunklere oder hellere Gefieder einfach darauf hin zurückzuführen sei, ob sich ein Geieradler bade oder nicht. Aus letztere Annahme ist jedoch schon aus dem Grunde kein Gewicht zu legen, weil bekanntermaßen auf allen Hochgebirgen eisenhaltiges Gewässer so häufig ist, daß es keinem Geieradler an der Gelegenheit mangeln dürfte, für sein reiches Gefieder die schöne Goldfarbe zu erwerben. Mit der Chemie kommen wir in diesem Falle nicht weiter, um so weniger, als die in Meves' Auftrage ausgeführten Untersuchungen noch viel zu mangelhaft sind, als daß sie zur Entscheidung der Haupt frage etwas beitragen könnten. Es wird daher kein Fehler sein, wenn wir einstweilen noch mehrere, mindestens zwei Geieradlerarten annehmen, und festhalten, daß sich der Nacktfußbartgeier (Gypaëtus nudipes oder meridionalis) ständig von dem der Alpen unterscheidet. Auf letzteren wird sich der größte Theil der nachfolgenden Mittheilungen beziehen.

Der Bartgeier ist weit verbreitet. In Europa bewohnt er die Schweizer Alpen und die Hochgebirge Siebenbürgens, einzeln auch den Balkan und die Pyrenäen sowie alle höheren Gebirge der drei südlichen Halbinseln und endlich den Kaukasus. In Asien verbreitet er sich über sämmtliche Hochgebirge vom Altai an bis zu den chinesischen Rand- und Mittelgebirgen und von hier wie dort bis zum Sinai, den Gebirgen Südarabiens und dem Himalaya. In der Schweiz, woselbst sein Bestand gegenwärtig ungemein zusammengeschmolzen ist, haust er, laut Girtanner, mehr oder minder regelmäßig nur noch auf den höchsten Gebirgen von Bern, Graubünden, Tessin und Wallis in Graubünden erwiesenermaßen, in Bern und Tessin wahrscheinlich als Brut-, in Wallis vielleicht nur als Strichvogel. In den deutschen und österreichischen Alpen ist er gänzlich ausgerottet oder mindestens in einem Menschenalter erweislich nicht mehr vorgekommen; doch mag er einzelne Gebirgszüge Südtirols dann und wann vielleicht noch besuchen. Auf der Balkanhalbinsel fehlt er keinem höheren Gebirgszuge; in Italien findet er sich, obschon selten, noch in den Alpen, in Sardinien überall, wenn auch nicht gerade in bedeutender Anzahl; in Spanien, mit Ausnahme von Galicien und Leon, ist er eine so regelmäßige Erscheinung, daß dieses Land für Europa gegenwärtig als seine eigentliche Heimat bezeichnet werden darf. In Asien bevölkert er den Südwesten noch in Menge. Selten im Altai wie im Himmlischen Reiche, tritt er in Turkestan, Kleinasien, Palästina, Persien, Arabien und im Himalaya, von Nepal bis Kaschmir und von Salt bis Suliman, geeigneten Ortes noch überall ständig und so zahlreich auf, daß man ihn nirgends übersehen kann. In Afrika endlich beschränkt sich sein Wohngebiet auf den Nordrand des Erdtheiles, insbesondere den Atlas und den Djebel Ataka nebst Umgegend. Im Nilgebirge läßt er sich sehr selten, im Nilthale selbst nur ausnahmsweise einmal sehen. Adams, welcher ihn von seinen Jagden im Himalaya so gut kennt, daß er ihn gewiß nicht mit einem anderen Vogel verwechselt, hat ihn von der Spitze der Pyramiden aufgescheucht, Hartmann ihn unweit von den Stromschnellen von Wadi Halfa beobachtet. Ich meinestheils habe ihn weder in Egypten, noch in Nubien jemals gesehen, so häufig er auch in den Gebirgen zu beiden Seiten des Rothen Meeres zu sein scheint. Der im Osten und Süden Afrikas, namentlich in Habesch und im Kaplande vorkommende Lämmergeier ist nicht unser Geieradler, sondern der Nacktfußbartgeier.

Kein einziger deutscher Raubvogel, nicht einmal der Adler, ist so eingehend beschrieben worden als der Geieradler, und dennoch darf man behaupten, daß seine Naturgeschichte erst in den letzten Jahren geklärt worden ist. Ich selbst bin infolge meiner vielfachen Beobachtungen des stolzen Vogels im Steinigten Arabien wie in Spanien einer der ersten gewesen, welche sich bemüht haben, seine Lebensgeschichte wahrheitsgetreu zu schildern. Gegenwärtig liegen viele anderweitige Beobachtungen vor. Wir haben mehr oder minder ausführliche Berichte erhalten von Jerdon, Adams, [9] Hodgson, Irby, Heuglin, Gurney, Krüper, Hudlestone, Hume, Salvin, meinem Bruder und anderen, welche sämmtlich unter sich übereinstimmen, jedoch im Widerspruche stehen mit dem, was von älteren und neueren Forschern, unter anderen auch dem trefflichen Girtanner, über den schweizerischen Bartgeier erzählt worden ist. Ich werde deshalb zunächst meine eigenen und die mit diesen im Einklange stehenden Mittheilungen der zuerst erwähnten Naturforscher zusammenstellen und auf diese, wenn auch nicht ohne Verwahrung, die mir wichtig erscheinenden Angaben der Schweizer Forscher folgen lassen.

Mehr als jedes andere Mitglied seiner Familie, vielleicht mit alleiniger Ausnahme der Kondore, darf der Geieradler als ein Bewohner der höchsten Gebirgsgürtel angesehen werden. Doch ist dieser Ausspruch nur so zu verstehen, daß er zwar die Höhe liebt, die Tiefe aber durchaus nicht meidet. Sturm und Wetter, Eis und Schnee lassen ihn gleichgültig; aber auch die in tieferen Lagen südlicher Gebirge regelmäßig herrschende Hitze ficht ihn nicht ersichtlich an, um so weniger, als ihm bei seinem Dahinstürmen selbst die heißen Lüfte Kühlung zufächeln müssen, und er im Stande ist, jederzeit belästigender Schwüle zu entgehen und seine Brust in dem reinen Aether der kalten Höhe zu baden. Da, wo er in der Tiefe, ungefährdet durch den Menschen und mühelos, Nahrung findet, siedelt er sich auch in niederen Lagen des Gebirges an, wogegen er in der Regel die höchsten übergletscherten oder schneeumlagerten Berggipfel nicht verläßt. In Spanien ist er in allen Hochgebirgen eine keineswegs ungewöhnliche Erscheinung, horstet aber auch auf Bergzügen von zwei- bis dreihundert Meter unbedingter Höhe. Dasselbe gilt für Persien. In der Schweiz dagegen treibt er so lange als möglich in den höchsten und unzugänglichsten Theilen des Hochgebirges, von wenigen gesehen, sein Wesen, und erst wenn, wie Girtanner sagt, »die wildesten Winterstürme, mit Schnee und Eis um sich werfend, dahinrasen, während unter polternden Föhnstößen tiefer in den Bergen die Hütten erbeben, der altehrwürdige Bannwald unter der Wucht solch mächtigen Andranges ächzt und seufzt und wankt und kracht und alles Leben in dem maßlosen Toben der ringenden Naturkräfte zu ersterben droht: erst dann schaut der kundige Bergjäger aus niedrigem Fenster nach den Höhen, ob er etwa den Bartgeier über ihnen oder dem Dorfe kreisen sehe, wohl wissend, daß auch ihn zuletzt jener Riesenkampf in der Natur und der nagende Hunger zwingen werden, von seinem hohen Wohnsitze herabzusteigen und den menschlichen Wohnungen sich zu nähern. Gelang es ihm, für seinen hungrigen Magen etwas zu erbeuten, so wiederholte er wohl bald den Besuch; war ihm das Glück nicht günstig, so verschwand er, um vielleicht nie wiederzukehren. Er kam und ging wie ein Fremdling aus fernem, unbekanntem Lande. So kam er früher von den Kurfirsten bis an die Ufer des Wallensees, bis Quinten und Bethlis herab, suchte sich ein Opfer und erhob sich nach gelungener Sättigung sofort wieder zu bedeutender Höhe; so schwebt er, nach Bericht des Regierungsrathes Brunner in Meiringen, noch jetzt zu den Bergdörfern des Oberhasli sowie nach Kandersteg, Lauterbrunn, Grindelwald herunter, in Graubünden nach Pontresina, wo er bis vor die Häuser kommt, nach Lawin, Süß herab; so wird er tief im Maggia- und Livinenthal während längerer Zeit gesehen.« Nach meinen Beobachtungen lebt er höchstens in kleinen Trupps; ich habe meist einzelne oder Paare und nie mehr als ihrer fünf zusammen gesehen. Jedes Paar bewohnt ein Gebiet von vielen Geviertkilometern Flächenausdehnung und durchstreift dieses tagtäglich, ja sogar mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Deshalb wird man ihn da, wo er vorkommt, sicherlich beobachten.

In den Morgenstunden sieht man ihn, nach meinen Erfahrungen, selten oder nicht; erst anderthalb Stunden nach Sonnenaufgang etwa beginnt er sein Gebiet zu durchstreifen, und spätestens um fünf Uhr nachmittags zieht er seinem Schlafplatze wieder zu. Beide Gatten des Paares fliegen in nicht allzu großer Entfernung von einander längs hauptsächlichsten Zügen des Gebirges dahin, gewöhnlich in einer Höhe von nicht mehr als etwa funfzig Meter über dem Boden. Sie folgen dem Gebirgszuge seiner ganzen Länge nach, kehren an der Spitze eines auslaufenden Berges auch wohl um und suchen, in gleicher Weise dahinstreichend, die andere Seite ab. Unterbrechen Querthäler[10] den Hauptzug, so werden diese in derselben Höhe, welche der Vogel bisher innegehalten hatte, überflogen, selten aber sogleich mit durchsucht; über Thalkesseln dagegen kreist er meist längere Zeit. Findet sein scharfes Auge nichts genießbares auf, so steigt er empor und sucht, ganz in derselben Weise die Berggipfel und Hochebenen ab; erweist sich auch hier seine Umschau vergeblich; so streicht er in die Ebene hinaus. Ein gerade in seinem Zuge begriffener Bartgeier läßt sich nicht gern durch etwas aufhalten. Ich habe gesehen, daß einer so nahe an den bewohnten Gebäuden einer Einsiedelei vorüberflog, daß man ihn von dem Fenster aus hätte mit Schroten herabschießen können. Auch vor Menschen scheut er sich durchaus nicht, schwebt, wenn er Futter sucht, im Gegentheile oft auf wenige Meter vor einem vorüber. Auch streichend fliegt der Bartgeier äußerst schnell, unter laut hörbarem Rauschen seines Gefieders, dahin, ohne jeden Flügelschlag, und seine Gestalt erscheint dabei so zierlich, daß es ganz unmöglich ist, ihn mit irgend einem Geier oder Adler zu verwechseln. Nur Unkundige können ihn für einen Schmutzgeier ansehen. Ich bin oft versucht worden, den fernfliegenden Bartgeier für einen – Wanderfalken zu halten, wenn ich, von der Falkengestalt getäuscht, mich augenblicklich nicht an die schnellen Flügelschläge des Edelfalken erinnerte. Gurney sagt ungefähr dasselbe: »Der Flug ähnelt so sehr dem größerer Falken, daß ich überrascht und förmlich getäuscht war, als ich den ersten herabgeschossen und einen Geier in den Händen hatte.« Beim Fliegen läßt er seinen Blick nach allen Seiten schweifen, bis er etwas entdeckt hat; dann beginnt er sofort seine Schraubenlinien über dem Gegenstande zu drehen; sein Genosse vereinigt sich sogleich mit ihm, und beide verweilen nun, oft lange kreisend, über einer Stelle, bevor sie ihre Wanderung fortsetzen. Zeigt sich das gefundene der Mühe werth, so lassen sie sich allgemach tiefer hernieder, setzen sich endlich auf den Boden und laufen nun wie Raben auf das gesuchte zu. Beim Fußen wählt der Bartgeier stets erhabene Punkte, am liebsten vorstehende Felszacken oder wenigstens Felsplatten. Man erkennt, daß ihm das Auffliegen schwer wird und er deshalb vorzieht, beim Abstreichen gleich eine gewisse Höhe zu haben, um von hier aus ohne Flügelschlag sich weiter fördern zu können; denn wenn er einmal schwebt, ist der geringste Luftzug genügend, ihn in jede beliebige Höhe emporzuheben. Im Hochgebirge von Habesch steigt er, laut Heuglin, zuweilen so hoch in die Lüfte, daß er dem schärfsten Auge nur noch als kleiner Punkt im blauen Aether erscheint. Auf Felsen, welche dies gestatten, sitzt er ziemlich aufrecht, gewöhnlich aber wagerecht, wie der lange Schwanz es bedingt. Der Gang ist verhältnismäßig gut, schreitend, nicht hüpfend. So selten er die Gesellschaft seinesgleichen aufzusuchen scheint, so wenig meidet er die anderer größerer Raubvögel, ohne sich jedoch jemals näher mit ihnen zu befassen. Unbekümmert um sie, gleichsam als ob sie nicht vorhanden wären, zieht er seine Straße, und selbst wenn er unter ihnen horstet, tritt er niemals mit ihnen in irgend welche Verbindung. Selbst mit dem Steinadler verträgt er sich, aber er beachtet ihn ebenso wenig wie irgend ein anderes Mitglied seiner Zunft oder Ordnung, vorausgesetzt, daß er von übermüthigen Räubern angegriffen wird. Aber auch in diesem Falle fliegt er, ohne Abwehr zu versuchen oder Vergeltung zu üben, wie vorher seinen Weg weiter.

Mit vorstehenden Wahrnehmungen stehen die Beobachtungen, welche Girtanner über das Auftreten des Vogels in den Alpen gesammelt hat, im Einklange. Aus Bünden und Tessin wird übereinstimmend mitgetheilt, daß er seine Thätigkeit erst längere Zeit nach Sonnenaufgange, »wenn die Sonne an die Berge scheint«, beginne. »Im Sommer vom Horste oder von einer hohen, etwas geschützt und sicher gelegenen Felswarte aus, wo er die Nacht zubrachte, im Winter aus der wärmeren waldigen Schlucht aufsteigend, unternimmt er wieder, je nach der Jahreszeit, allein oder mit der Ehehälfte zuerst einen Jagdzug in die von Gemsen oder von Ziegen- und Schafherden besuchten Alpengegenden oder fliegt nach den Murmelthiersiedelungen, sucht den Alpenhasen aufzustöbern und sich auf irgend eine Weise zu sättigen. Ist ihm dies gelungen, so zieht er sich für einen Theil des Tages auf seinen Lieblingssitz, gewöhnlich eine alleinstehende Felsspitze, zurück, wo er der Verdauung obliegt und der Ruhe pflegt, um später noch einen Vergnügungsflug auszuführen oder nach den Resten einer Beute zurückzustreichen. Längere Zeit nach Sonnenuntergang erst sah ihn unser Tessiner [11] Gewährsmann seinem Schlafplatze zusegeln.« Zuverlässige Augenzeugen berichten Girtanner, daß der Flug je nach seinem Zwecke sehr großer Verschiedenheit fähig ist. Einem bestimmten Ziele zuführend, ist er wahrhaft reißend, sausend, lange Zeit ohne Flügelschlag und ungemein fördernd; dabei zieht der Vogel in möglichst gerader Richtung und gleicher Höhe hoch über Thäler und dicht über Gebirgskämme oder in unabsehbarer Ferne längs der Bergrücken dahin. Hierbei läßt er sich nach allen Berichten nicht gern, selbst nicht durch menschliche Wohnungen und Menschen, aus der einmal eingeschlagenen Richtung und Höhe bringen. Ueber Menschen rauscht er oft so niedrig und dabei so langsam und sorglos dahin, daß man unter Umständen nicht wisse, ob man es dabei mit einem durch die Einsamkeit seines gewöhnlichen Aufenthaltsortes durchaus furchtlos gewordenen, das heißt die Gefahr nicht kennenden Vogel zu thun habe oder aber mit einem solchen, welcher sich an die Gefahr nicht kehre, falls nicht gar Angriffspläne im Kopfe habe. Der Vergnügungsflug wird von allen, welche denselben selbst zu beobachten Gelegenheit hatten, übereinstimmend als leicht, schwebend, schwimmend, in weiten Schneckenringen auf- und abwärts kreisend beschrieben. Ganz anders nimmt sich unser Vogel beim Absuchen eines Jagdgebietes aus. Dann sah ihn Hold scheinbar schwerfällig mit langsamen, weit ausholenden, rauschenden Flügelschlägen dicht über dem Boden daherfahrend und zu seinem Erstaunen gleich nachher in scharfen Schwenkungen aufs zierlichste um einzelne Felsblöcke fliegend und sich förmlich schlängelnd. So vollkommen er Meister seiner Bewegungen ist, sowie er erst Luft unter seine Fittige gefaßt hat, so mühsam erhebt er sich wegen der Länge der Flügel und Kürze der Beine vom Boden. Auf ebene Flächen setzt er sich ohne unbedingte Nothwendigkeit nicht, und in Tessin sah ihn ein Jäger, unter solchen unangenehmen Umständen überrascht, eiligst einer Erhöhung zulaufen und erst von dort aus zum Abfluge sich rüsten. Einer, welchen Salis plötzlich zu beiderseitigem Erstaunen etwa funfzehn Meter über sich am Abhange sitzen sah, schob sich mit einigen komischen Sprüngen förmlich in die Luft hinaus, um dann leicht und stolz über dem Kopfe des überraschten Beobachters abzuziehen. Kommt er aus der Luft herab, so läßt er schon hoch über dem Boden die Ständer herunterhängen, sucht den Fall durch Hochstellen der Flügel zu mäßigen und betritt nun die Erde, muß jedoch auf ebenem Boden, wo er nicht sofort fest einfassen kann, gewöhnlich noch einige rasche Schritte ausführen.

Wenn man, so habe ich mich im Jahre 1858 ausgesprochen, einen glaubwürdigen spanischen Jäger fragt, was der Bartgeier fresse, wird er sicherlich keine Jagd-, Spuk-, Raub- und Mordgeschichten wie der Schweizer von seinem Geieradler zum besten geben, sondern einfach sagen, der »Knochenzerbrecher« (Quebranta-huesos) frißt Aas, Kaninchen, Hasen und noch andere kleine Säugethiere, hauptsächlich aber Knochen, welche er zerbricht, indem er sie aus bedeutender Höhe herab zur Tiefe fallen läßt. Kein einziger Spanier, mit welchem wir in jagdlicher oder wissenschaftlicher Hinsicht verkehrt haben, kannte den Bartgeier als berüchtigten Räuberhauptmann wie der Schweizer den seinigen. Man wußte mir, als ich nach dem Vogel fragte, welcher Ziegen und Schafe, Kinder und Hunde raube und fresse, niemals den Geieradler, sondern immer nur den Steinadler zu nennen. Von diesem, aber auch bloß von ihm, hatte man ebenso viele Geschichten zu erzählen wie unsere deutschen Naturforscher von dem Geieradler der Alpen. Im ganzen wird der Bartgeier als sehr unschuldiger Vogel betrachtet. Kein Hirt fürchtet ihn, kein Viehbesitzer weiß etwas von Räubereien, welche er ausgeführt haben soll, aber jedermann versichert, daß er regelmäßig mit den Geiern auf das Aas falle und, wie bemerkt, Knochen aus der Höhe herabwerfe, um sie zu zerbrechen. Ich selbst habe in der Sierra Nevada einen Lämmergeier lange Zeit hinter einander von einem Felsen aus hoch in die Luft steigen, niederschweben, etwas von diesem Felsen aufnehmen, wieder emporsteigen und von neuem nach dem Felsen herabschweben sehen und mir solches Beginnen nicht anders als der Aussage der Spanier entsprechend erklären können. In der That liegt kein Grund vor, zu zweifeln, daß der Vogel große Knochen in dieser Weise zertrümmere. Seeadler und andere Raubvögel, namentlich aber Raben und Möven, thun, nach den Versicherungen der gewissenhaftesten Beobachter, genau dasselbe. Der Bartgeier führt also seinen spanischen Namen mit Fug und Recht.

[12] Vom abessinischen Geieradler berichtet Heuglin (1869) wie folgt: »Unsere Stubengelehrten schildern den Bartgeier als stolzen Räuber, welcher muthig große Säugethiere, ja selbst den Menschen angreift und in den Abgrund zu stoßen sucht. Wir haben Gelegenheit gehabt, diesen Vogel durch längere Zeit alltäglich in nächster Nähe zu beobachten, haben viele Dutzende von ihnen erlegt und untersucht und zu unserem Erstaunen gefunden, daß seine Nahrung fast ausschließlich in Knochen und anderen Abfällen von Schlachtbänken besteht, daß er gefallene Thiere und menschliche Leichen angreift, daß er aber nur im Nothfalle selbst jagt; denn selten glückt es ihm, einen Hasen oder eine verirrte oder kranke Ziege wegzufangen. Rabenartig umherschreitend, auch seitwärts hüpfend, sieht man ihn zuweilen auf den grünen Matten des Hochlandes auf die dort überaus zahlreichen Ratten lauern. In der Haltung hat er nichts mit den eigentlichen Geiern gemein, eher noch manches mit dem Schmutzgeier, namentlich was seine Bewegungen auf der Erde anbelangt. Morgens mit Tagesgrauen verläßt er die Felsen, auf denen er ruht, schweift rasch und weit über Felder, Wiesen und Dörfer zu Thale, oft so blitzschnell, daß man deutlich das sturmartige, fast metallisch klingende Rauschen seines Gefieders vernimmt, kreist dann um Marktplätze, wo gewöhnlich geschlachtet wird, oder folgt mit vielen anderen Aasvögeln den Lagern und Heereszügen. So war er während der ersten Monate unseres Aufenthaltes in den Bogosländern nicht beobachtet worden bis zur Ankunft abessinischer Truppen, mit denen er auch wieder verschwand. Während der Feldzüge des Königs Theodor gegen die Gala fanden sich Dutzende dieser Vögel als stetige Begleiter des Heeres ein.«

Krüper gebraucht folgende Worte: »Hört man den Namen Lämmergeier aussprechen, so erinnert man sich unwillkürlich an den kühnsten Räuber in der Vogelwelt und schaudert zusammen, so gebrandmarkt stellt sich der Vogel vor das geistige Auge. Ist der Lämmergeier denn auch wirklich ein den Herden und Menschen Furcht und Schrecken einflößendes und so schädliches Thier, oder ist er ohne sein Zuthun in den Ruf gekommen, den er in wissenschaftlichen Schriften und Köpfen erhalten hat? In Arkadien, wo die Gebirge nicht sehr hoch sind, beginnt sein Gebiet unmittelbar am Meere. Was raubt denn dort in der Ebene dieser gefährliche Nachbar? Sucht er dort die Lämmer, Ziegen oder sogar die Rinder auf, um sie zu verspeisen? Man sieht ihn zuweilen in nicht großer Höhe am Fuße eines gebüschreichen Berges kreisen, den Kopf nach unten gerichtet, spähend, plötzlich herabfliegen und verschwinden. Sicherlich macht er in diesem Augenblick eine Beute, gewiß, er hat eine Ziege – nein, er hat nur eine Schildkröte gefunden, welche seinen Hunger stillen oder seinen Jungen wohlschmecken soll. Um zu dem Fleische der Schildkröte zu gelangen, wirft er dieselbe aus der Höhe auf einen Felsen, damit sie zerschellt. Der Engländer Simpson, welcher den Geieradler in Algerien beobachtete, bestätigt die Angabe und erzählte mir, daß jeder Vogel einen Felsen habe, auf dem er die Schildkröten zertrümmere. Am vierzehnten Mai 1861 besuchte ich den Horst eines Lämmergeiers. Unten an der Felsenwand lag eine große Menge von Schildkröten sowie verschiedene Knochen.«

»Markknochen«, gibt Simpson an, »sind die Leckerbissen, welche der Geieradler am meisten liebt, und wenn die übrigen Geier das Fleisch von dem Gerippe einer Thierleiche abgefressen haben, erscheint er zu Ende des Festes und verschlingt die Knochen oder zerbricht sie und verschlingt dann die Stücke, wenn er nicht im Stande ist, das Mark auf andere Weise zu gewinnen. Die Knochen zerbricht er, indem er sie in bedeutende Höhe hebt und von hier aus auf einen Stein fallen läßt. Weder er noch sein Junges sind genügsam. Man findet Knochen, Schildkröten und ähnliche Leckereien in Menge neben dem Horste. Damit soll jedoch keineswegs gesagt sein, daß er sich oder sein Junges auf Markknochen, Schildkröten und ähnliche Leckereien beschränke: im Gegentheile – auch ein Lamm, ein Hase oder ein Huhn kommt ihm gelegen, obgleich die Kraft seiner Klauen und seines Schnabels für einen so großen Vogel sehr schwach und er nicht fähig ist, in derselben Weise wie ein Geier oder Adler die Beute zu zerreißen. Dies gleicht sich aber aus durch sein außerordentliches Schlingvermögen. Die Griechen behaupten, daß er alles verschlinge und verdaue; aber die Geschichten, welche ich in dieser Hinsicht habe erzählen hören, sind zu wunderbar, als daß ich sie weiter verbreiten möchte. Ich selbst sah einmal einen Geieradler, welcher einen Knochen oder sonst einen ungewöhnlichen [13] Gegenstand hinabgewürgt hatte. Er befand sich in einer höchst ungemüthlichen Lage und mußte sich, um zu seinem Zweck zu kommen, auf die langen Federn seines Schwanzes stemmen.«

»Aas«, sagt Irby, »scheint die fast ausschließliche Nahrung des Geieradlers zu sein.« »Dieser Vogel«, bestätigt Gurney, »verschlingt große Knochen. Der Magen von dem, welchen ich (an der Südostküste Afrikas) erlegte, war vollgestopft mit solchen. Die Knochen waren zweifellos ohne jegliches Fleischanhängsel verschluckt worden, und ich selbst sah, daß einer einen dürren Knochen nahm. Der größte von denen, welche ich fand, war ein Ochsenwirbel von zehn Centimeter Länge, sieben Centimeter Breite und fünf Centimeter Dicke. Eine Menge Haare vom Klippschliefer fand sich ebenfalls im Magen zwischen den Knochen vor und bewies also, daß der Geieradler auch derartige Thiere raubt, wahrscheinlich, wenn sie bei Tage außerhalb ihrer Höhle sich sonnen.« Er fängt, laut Adams, »Murmelthiere, hält sich aber nicht ausschließlich an lebende Beute; denn man sieht ihn auch längs der Bergseiten gemächlich dahinschweben und nach Aas und anderen Abfällen suchen. In dem Magen eines von mir in den Bergen von Kaschmir getödteten Vogels fand ich verschiedene lange Knochen und einen Huf von einem Steinbock.« Hutton versichert, daß er sich in Indien regelmäßig von Aas nähre und selten eine größere Beute erhebe als ein Huhn, welches er zerreiße, während er fliege. Hodgson bestätigt diese Angabe; Hume endlich gibt an, daß er unter Umständen sogar Menschenkoth fresse.

»Seine Nahrung«, schreibt mir mein in Spanien lebender Bruder Reinhold nach zwanzigjährigen Beobachtungen, »besteht in Knochen, Aas und lebenden Thieren. Auf frisches Luder sah ich ihn nie fallen, wohl aber, ohne es und die bereits schmausenden Raben, Milane und Geier zu beachten, niedrig darüber wegstreichen. Er zieht unter solchen Umständen vielleicht einige Kreise über dem Aase, nimmt am Schmause jedoch keinen Antheil. Auf meinen Geierjagden habe ich ihn täglich beobachten können. Oft zog er nur sechs oder acht Meter über dem Aase weg, umkreiste es vielleicht drei- oder viermal, ließ sich aber, mochte das Aas noch unangerührt liegen oder von schmausenden Geiern umringt sein, niemals weder auf ihm, noch auf einem in der Nähe befindlichen Felsen nieder. Vier und fünf Tage nach einander habe ich von früh bis nachmittags auf ihn angestanden, weder auf sich einfindende Geier noch Adler geschossen, um ihn nicht zu verscheuchen, stets aber vergeblich seiner geharrt. In den Gebirgen Mittelspaniens, Sierra de Guadarrama, de Avila, de Gredos z.B., hält man ihn allerdings für einen gewaltigen Räuber; ich selbst aber habe ihn nie ein lebendes Thier ergreifen, ja sogar über Ziegenherden hinwegstreichen sehen, ohne daß er die Absicht bekundet hätte, auch nur auf ein Zicklein zu stoßen. Ob etwas wahres an der Lilford gewordenen Mittheilung südspanischer Jäger ist, daß er Bergsteinböcke über die Felsen jage und sich, nachdem die Geier das Fleisch gefressen, mit deren Knochen nähre, lasse ich dahingestellt sein. In seinem Horste habe ich noch mit Wolle bekleidete Schafe und Lammsbeine gefunden, welche dafür sprechen, daß er diese Thiere lebend ergriffen hat, da der spanische Hirt so leicht kein Thier den Geiern überläßt, ohne ihm vorher das Fell abgezogen zu haben.«

Nach so vielen, fast in jeder Beziehung unter sich übereinstimmenden Berichten wird es schwer, die Erzählungen für wahr zu halten, welche über die Stärke, Kühnheit und Raubsucht desselben Vogels von den schweizerischen Forschern gegeben worden sind. Hierher gehören die Geschichten Steinmüllers, daß ein Bartgeier versuchte, einen Ochsen von einem Felsen herabzustürzen, daß ein anderer einen einjährigen Ziegenbock, ungeachtet der Gegenwehr seines Herrn, durch die Lüfte davontrug, nachdem er den Besitzer in die Flucht geschlagen hatte, daß ein dritter eine funfzehn Pfund schwere Ziege aus der Luft herabfallen ließ, ein vierter eine siebenundzwanzig Pfund schwere Eisenfalle auf ein gegenüberstehendes hohes Gebirge schleppte, ein fünfter von einem Fuchse, welchen er geschlagen hatte, in der Luft getödtet wurde, ein sechster ein Kind in Gegenwart seiner Eltern aufhob und entführte, ein siebenter sogar ein dreijähriges Mädchen, Anna Zurbuchen, vierzehnhundert Schritte weit geschleppt und nur durch die Ankunft eines dem schreienden Mädchen folgenden Mannes abgehalten wurde, es zu fressen, so daß sein wohl am linken Arme und an der Hand verwundetes [14] Opfer gerettet wurde und später als »Geieranni« einen Schneider heirathen konnte, und anderes mehr. Berichtete nicht Girtanner über einen in der neuesten Zeit vorgekommenen Angriff des Geieradlers auf einen halberwachsenen Knaben, ich würde alle Geschichten solcher Art unbedenklich in die Rumpelkammer der Fabel geworfen haben und nach wie vor den Geieradler als einen Vogel bezeichnen, welcher im großen nicht mehr ist, als der ihm in vieler Hinsicht nahe verwandte Schmutzgeier im kleinen: ein kraftloser, feiger, leiblich wie geistig wenig begabter Raubvogel, welcher nur gelegentlich ein schwächeres, lebendes Wirbelthier wegnimmt, gewöhnlich aber in Knochen und anderen thierischen Abfällen seine Speise findet. Eingedenk aber der Gewissenhaftigkeit des eben genannten, von mir hochgeachteten Forschers, darf ich dessen Darlegung nicht verschweigen, so schwer mir auch wird, zu glauben.

»Mit der Frage nach der Ernährung des Alpenbartgeiers«, sagt Girtanner, dessen Mittheilungen ich übrigens nur im Auszuge wiedergebe, »sind wir sowohl in Bezug auf die Beschaffenheit des Nährstoffes als auf die Art und Weise, wie er sich desselben bemächtigt, bei dem streitigsten Kapitel in seiner Naturgeschichte angelangt. Daß er Aas frißt, steht fest: hierin stimmen alle Berichte überein. Am deutlichsten beweist dies, wenn wir noch vermeiden wollen, aus seinem bezüglichen Verhalten in Gefangenschaft auf sein Freileben zu schließen, der Umstand, daß die Falle stets mit solchem geködert wird, und daß er oft auf Aas angetroffen worden ist. Ein Bündner Jäger schoß ein altes Thier auf einem todten jungen Rinde, welches am Fuße eines steilen Felsens lag und welchem der Vogel bereits die Augen ausgefressen hatte. Er war im Begriffe, mit aller Kraft seines Reißhakens die Leibeshöhle des Rindes aufzubrechen, als ihn die Kugel todt über das todte Thier hinstreckte. Das Rind war kurze Zeit vorher auf der Fläche jenes Felsens weidend beobachtet worden. Auf todten Gemsen wurden schon mehrere erlegt und die frischtodte Gemse sammt dem darauf erlegten Bartgeier als gute Prise zur Hütte geschleppt. Beim Verzehren eines kleinen Säugethieres scheint er auch in der Freiheit im Genicke zu beginnen und mit dem Haken die Beute stückweise zu zerfleischen, indem er sie mit einem Fuße, wohl auch mit beiden festhält. Bei großen Thieren befolgt er immer die angedeutete Zerreißungsmethode. Auch sein oft angezweifeltes Auffliegen mit großen Knochen, um sie in der Höhe fallen und auf den Felsen zerschellen zu lassen und verschlingbar zu machen, wird mir von Graubünden her als vielfach und über alle Zweifel sicher festgestellt gemeldet. Zu von ihm getödteten oder schon todtgefundenen Thieren kehrt der Alpenbartgeier nur zurück, um sie vollends zu verschlingen, wenn es ihm bis zur Wiederkehr des Hungers nicht gelungen ist, lebende Beute zu machen.« Nach mehr als acht Tagen sah ihn unser Tessiner Jäger im Winter zu einem für ihn als Lockspeise hingelegten todten Thiere zurückkehren, in gerader Linie aus weiter Ferne daherschießend, sei es, daß ihn hierbei mehr der Geruchs- oder der Ortssinn geleitet. Auf dem Aase angelangt, dem er sich jedoch stets nur unter Beobachtung gewisser Vorsichtsmaßregeln nähert, frißt er sich, von seiner Sicherheit überzeugt, so voll, als er eben kann. So vorsichtig er sich im allgemeinen vor dem Aase benimmt, so dreist machte ihn Hunger und Noth angesichts eines Fraßes. »So erhob sich«, schreibt mir Manni, »einst bei heftigem Schneesturme ein alter Bartgeier von der Landstraße vor mir erst, als ich ihm etwa auf funfzehn Schritte nahe gerückt war. Derselbe befand sich zudem unmittelbar hinter einem Hause, in welchem nämlichen Tages geschlachtet worden war, und wo er wohl einen Knochen, Eingeweide oder sonst ein Ueberbleibsel eines Schlachtthieres gefunden haben mochte.« Von ihm selbst getödtete kleinere Vierfüßler: Berghasen, Murmelthiere, frischgesetzte, überhaupt junge Gemsen und Ziegen, Lämmer, Ferkel usw. zieht er bei uns jeder anderen Nahrung vor, die wildlebenden aber den Hausthieren. Findet er solche seinerseits ohne Anstrengung und Gefährdung zu erbeutende Säuger in genügender Anzahl, so ist er gewiß zufrieden, seinen Hunger auf die müheloseste Weise stillen zu können; gelingt ihm dies aber nicht, und ist auch kein Aas zu haben, dann zwingt ihn der Hunger, dann führt ihn der Selbsterhaltungstrieb dazu, größere lebende Thiere zu überfallen und zu bezwingen: Schafe, Ziegen, Gemsen, Füchse, Kälber usw. Hierüber sind alle Berichte, welche mir seitens gewissenhafter [15] Beobachter eingegangen sind, zu sehr einig, als daß für mich die vollständige Sicherheit der Thatsache noch im geringsten fraglich sein könnte. Dieselben Berichterstatter sind auch darin einig, daß sich der Alpenbartgeier von Aas und kleinen Säugern allein gar nicht zu erhalten im Stande wäre. Berghasen sucht er aus dem Gestrüppe und Krummholze herauszujagen, um sie dann auf offenem Gelände entweder ohne weiteres zu fassen oder vorher durch einen Flügelhieb zu betäuben. Je nach der Sicherheit der Stelle frißt er die Beute sofort an oder trägt sie nach dem Horste oder seinem gewöhnlichen Standplatze. Bei der Jagd auf erwachsene Gemsen, Schafe usw. bedient er sich zu deren Bewältigung in erster Linie seiner Flügel, nicht der Fänge. Während der Adler mit angezogenen Flügeln wie eine Bombe aus der Luft auf die Beute herabfährt, ihr die Fänge einschlägt und sie durch Ersticken mordet, so geschieht der Angriff des Bartgeiers meist erst aus ziemlicher Nähe. Unser Tessiner Beobachter berichtet nach mehrfacher eigener Anschauung: »Wenn der Bartgeier mit seinen scharfen Augen auf dem Boden unter sich ein Thier sieht, welches er fressen will, so fällt er nicht wie ein Stein aus der Luft herab, gleich dem Steinadler, sondern er kommt in weiten Kreisen herabgeflogen. Oft setzt er sich zunächst auf einen Baum oder einen Felsen und beginnt den Angriff erst, nachdem er sich von hier nochmals, jedoch nicht hoch, erhoben hat. Sieht er Leute in der Nähe, so schreit er laut und fliegt fort. Nie greift er Thiere an, welche weit von Abhängen im flachen Thale weiden; bemerkt er aber eine Gemse zum Beispiel, welche nahe am Abgrunde graset, so beginnt er, von hinten heranschießend, mit wuchtigen Flügelschlägen das aufgeschreckte Thier hin und her zu jagen und zu schleppen, bis es völlig verwirrt und betäubt, nach dem Abhange hinflieht. Erst wenn er diesen seinen Zweck erreicht hat, legt er seine ganze Kraft in die starken Flügel. Von beiden Seiten fahren mit betäubendem Zischen und Brausen die harten Schwingen klatschend auf das tödtlich geängstigte, halb geblendete Opfer. Wohl sucht dieses, zeitweise noch sich zusammenraffend, mit den Hörnern den Mörder abzuwehren – vergebens. Zuletzt wagt es einen Sprung oder macht einen Fehltritt; es springt oder stürzt in die Tiefe, oder aber es bricht todesmatt zusammen und kollert sterbend über die Felsbänke. Langsam senkt sich der Bartgeier seinem Opfer nach, tödtet es nöthigenfalls noch vollständig mit Flügeln und Schnabel und beginnt ungesäumt, das warme Thier zu zerfleischen. Steht ein Schaf oder ein ähnliches Thier, ein Jagdhund, an sehr steiler Stelle am Abhange, und er wird nicht von ihm bemerkt, bis er, von hinten kommend, sich ihm genaht hat, so dauert der Kampf oft nur sehr kurze Zeit. Er fährt mit scharfem Flügelschlage geraden Weges an das überraschte Opfer an und wirft es durch den ersten Anprall glücklich hinunter, oder er reißt dasselbe fliegend mit Schnabel und Krallen über die Felskante hinaus und läßt es stürzen, im Abgrunde zerschellen.« Hiermit übereinstimmend schreibt mir Baldenstein: »Als ich einst auf einer meiner Gebirgsjagden gegen Abend in gemüthlichem Gespräche bei einem Hirten saß, schnobberte dessen Hund am nahen Abhange herum. Plötzlich erreichte ein Schrei des Hundes unser Ohr. Im selben Augenblicke sahen wir den treuen Herdenbewacher über dem Abgrunde in der Luft schweben, während sein Mörder, ein alter Bartgeier, triumphirend über ihm hinschwamm. Wir hatten unmittelbar vorher nicht auf den Hund geachtet und auch von dem Geier nichts bemerkt, bis uns der sonderbare Schrei des armen Thieres nach jener Stelle sehen ließ. Ohne jenen Schreckenslaut wäre der Hund auf räthselhafte Weise verschwunden, und wir hätten uns sein Verschwinden nie erklären können, wenn auch sicher der Verdacht auf diese Todesart in uns sofort aufgetaucht wäre. Schnell ließ sich auch der Geier auf seine Beute hinunter und verschwand wie diese vor unseren Augen. Es wickelte sich alles sehr rasch ab, rascher, als es erzählt werden kann. Ob der Vogel diese Beute mehr durch die Gewalt seines Flügelschlages oder durch einen Riß mit dem Schnabelhaken über den Felsen hinaus geworfen, bin ich deshalb zu entscheiden nicht im Stande, weil, wie gesagt, bei unserem Aufblicken der Hund schon frei in der Luft schwebte; sicher aber weiß ich, daß der Bartgeier nie auf einen meiner jagenden Hunde stieß, so lange sie, entfernt vom Abgrund, auf ebenem Boden suchten, so oft er auch allein oder zu zweien nahe über ihnen kreiste. Der Bartgeier ist nicht ein Stoßvogel im Sinne des Adlers.«

[16] Daß und in welcher Weise der Bartgeier auch erwachsene Gemsen angreift und bewältigt, hatte Saratz mit eigenen Augen anzusehen Gelegenheit: »Als ich einst«, schreibt er, »von meinem Hause aus Gemsen auf ihrem Marsche zuschaute, sah ich plötzlich, wie ein gewaltiger Bartgeier von hinten auf eine derselben niederstürzte, ihr einige rasche Flügelschläge versetzte, dann auf die am Boden liegende Beute sich warf und sie sofort mit dem Schnabel zu bearbeiten begann. Bei meinen Jagdstreifereien auf Gemsen, sah ich einmal ein kleines Rudel derselben an einem schmalen Gletscher dahinziehen und ruhig, die Geis voran, dem Berggrate sich zuwenden. Plötzlich stutzt die Geis, die anderen halten bestürzt an, und im Nu haben alle einen Kreis gebildet, die Köpfe sämmtlich nach innen zu gekehrt. Was mochte diese Unruhe, diesen plötzlichen Halt bewirkt haben? Hierüber gab mir ein der Höhe zugewandter Blick Aufschluß; denn ich wurde bald gewahr, daß sich über ihnen in der Luft etwas schaukelte, was mir mein Glas als Bartgeier zu erkennen gab. Plötzlich stürzte sich dieser in schräger Richtung von hinten den Gemsen nach, welche ihn jedoch mit thatkräftigem Emporwerfen der Hörner empfingen und zwangen, von ihnen abzulassen. Er erhob sich, um viermal denselben Angriff zu wiederholen. Nochmals stieg er empor, diesmal aber immer höher und höher, und als er nur noch als Punkt am Himmel sichtbar war, da plötzlich stiebten meine geängstigten Thiere auseinander, um sich im gestreckten Laufe einer überhängenden Felswand zu nähern, welcher sie sich anschmiegten und nun das Auge unverwandt der Höhe zurichteten. In dieser Stellung verblieben sie, bis ihnen die herandämmernde Nacht Beruhigung über ihre Sicherheit brachte.« Ein anderer bündnerischer Jäger erzählt, wie er einst einen Bartgeier, nicht weit von seinem Standpunkte entfernt, auf eine Gemse habe stürzen sehen, vergeblich sich bemühend, sie mit Flügelschlägen in den Abgrund zu werfen. Seine gewöhnliche Angriffsweise mißlang diesmal, da die gescheidte Gemse, anstatt nach dem Abgrunde hin zu fliehen, sich mit einigen kühnen Sätzen noch rechtzeitig in eine Felsennische gerettet hatte, dort mit den Hörnern muthig die Angriffe abwies und sich um keinen Preis aus ihrer gedeckten Stellung vertreiben ließ. Ein ganz ähnlicher Fall wird mir gleichzeitig aus dem Tessin gemeldet. Alle diese Berichte stammen aus dem Munde von Gebirgsbewohnern und alle aus Alpengebieten, wo der Bartgeier noch Standvogel ist; alle rühren von Männern her, welche ihn vollkommen sicher vom Steinadler zu unterscheiden wissen, welche die eine Räuberei mit Bestimmtheit dem einen, die andere dem anderen aufbürden, und mit vollkommenem Rechte sich nicht ausreden lassen wollen, was sie am hellen Tage mit den ihnen eigenthümlich zugehörenden, äußerst scharfen Augen gesehen haben. Daß der Bartgeier sich auch an Menschen wage mit der Absicht, sie zu tödten, ist seit langer Zeit geglaubt und als Märchen verlacht, dann wieder als Thatsache behauptet oder doch wenigstens als vielleicht möglich gehalten worden. Beispiele vom Raube kleiner Kinder durch große Raubvögel, bei denen es sich in unserer Alpenkette jedenfalls nur um den Steinadler und den Bartgeier handeln kann, sind zu sicher festgestellt, als daß hieran noch gezweifelt werden könnte. Warum nun der Verbrecher immer der Steinadler sein soll, ist nicht so ohne weiteres klar. Was den Bartgeier, welcher sich erwiesenermaßen an erwachsene Gemsen wagt, die doch im Verhältnisse mit einem kleinen Kinde jedenfalls wehrhaft sind und die dennoch meist besiegt werden, abhalten sollte, bei gebotener Gelegenheit ein solches hülfloses Wesen wegzuschleppen, über einen Felsen, an denen man sie in den Bergen oft genug in der Nähe der Hütten herumkrabbeln läßt, herunterzuwerfen, will mir nicht einleuchten. Man vertheile hier ruhig die Schuldenlast auf beide Räuber. Denn auch der Bartgeier versucht die Beute wegzutragen, wenn er sie aus irgend einem Grunde nicht an Ort und Stelle verzehren kann. Uebersteigt ihr Gewicht seine Kraft, welche man sich jedoch nur nicht zu gering vorstellen möge, so kann er sie immer noch fallen lassen, wie dies bei allen Arten von Dieben vielfach beobachtet worden ist. Begründeter und begreiflicher ist der Zweifel darüber, daß sich unser Bartgeier auch an halberwachsene Menschen wage, in der Absicht, sie auf irgend eine Weise zu vernichten. Beispiele von solchen Ueberfällen mit oder ohne Erfolg, an denen nicht die gerechtesten Zweifelhaften, sind sehr wenige bekannt; doch gewinnt die Glaubwürdigkeit jenes Falles an der Silbernalp, wo ein [17] Hirtenbube durch einen Bartgeier von einem Felskopfe in den Abgrund gestoßen und am Fuße der Felswand von ihm angefressen worden sein soll, durch die Feststellung der Wahrheit der neuesten ähnlichen Begebenheit im Berner Oberlande eine kräftige Stütze. Dieser jüngste Fall eines Angriffes seitens eines schweizerischen Bartgeiers auf einen halberwachsenen Menschen trug sich im laufenden Jahre zu, ist also keine veraltete Geschichte, und ich habe mich sehr bemüht, die Feststellung der Thatsache oder die Grundlosigkeit des Gerüchtes sicher zu stellen.

»Im Laufe des Juni 1870 war in mehreren schweizerischen Zeitungen zu lesen, daß bei Reichenbach, im Kanton Bern, ein Knabe von einem ›Lämmergeier‹ überfallen worden sei und dem Angriffe sicher erlegen wäre, wenn der Vogel nicht noch rechtzeitig hätte verscheucht werden können. Zuerst schenkte ich der Mittheilung wenig Aufmerksamkeit und erwartete, der Lämmergeier werde sich wohl baldigst in einen Adler, wo nicht gar in einen Habicht, und der überfallene Knabe in ein Hühnchen verwandeln; doch der Widerruf blieb diesmal aus, und da die Sache für mich Theilnahme genug darbot, um verfolgt zu werden, so wandte ich mich an Herrn Pfarrer Haller in Kandergrund, dessen Freundlichkeit mir von früher her schon bekannt war.«

Unser Forscher erzählt nun, wie er von dem genannten Pfarrherrn an einen zweiten, Herrn Blaser, verwiesen wurde und von letzterem nach verschiedenem Hin- und Herschreiben folgende Nachricht erhalten habe. »Es war am zweiten Juni 1870, nachmittags vier Uhr, da ging jener Knabe, Johann Betschen, ein munterer, aufgeweckter Bursche von vierzehn Jahren, noch klein, aber kräftig gebaut, von Kien hinauf nach Aris. Kien liegt im Thalgrunde bei Reichenbach, im Winkel, welchen der Zusammenfluß der Kander und der Kien aus dem Kienthale bildet, Aris ungefähr hundertundfunfzig Meter hoch auf einer Stufe des Bergabhanges. Der Weg führte den Knaben ziemlich steil über frischgemähte Wiesen hinauf, und wie er eben oben auf einer kleinen Bergweide noch ungefähr tausend Schritte von den Häusern entfernt, ganz nahe bei einem kleinen Heuschober, angelangt war, erfolgte der Angriff. Plötzlich und ganz unvermuthet stürzte der Vogel mit furchtbarer Gewalt von hinten auf den Knaben nieder, schlug ihm beide Flügel um den Kopf, so daß ihm, nach seiner Bezeichnung, gerade war, als ob man zwei Sensen zusammenschlüge, und warf ihn sogleich beim ersten Hiebe taumelnd über den Boden hin. Stürzend und sich drehend, um sehen zu können, wer ihm auf so unliebsame Weise einen Sack um den Kopf geschlagen, erfolgte auch schon der zweite Angriff und Schlag mit beiden Flügeln, welche fast mit einander links und rechts ihm um den Kopf sausten und ihm beinahe die Besinnung raubten, so ›sturm‹ sei er davon geworden. Jetzt erkannte der Knabe einen ungeheueren Vogel, welcher eben zum dritten Mal auf ihn herniederfuhr, ihn, der etwas seitwärts auf dem Rücken lag, mit den Krallen in der Seite und auf der Brust packte, nochmals mit den Flügeln auf ihn einhieb, ihn beinahe des Athems beraubte und sogleich mit dem Schnabel auf seinen Kopf einzuhauen begann. Trotz alles Strampelns mit den Beinen und Wenden des Körpers vermochte er nicht, den Vogel zu vertreiben. Um so kräftiger benutzte der Junge seine Fäuste, mit deren einer er die Hiebe abzuwehren suchte, während er mit der anderen auf den Feind losschlug. Dies muß gewirkt haben. Der Vogel erhob sich plötzlich etwas über den Knaben, vielleicht um den Angriff zu wiederholen. Da erst fing dieser mörderlich zu schreien an. Ob dies Geschrei das Thier abgehalten habe, den Angriff wirklich zu erneuern, oder ob er bei seinem Auffliegen eine auf das Geschrei des Burschen herbeieilende Frau gesehen und er ihn deshalb unterließ, bleibt unausgemacht. Anstatt wieder sich niederzustürzen, verlor er sich rasch hinter dem Abhange. Der Knabe war jetzt so schwach, von Angst und Schreck gelähmt, daß er sich kaum vom Boden zu erheben vermochte. Die erwähnte Frau fand ihn, als er sich eben taumelnd und blutend vom Boden aufraffte. Gesehen hat die Frau den Vogel nicht mehr. Dieses kann nun trotz allem bezweifelt werden; ich selbst bezweifle es aber nicht im geringsten. Johann Betschen, welcher von solchen Vögeln vorher nie gehört hatte, konnte auch einen solchen Vogelkampf nicht sofort erfinden und eingehend beschreiben, während er doch seiner Retterin sofort den Hergang der Sache erzählte, sowie nachher anderen Leuten, als man ihn bei den Häusern wusch [18] und verband. Ich kenne zudem ihn und seine Familie als wahrheitsliebend. Die Wunden, welche ich selbst bald nachher besichtigte, bestanden in drei bedeutenden, bis auf den Schädel gehenden Aufschürfungen am Hinterkopfe. Auf Brust und Seiten sah man deutlich die Krallengriffe als blaue Flecken, zum Theil blutig, und der Blutverlust war bedeutend. Der Knabe blieb acht Tage lang sehr schwach. An seinen Aussagen also und an der Wirklichkeit der Thatsache ist nach meiner Ansicht kein Zweifel zu hegen. Wie sollte ich nun aber von dem Jungen, welcher nie sonst solche Vögel gesehen, nach der Angst eines solchen Kampfes erfahren, ob er es mit einem Steinadler oder mit einem Bartgeier zu thun gehabt habe? Ich nahm ihn ins Verhör, und er berichtete mir, so gut er konnte. Namentlich war ihm der fürchterliche gekrümmte Schnabel, an welchem er beim Aufsteigen des Vogels noch seine Haare und Blut sah, im Gedächtnis geblieben, ferner ein Ring um den Hals und die ›weiß grieseten Flecken‹ (mit weißen Tupfen besprengte Fittige) und endlich, was mich am meisten stutzig machte, daß er unter dem Schnabel ›so 'was wüstes G'strüpp‹ gehabt habe.«

Der Pfarrer berichtet nun in ausführlicher, schon von Girtanner gekürzter Weise über die mit dem geschädigten Knaben, unter Vorlegung verschiedener Abbildungen vorgenommene, sehr geschickt und sorgfältig geleitete Prüfung, beschließt mit ihm nach Bern zu reisen und erzählt, daß der Bursche, im Museum zuerst zum Steinadler geführt, von diesem als von seinem Gegner durchaus nichts wissen wollte, daß er beim Anblicke eines Bartgeiers im dunklen Jugendkleide in die größte Verlegenheit gerieth, weil ihm der Vogel zwar in Bezug auf die Form und Größe des Schnabels und das Gestrüpp unter demselben seinem Feinde ähnlich, im Gefieder aber durchaus unähnlich vorkam, und daß, als er endlich vor einem alten, gelben Bartgeier stand und denselben kaum erblickt hatte, er plötzlich ausrief: »Der isch's jitzt, das isch jitzt dä Schnabel, grad däwäg sy d'Flecke grieset gsi und so dä Ring um e Hals, und das isch jitzt s'G'strüpp.« Immer wieder kehrte der Knabe zu diesem Bartgeier mit hellgelbem Halse, Brust und Bauch zurück und anerkannte ihn als seinen Gegner. Immer wieder trat er erregt vor denselben hin mit der Erklärung: »das isch e, grad so isch er gsi!«

»So vereinzelt glücklicherweise Angriffe des Bartgeiers auf Menschen überhaupt sind und zumal auf solche in der Größe des angeführten Knaben dastehen«, fährt Girtanner fort, »zweifle ich wenigstens jetzt nicht mehr daran, daß sie vorkommen, überlasse es jedoch natürlich jedem, selbst davon zu halten, was immer er möge. Daß unser Bartgeier auch erwachsene Menschen, in der Hoffnung sie zu bewältigen, mörderisch überfallen, vom Felsenrande gestürzt, oder auf eine andere Art umgebracht habe, ist nie festgestellt worden. Ebenso wenig aber wollen sich solche Jäger, Alpenwanderer, Hirten, welche an gefährlicher Stelle im Gebirge verweilend, plötzlich den knarrenden, sausenden Flügelschlag des unmittelbar über ihrem Körper pfeilschnell am Felskopfe hin und in den gähnenden Abgrund hinausschießenden mächtigen Vogels in beängstigendster Weise selbst gespürt haben, einreden lassen, daß der reine Zufall den Weg desselben an jener Stelle durch und genau über die Länge ihres Leibes weggeführt habe. Ich könnte hierzu Belege geben, wie sie mir Männer wie Baldenstein, ein echter, ehemaliger rhätischer Bergjäger, aber auch ein gebildeter und zuverlässiger Beobachter und Berichterstatter, und auch andere nach ihren eigenen Erfahrungen mitgetheilt haben, und welche übereinstimmend das sehr unheimliche solcher Lagen in den einsamen Wildnissen beschreiben; indessen fehlen, wie bemerkt, sicher festgestellte Beispiele von hierdurch wirklich herbeigeführten Unglücksfällen. Nichtsdestoweniger möchte es in Wirklichkeit auch den größten Zweiflern gewagt erscheinen, das Nichtgelingen ernsthafter wiederholter Angriffe von seiner Dummheit und Schwäche zu erwarten.«

Unsere Kenntnis über die Fortpflanzung des Bartgeiers ist in den letzten Jahren durch verschiedene Beobachter wesentlich erweitert worden. Ziemlich übereinstimmend wird angegeben, daß auch dieser Vogel, wie so viele andere Mitglieder seiner Zunft, wiederholt in demselben Horste, im Süden auch ohne Bedenken unter anderen Geiern brütet. Ein Horst, welchen Lilford in Spanien besuchte, war, wie die Bewohner der nächsten Ortschaften versicherten, seit Menschengedenken [19] benutzt worden. In der Regel wählt der Bartgeier, nach anderer Raubvögel Art, eine geräumige Felsenhöhle an einer in den meisten Fällen unzugänglichen Felswand zu seiner Brutstätte; nach Mittheilungen meines Bruders kann es aber auch geschehen, daß er kaum zehn Meter über zugänglichem Boden nistet. Ob er selbst den Horst erbaut oder den eines anderen Raubvogels einfach in Beschlag nimmt, ist bis jetzt noch nicht ausgemacht, ebensowenig, als festgestellt werden konnte, ob ein und dasselbe Paar in jedem Jahre in dem nämlichen Horste brütet oder zwischen mehreren Niststellen wechselt. In der Schweiz wählt er, nach Girtanners Erhebungen, zu seiner Brutstätte eine Stelle an einer möglichst kahlen, unnahbaren Felswand ziemlich hoch oben im Gebirge, immer da, wo überhängendes Gestein ein schützendes Dach über einer geräumigen Nische bildet. Ein Sarde, dessen Girtanner gedenkt, will einen Horst auch auf drei nahe bei einander stehenden verstümmelten Eichen zunächst einem großen Felsblocke gefunden haben. Seinen Horst besucht der Vogel bereits in den letzten Monaten des Jahres regelmäßig; denn schon im Januar, spätestens in den ersten Tagen des Februar, beginnt er sein Brutgeschäft. In weitaus den meisten sicher festgestellten Fällen legt das Weibchen nur ein einziges Ei; doch bemerkt Saratz, daß am Camogaskerhorste bald ein, bald zwei Junge von der gegenüber liegenden Felswand aus bemerkt wurden, und hiermit stimmt auch eine später mitzutheilende Beobachtung von Adams überein. Die Eier sind groß, rundlich und grobkörnig, auf trübweißlichem Grunde mit kleineren und größeren, zuweilen auch sehr großen, aschgrauen oder rothgrauen Schalenflecken und ockergelben, braunrothen oder rothbraunen Tupfen und Flecken gezeichnet, welche unten oder um die Mitte des Eies dichter zusammenstehen. Wie lange die Brutzeit währt, ist nicht bekannt; man weiß nur, daß zu Anfang des März, spätestens im April, in der Schweiz wie in Südspanien und Nordafrika ausgeschlüpfte Junge bemerkt werden.

Der erste Naturforscher, welcher einen Horst des Geieradlers erstieg, scheint mein Bruder gewesen zu sein. Der Horst stand auf einem Felsenvorsprunge, welcher durch das etwas überhängende Gestein einigermaßen vor den Sonnenstrahlen geschützt war, kaum mehr als funfzehn Meter über dem Fuße des letzten Felsenkammes, war also verhältnismäßig leicht zu erreichen. Der Durchmesser des Unterbaues betrug ungefähr anderthalb Meter, der Durchmesser der etwa zwölf Centimeter tiefen Nestmulde sechzig Centimeter, die Höhe einen Meter. Dicke und lange Aeste, von der Stärke eines Kinderarmes bis zu der eines Daumens, bildeten den Unterbau; hierauf folgte eine dünne Schicht von Zweigen und Aestchen, zwischen denen die Nestmulde eingetieft war. Diese bestand aus denselben, aber etwas feineren Bestandtheilen und war innen mit Baststricken, Kuh- und Roßhaaren sorgfältig ausgekleidet. Um den Horst herum waren alle Felsplatten mit einer schneeweißen Kothkruste überzogen. Ein zweiter Horst in Griechenland wurde von Simpson bestiegen. Derselbe war, wie Krüper berichtet, aus starken Zweigen erbaut und mit verschiedenen Thierhaaren, besonders solchen von Ziegen, ganz durchwebt und innen flach ausgepolstert. Auf ihm saß ein drei Wochen altes Junges, dessen Tafel mit Knochen, einem ganzen Eselsfuße, Schildkröten und dergleichen reich bedeckt war. »Beide Eltern nahten und stießen zuweilen ein Pfeifen aus, welches dem eines Hirten nicht unähnlich klang.« Später zeigten sich die Alten noch ängstlicher: davon aber, daß sie einen Angriff versucht hätten, sagt Krüper kein Wort; die das Gegentheil berichtenden Erzählungen werden aber auch durch Salvin geradezu widerlegt. Alle Paare, welche der letztgenannte beim Horste beobachtete, während die Jungen ausgehoben wurden, hielten sich fern von dem zu ihren Jungen aufkletternden Menschen und kein einziges versuchte jemals einen Angriff. »Der Horst«, sagt Adams, »wird im Himalaya immer auf Felsen und unnahbaren Plätzen angelegt. Die Brutzeit fällt in die Monate April und Mai. In der Nähe von Simla fand ich einen mit zwei Jungen in der Höhle einer überhängenden Klippe. Eine reiche Knochensammlung von Schafen und anderen Herdenthieren lag umher. Es waren die Abfälle einer europäischen Niederlassung, einige Meilen von hier gelegen.«

Das Gefangenleben der Lämmergeier ist vielfach beobachtet worden und entspricht vollständig dem Charakterbilde, welches man bei Erforschung des Freilebens unseres Vogels gewinnt. Mein [20] Bruder erhielt einen jungen Bartgeier im Jugendkleide, welcher von zwei Hirten aus dem beschriebenen Horste genommen und zunächst einem Fleischer zum Auffüttern übergeben, von diesem aber seinem späteren Herrn abgetreten worden war. Die beiden alten Vögel hatten, als man ihnen ihr Junges rauben wollte, die Hirten nahe umkreist, ohne jedoch auf dieselben zu stoßen, sich auch nach einigen Steinwürfen entfernt und das Geschrei ihres Kindes nicht weiter beachtet.

»Als ich den jungen Geieradler zum ersten Male sah«, erzählt der genannte, »war er sehr unbeholfen und ungeschickt. Er trat noch nicht auf die Füße, sondern ließ sich, wenn er zum Auftreten gezwungen worden war, sofort wieder auf die Fußwurzeln nieder, legte sich auch wohl geradezu auf den Bauch. Die ihm vorgelegten Fleischstückchen ergriff er mit der Spitze des Schnabels, warf sie dann in die Höhe und fing sie geschickt wieder auf, worauf er sie begierig hinunterschlang. Knochen behagten ihm jetzt ebenso wenig als später; stopfte ich ihm solche, welche scharfe Ecken oder Kanten hatten, bis an den Kropf hinab, so würgte er so lange, bis er sie wieder ausspie.

Ich ließ ihn noch längere Zeit bei seinem ersten Besitzer, und von diesem verpflegen, besuchte ihn aber, da mich mein Beruf als Arzt wöchentlich einmal nach dem Dorfe führte, jedesmal. Er wohnte in einem engen Hofe, freute sich aber immer sehr, und gab dies mit lebhaftem Geschrei zu erkennen, wenn sein Herr ihm nahte. Bei Tage wurde er in die Sonne gesetzt und breitete dann sogleich Flügel und Schwanz aus, legte sich wohl auch auf den Bauch und streckte die Beine weit von sich; in dieser Stellung blieb er mit allen Anzeichen der höchsten Behaglichkeit stundenlang liegen, ohne sich zu rühren. Nach ungefähr einem Monate konnte er aufrecht stehen und begann nun auch zu trinken. Dabei hielt er das ihm vorgesetzte Gefäß mit einem Fuße fest, tauchte den Unterschnabel tief ein und warf mit rascher Kopfbewegung nach oben und hinten eine ziemliche Menge von Wasser in den weit geöffneten Rachen hinab, worauf er den Schnabel wieder schloß. Vier bis sechs Schlucke schienen zu seiner Sättigung ausreichend zu sein. Jetzt hackte er auch bereits nach den Händen und Füßen der Umstehenden, verschonte aber immer die seines Herrn. Ich ließ ihn noch einen Monat bei diesem, dann nahm ich ihn zu mir nach Murcia. Er war jetzt bis auf den Hals, dessen Krausenfedern oben hervorsproßten, vollkommen befiedert und sein Schwanz bedeutend, jedoch noch keineswegs zu voller Länge gewachsen. Er wurde in einen geräumigen Käfig gebracht und gewöhnte sich auch bald ein, nahm jedoch in den ersten beiden Tagen seines Aufenthaltes in dem neuen Raume keine Nahrung zu sich und trank nur Wasser. Nach Ablauf dieser Frist bekam er Hunger. Ich warf ihm Knochen vor: er rührte sie nicht an; sodann bekam er Köpfe, Eingeweide und Füße von welschen und anderen Hühnern: aber auch diese ließ er unberührt liegen. Als ich ihm Knochen einstopfte, brach er dieselben augenblicklich wieder aus, ebenso die Eingeweide der Hühner; erst viel später begann er Knochen zu fressen. Frisches Rind- und Schöpfenfleisch verschlang er stets mit Gier. Nachdem er das erste Mal in seinem Käfige gefressen hatte, legte er sich wieder platt auf den Sand, um auszuruhen und sich zu sonnen.

Schon nach wenigen Tagen kannte er mich und achtete mich als seinen Herrn. Er antwortete mir und kam, sobald ich ihn rief, zu mir heran, ließ sich streicheln und ruhig wegnehmen, während er augenblicklich die Nackenfedern sträubte, wenn ein Fremder nahte. Auf Bauern in der Tracht der Vega schien er besondere Wuth zu haben. So stürzte er mit heftigem Geschrei auf einen Knaben los, welcher seinen Käfig reinigen sollte, und zwang ihn mit Schnabelhieben, denselben zu verlassen. Einem Bauer, welcher ebenfalls in den Käfig ging, zerriß er Weste und Beinkleider. Nahte sich ein Hund oder eine Katze seinem Käfige, so sträubte er die Federn und stieß ein kurzes, zorniges ›Grik, grik, grik‹ aus, dagegen kam er regelmäßig an sein Gitter, wenn er meine Stimme vernahm, ließ erfreut und leise seinen einzigen Laut hören und gab auf jede Weise sein Vergnügen zu erkennen. So steckte er den Schnabel durch das Gitter und spielte mit meinen Fingern, welche ich ihm dreist in den Schnabel stecken durfte, ohne befürchten zu müssen, daß er mich beißen werde. Wenn ich ihn aus seinem Käfige herausließ, war er sehr vergnügt, spazierte lange im Hofe herum, breitete die Schwingen, putzte seine Federn und machte Flugversuche.

[21] Ich wusch ihm von Zeit zu Zeit die Spitzen seiner Schwung- und Schwanzfedern rein, weil er dieselben stets beschmutzte. Dabei wurde er in einen Wassertrog gesetzt und tüchtig eingenäßt. Diese Wäsche schien ihm entschieden das unangenehmste zu sein, was ihm geschehen konnte; er geberdete sich jedes Mal, wenn er gewaschen wurde, geradezu unsinnig und lernte den Trog sehr bald fürchten. Wenn er dann aber wieder trocken war, schien er sich höchst behaglich zu fühlen und es sehr gern zu sehen, daß ich ihm seine Federn wieder mit ordnen half.

In dieser Weise lebte er bis Ende Mai gleichmäßig fort. Er fraß allein, auch Knochen mit, niemals aber Geflügel. Ich versuchte es mit allerlei Vögeln: er erhielt Tauben, Haus- und Rothhühner, Enten, Blaudrosseln, Alpenkrähen, Blauröcke, gleichviel. Selbst wenn er sehr hungrig war, ließ er die Vögel liegen; stopfte ich ihm Vogelfleisch mit oder ohne Federn ein, so spie er es regelmäßig wieder aus. Dagegen verschlang er Säugethiere jeder Art ohne Widerstreben. Ich habe diesen Versuch unzählige Male wiederholt: das Ergebnis blieb immer dasselbe.

Ende Mai erhielt mein Liebling – denn das war er geworden – seiner würdige Gesellschaft. Ein Bauer meldete mir, daß er eine ›Aguila real‹ flügellahm geschossen habe und sie verkaufen wollte. Ich wies ihn ab, weil ich an einem Fleischfresser genug hatte. Der Mann kam aber doch wieder und brachte – die Mutter des jungen Geieradlers. Der verwundete Vogel lag auf seiner gesunden Seite regungslos vor mir und gab sein Unbehagen nur durch Oeffnen des Schnabels und Sträuben der Nackenfedern zu erkennen. Wenn sich ihm jemand nahte, verfolgte er dessen Bewegungen mit seinen Blicken, hackte mit dem Schnabel nach ihm und hielt das, was er erfaßt hatte, mit demselben fest. Ich löste ihm zunächst den verwundeten Flügel ab. Der durch die Wundhülfe verursachte Schmerz machte ihn wüthend; er biß heftig um sich und gebrauchte auch seine Klauen mit Geschick und Nachdruck.

Hierauf steckte ich ihn zu dem jungen Vogel. Er legte sich auch im Käfige sofort nieder und gab lautlos dieselben Zeichen seines Unwillens wie vorher. Der junge beschaute ihn neugierig von allen Seiten, und saß viertelstundenlang neben ihm, ohne seine Aufmerksamkeit zu erregen. Das ihm vorgeworfene Fleisch rührte er nicht an. Am anderen Tage saß er auf seinen Füßen; am dritten Tage ließ ich beide in den Hof heraus. Der alte ging mit gemessenen Schritten, mit lang herabhängenden Federhosen, erhobenem Schwanze und geöffnetem Schnabel auf und ab, scheinbar, ohne sich um seine Umgebung zu kümmern. Ich setzte ihnen Wasser vor; der junge lief eilig darauf los und begann zu trinken. Als dies der alte sah, ging er ebenfalls nach dem Gefäße hin und trank das langentbehrte Naß mit ersichtlichem Wohlbehagen. Gleich darauf wurde er munterer, und würgte zunächst das ihm eingestopfte Fleisch, das er bisher immer ausgespieen hatte, in den Kropf hinab. Das Fleisch von Geflügel verschmähte er ebenso, wie der junge es gethan hatte, und war niemals dazu zu bringen, auch das kleinste Stückchen davon zu verschlingen.

In sehr kurzer Zeit verlor der alte allen im Anfange gezeigten Trotz. Er wählte sich im Käfige einen Mauervorsprung zu seinem Sitze, und ließ, dort fußend, alles erdenkliche um sich geschehen, ohne es zu beachten. Wenn er in den Hof gebracht wurde, lief er stets schleunigst wieder in seinen Käfig. Nach wenigen Tagen durfte ich ihn streicheln.

Geraume Zeit später erhielten beide neue Gesellschaft, und zwar eine Dohle. Sie wurde nicht beachtet und bald so dreist, daß sie die durstigen Geieradler so lange von dem frischgefüllten Trinkgeschirre mit Schnabelhieben zurückscheuchte, als sie nicht selbst ihren Durst gestillt hatte, holte sich auch mit der größten Frechheit Brocken von dem Fleische, an welchem die Geieradler gerade fraßen. Beide ließen die kecke Genossin gewähren, warteten mit dumm erstaunten Blicken, bis sie getrunken hatte, und nahten sich dann schüchtern, um ebenfalls ihren Durst zu löschen. Ueberhaupt schien größte Gutmüthigkeit ein Hauptzug ihres Wesens zu sein. Wenn ich sie des Abends nebeneinander auf eine erhöhte Sitzstange setzte, konnte ich ruhig unter dieser weggehen, ohne daß einer von beiden jemals den Versuch gemacht hätte, mich zu beschädigen; vielmehr bog sich der junge zu mir herab, um sich streicheln zu lassen. Einen bereits flüggen Steinadler und zwei junge[22] Schmutzgeier, welche ich wenige Tage später erhielt, schienen die Bartgeier erstaunt zu betrachten, thaten ihnen jedoch ebenfalls nichts zu Leide; ja, der junge gab sogar zu, daß einer der Schmutzgeier sich auf sei nen Rücken setzte, wenn er sich im Sande ausstreckte. Als ich noch einen Habichtsadler zu dieser bunten Gesellschaft brachte, war die Ruhe für immer gestört. Aber auch dieser Vogel erhielt einen seiner würdigen Genossen. Man brachte mir einen dritten Aasgeier und einen Uhu. Der lichtscheue Finsterling suchte sich sofort einen stillen Winkel aus und schien sich katzenjämmerlich zu fühlen. Alle Insassen des Käfigs betrachteten den neuen Ankömmling mit deutlich ausgesprochener Neugier; sogar der junge Geieradler schien Theilnahme für ihn zu zeigen, ging zu ihm hin, besah ihn sorgfältig von allen Seiten, und begann schließlich das Gefieder des mürrischen Gastes mit dem Schnabel zu untersuchen. Augenblicklich fuhr der Nachtkönig auf und versetzte dem arglosen Bartgeier einige scharfe Klauenhiebe, fiel jedoch bald wieder grollend in seine Stellung zurück. Der Geieradler sah ihn nach diesem Wuthausbruche mit allen Zeichen des höchsten Erstaunens an und wandte ihm fernerhin den Rücken.

Gegen Abend setzte ich den größten Theil der Gesellschaft in folgender Ordnung auf die Sitzstange: zuerst den Steinadler, sodann den Uhu, neben diesen den jungen Bartgeier, hierauf einen Aasgeier, und zuletzt den alten Bartgeier. Der Habichtsadler blieb niemals sitzen. So lange ich im Käfige war, blieben alle in ihrer Stellung; sobald ich aber heraustrat, begann der junge Bartgeier sich jedesmal mit dem Uhu zu beschäftigen, und erntete dann auch regelmäßig die Grobheiten desselben. Trotzdem ließ jener seine Neckereien nicht eher, als bis der Uhu von der Sitzstange herabflog, wobei er aber gewöhnlich dem immer zum Kampfe bereiten Habichtsadler in die Klauen fiel. Wenn beide Störenfriede sich in die Federn geriethen, herrschte die größte Ruhe und Stille unter den übrigen; sie gaben dann neugierige, theilnahmlose Zuschauer ab.

Daß die rothe Farbe den Geieradlern gänzlich gleichgültig war, beweist der Umstand, daß mein rothgefütterter Schlafrock, dessen Inneres sie oft genug zu sehen bekamen, ihnen niemals ein Zeichen des Unwillens abzwingen konnte. Ebenso wenig zeigten sie gegen Kinder besondere Abneigung, wie dies Crespons vom sardinischen Geier beobachtet haben will. Wenn sie im Hofe herumliefen, gingen sie oft an einem spielenden Kinde vorüber, ohne es anzutasten oder auch nur eines Blickes zu würdigen. Nur wenn jemand sie in ihrem Käfige belästigte, wurde der junge ärgerlich, machte aber auch dann keinen Unterschied zwischen erwachsenen Personen oder Kindern.

Leider war der Käfig den Strahlen der spanischen Mittagssonne ausgesetzt, woher es wohl auch kommen mochte, daß der alte Bartgeier nach und nach er krankte und schließlich an einer Lungenentzündung sanft und ruhig verschied. Der junge Geieradler, die drei schmutzigen Aasgeier und der Habichtsadler blieben jedoch trotz der Hitze gesund und konnten nach Deutschland gesandt werden. Die Hitze, welche die Thiere unterweges auszustehen hatten, belästigte unseren Vogel sehr; er saß mit weit geöffnetem Schnabel und lechzte nach frischer Luft und nach Wasser. Nachdem wir ihn mehrere Male getränkt hatten, steckte er jedes Mal, wenn der Wagen hielt, seinen Kopf zwischen den Sprossen des Reisekäfigs durch, als wollte er wieder um Wasser bitten. Bei der Ueberfahrt nach Frankreich wußte er sich bald die Liebe aller Matrosen des Dampfschiffes zu erwerben, und wurde von ihnen reichlich mit Nahrung bedacht. Er saß oft ganz frei auf dem Decke, ohne den Versuch zu machen, seine gewaltigen Schwingen zu proben.«

Von anderweitigen Mittheilungen über das Gefangenleben des Bartgeiers will ich einzig und allein den Bericht Girtanners, welcher mir der belehrendste zu sein scheint, jedoch auch ihn nur im Auszuge wiedergeben. Zu Ende des Mai 1869 wurde der von meinem Freunde einige Monate gepflegte Vogel im Kanton Tessin vermittels des Fuchseisens gefangen. Die Falle hatte das eine Bein am Laufe erfaßt und die Strecksehne der Hinterzehe gänzlich durchgequetscht, und diese sich, da für sachgemäße Behandlung nichts geschehen war, nach vorn umgelegt, so daß der Fuß zum Theil lahm blieb. Der im übrigen gesunde Vogel gelangte nach zwei Monaten in Besitz Girtanners und in einer sehr reichhaltigen, geschickt angeordneten Ausstellung lebender Schweizer Vögel, welche [23] ich besuchte, zu verdienter Anerkennung. Während der Dauer der Ausstellung frei auf einer gepolsterten Kiste stehend und täglich durch hunderte von Besuchern beunruhigt, oft auch geneckt und erschreckt, blieb er in beständiger Aufregung, nahm in Anwesenheit von Fremden nie Speise zu sich, saß mit geöffnetem Schnabel hastig athmend da, ließ Flügel und Schwanz unschön hängen und machte den Eindruck eines kranken Vogels. Anfänglich erhob er sich bei dem Erscheinen seines Pflegers sofort, um für alle Fälle gerüstet zu sein; später ließ er sich durch diesen nicht mehr stören. »Während er«, sagt Girtanner wörtlich, »anfangs auch gegen mich die Nackenfedern sträubte und wie einen Strahlenkranz um den schmalen Kopf aufstellte, mich dabei grimmig anglotzte, theils ängstlich, theils zornig hin- und herlief, bei größerer Annäherung und jedem Versuche, ihn zu berühren sofort die Flügelbuge vorschob und mit dem Schnabel auszuhauen versuchte, in der irrigen Meinung, sich gegen mich vertheidigen zu müssen, mochte er wohl nicht denken, daß der Respekt ganz meinerseits war. Bald aber verlor sich durch ruhige Behandlung dieses Mißtrauen; er ließ in der Folge den Halskragen liegen und erkannte in mir bald seinen Pfleger. Die Halsfedern ganz besonders eng anziehend, so daß Hals und Kopf sehr klein erschienen, ließ er sich sogar berühren und im Gefieder an Hals und Brust krauen.« Das wunde Bein konnte nun untersucht werden, und der Vogel gestattete dies auch, obwohl er, wenn ihm die Streckung oder eine sonstige Berührung der Hinterzehe Schmerzen verursachte, mit dem Schnabel dann und wann immer wieder, aber ohne zu verletzen, nach der Hand fuhr. Solche Behandlung ließ er sich jedoch nur von Girtanner gefallen; Fremde wehrte er sofort ab, sobald er ihre Absicht, den Fuß zu berühren, merkte. Seinen früheren Besitzer erkannte er vierzehn Tage nach seinem Hiersein noch sehr wohl und ließ ihn alles mit sich vornehmen, was er auch Girtanner gestattete. Wollte er besonders gute Laune bezeigen, so hielt er, wenn seine Freunde ihm den Kopf krabbelten, den letzteren schief, schielte, in seinen Blick sichtbar eine gewisse Freundlichkeit legend, empor, schloß dabei die Augen und ließ einen feinen, piependen Pfiff hören.

Bald hatten Pfleger und Pflegling Zutrauen zu einander gewonnen und das unangenehme Verhältnis des »thust du mir nichts, so thu' ich dir auch nichts« war einem ganz gemüthlichen Verkehre gewichen. Nur wenn ihn sein Pfleger erschreckte, flammte sein Auge feurig auf, der Augenring erglänzte blutroth und erschien größer und dicker; er erhob dann auch wohl die Flügel drohend und setzte den Schnabel zu einem weitausholenden Hiebe in Bereitschaft, ließ sich aber durch freundliche Worte sofort beruhigen. Doch sollte auch Girtanner Gelegenheit haben, die gewaltige Kraft seiner verschiedenen Waffen kennen zu lernen. Die Untersuchung und Behandlung des verwundeten Fußes machte es nöthig, ihn von Zeit zu Zeit auf den Rücken zu legen. Dies war ihm jedoch entschieden das widerwärtigste, was ihm angethan werden konnte. Sobald er die hierzu nöthigen Vorkehrungen treffen sah, verwandelte sich seine Gemüthlichkeit in mit Wuth gepaarte Angst, und unser Forscher und sein Gehülfe mußten sich dann gegen seine Krallen und den schrecklichen Schnabel durch ein festes Tuch schützen. Wieder frei gelassen sprang er wüthend auf, breitete die Flügel weit aus, öffnete den Schnabel und hieb, sich um sich selbst drehend, blindlings um sich, beruhigte sich jedoch endlich wieder. Ein anderes Mal gab er einen Beweis seiner Kraft ohne schlimme Absichten dabei zu haben. Girtanner und sein Gehülfe waren damit beschäftigt, einen starken krummen Ast, bestimmt, zu einem zweiten Sitzplatze zu dienen, auf dem Boden zu befestigen, als plötzlich das Knarren seiner Schwingen hörbar wurde und in demselben Augenblicke jeder der beiden Herren einen Stoß von den Flügelbugen erhalten hatte, welcher sie zur Seite warf. Nachdem sich beide lachend vom Schrecke erholt hatten, sahen sie mit Erstaunen den Pflegling genau auf der Stelle jenes Astes sitzen, welche zwischen den Händen frei geblieben war. Nur einmal, und zwar aus Nothwehr, vergriff er sich an seinem Gebieter selbst, als dieser allein seine Wunde untersuchte und eine besonders empfindliche Stelle getroffen haben mochte. Blitzschnell machte er mit einem grellen Pfiffe einen Sprung in die Luft, entfaltete die Schwingen und hieb, sozusagen in der Luft stehend, mit seinen harten Schwungfedern kräftigst von unten ausholend [24] nach dem Gesichte seines Pflegers. »Von Schnabel und Krallen«, sagt Girtanner, »machte er glücklicher Weise keinen Gebrauch und konnte es in seiner Stellung wohl auch nicht; hingegen war meine Persönlichkeit dermaßen in die brausenden Federn, welche mir dabei scharf zwickend um den Kopf sausten, eingehüllt und so verblüfft, daß ich mir wohl denken kann, wie es mir bei der nämlichen Behandlung zu Muthe gewesen wäre, wenn dieselbe anstatt auf ebenem Boden an einer gefährlichen Stelle im Gebirge hart am Abgrunde stattgefunden, wobei sich mein Widersacher bei voller Kraft und freier Bewegung befunden und ihn der Hunger stets zu wiederholten Angriffen vermocht hätte. In jenem Augenblicke sah und hörte ich nichts mehr: ich suchte nur beförderlichst aus dem Wirkungskreise des Wütherichs zu kommen. Von seiner Flügelkraft, dem betäubenden Brausen und blendenden Zwicken der Schwingen bin ich nun genügend überzeugt.«

Da er sich in seinem Gefängnisse einsam fühlen mochte, erfreute ihn das jeweilige Erscheinen seines Pflegers ersichtlich. Sein Gruß bestand regelmäßig in einem feinen Pfiffe. Stand er auf dem Boden, so flog er sofort auf seinen Sitz, um in gleicher Höhe mit seinem Herrn zu sein, spielte mit dem Schnabel an dessen Uhrkette, steckte denselben da und dort in die Kleider, nestelte an seinem Freunde herum und suchte auf alle Weise gute Laune zu bezeugen. In der Hand festgehaltenes Stroh zog er unter fröhlichem Kichern hervor; Strohschnüre zerriß oder zerbiß er vergnüglich, kam auch sofort herbei, sobald er Girtanner Vorkehrungen treffen sah, solche zwischen den Fingern auszuspannen. Den scheinbar plumpen Schnabel wußte er aufs feinste zu benutzen, nahm beispielsweise erbsengroße Knochensplitterchen oder Markkörner mit Leichtigkeit auf, indem er den Schnabel flach hinlegte, sie zwischen den Spitzen des Ober- und Unterschnabels hielt und sie dann in den Schlund zurückwarf. Das starke Polster seiner Kiste riß er nach allen Richtungen hin auf, zog das Stroh heraus und spielte anhaltend damit.

Hunde fürchtete er ebensowenig als sie sich vor ihm; kamen sie ihm aber näher als er für nöthig hielt, so hieb er auch nach ihnen mit den Flügeln oder holte stehenbleibend mit dem Schnabel aus. Gegen Katzen hingegen benahm er sich ganz so, wie schon Scheitlin geschildert. Girtanner war begierig, dies selbst zu prüfen. »Endlich«, sagt er, »verlief sich ein solcher Mauser in sein Gemach. Rasch schloß ich ab ohne mich zu zeigen. Kaum hatte die Katze ihren Feind bemerkt, welcher übrigens durch das Gitter von ihr getrennt war, als sie laut heulend, wie ich es bei einer Katze in dieser Art und mit diesem Ausdrucke der größten Todesangst nie vernommen habe, halb gelähmt vor Schreck und Furcht im Zimmer umherzuschleichen beginnt. Plötzlich aber wagt sie einen gewaltigen Sprung nach einem in der Höhe angebrachten offenen Fenster und ist, ohne sich nochmals umgesehen zu haben, verschwunden.«

Als der Fuß unserem Bartgeier nicht mehr zu schmerzen schien, zog er Steine als Sitze dem Polster vor. Oft saß er lange Zeit unbeweglich da in halb oder ganz gesenkter, scheinbar sehr unbequemer Stellung mit eingezogenem, zurückgelegtem, aber meist vorgestrecktem Kopfe, welcher dann mit dem Körper und Schwanze eine gerade Linie bildete. Da Girtanner bemerkt hatte, daß er nachts gern im Strohe liege, brachte er ihm eine mit Stroh gefüllte Kiste. Kaum ließ er ihm Zeit, dieselbe niederzusetzen, als er auch schon hereinflog und es sich mit Wohlbehagen darin bequem machte. Fortan ruhte er jede Nacht in ihr, indem er sich ganz auf das Brustbein und die Fersen niedersenkte, den Kopf auf den Rand legte und ebenso den Schwanz frei über denselben hinausstehen ließ. Wollte ihn sein Pfleger in einen anderen Raum bringen, so lief er ihm auf einem Gange auf dem Fuße nach. Rief er ihn sodann wieder, so kam er sogleich eiligen Schrittes und fröhlich piepend daher gelaufen. So zutraulich verkehrte er aber nur, wenn außer seinem Freunde niemand zugegen war. Wasser trank er sehr viel, versuchte auch zu baden, verspritzte jedoch stets eine große Menge Wassers, ohne seinen Zweck zu erreichen, da er sich in dem zugespitzten Gefäße völlig niederlegen wollte. Girtanner übergoß ihn daher von Zeit zu Zeit mit einer Brause, was ihm wohl zu behagen schien; denn er streckte sodann die Flügel weit ausgespannt von sich, ließ sie an der Sonne trocknen, putzte und ordnete das Gefieder und fettete es zuletzt [25] ein. Seine Nahrung bestand in der Hauptsache aus rohem Rindfleische. Ein halbes Pfund davon befriedigte ihn für den Tag. Außerdem erhielt er gelegentlich Kaninchen, Katzen, Meerschweinchen usw. Vögel ließ auch er beharrlich liegen. Lebenden Kaninchen setzte er, mit einem Fuße auf sie tretend, ganz bedächtig den Haken am Kopfe ein, kneipte seine Zange zu: ein Ruck und ein Druck, und das kleine Opfer war todt. Dies ging alles mit der größten Ruhe vor sich, ohne die geringste Gier oder Mordlust. Er begann immer hinter den Ohren zu fressen, schälte hierauf den Körper aus der Haut und verschluckte davon je nach Bedürfnis, ließ aber immer einen Theil übrig. An stark riechendes Fleisch ging er nicht. Knochen waren ihm ebensosehr Bedürfnis als Fleisch, allem aber zog er Knochenmark vor. Beinahe faustgroße Stücke von Röhrenknochen schlang er hinunter, ob er auch dabei zu ersticken drohte, wenn er gesehen hatte, daß die Markhöhlen noch gefüllt waren, wogegen er ebenso große Röhren liegen ließ. Im Hunger füllte er seinen Sack auch mit alten, längst ausgekochten, trockenen Knochen an. Messerscharfe Kanten an demselben, nadelfeine Spitzen und Ecken behelligten ihn nicht im mindesten; einer nach dem anderen wanderte in den Schlund. War der Kropf scheinbar voll, so führte er einige heftige Schlingbewegungen aus, bei denen er den Kopf fast völlig um seine Achse drehte, und man konnte dann deutlich das knarrende Reiben der spitzigen Knochen, welche sich im Vormagen über einander schoben, hören. Kaum aber begriff man, daß die dünnen Wandungen durch sie nicht durchbohrt wurden. Nach einer solchen Hauptmahlzeit saß er ruhig mit stark vorstehendem Vormagen da, Kropf und Hals dem Gewichte des vollen Magens folgen lassend, tief gesenkt, oft mit offenem Schnabel mühsam athmend und lag dem Verdauungsgeschäfte ob. Durch einzelne, von Zeit zu Zeit sich folgende Schlingbewegungen unterstützte er das Nachrücken der hinreichend zersetzten und erweichten Knochen aus dem Vormagen in den Magen. Hatte er des Abends eine Knochenfütterung vorgenommen, so schmeißte er am folgenden Morgen schon halbfeste, graugelbe, ziemlich große Kalkmassen, nach Fleischnahrung dagegen war der Koth flüssig, weiß, mit schwarzer und grüner Gallenbeimengung. Waren viele Haare verschlungen worden, so konnte man dieselben im Kothe der nächsten Knochenmahlzeit wieder vorfinden, nicht verdaut zwar, aber auch nicht zusammengeballt, sondern ringförmig in denselben eingelagert. Ein einziges Mal innerhalb eines halben Jahres und zwar nach einem besonders reichlichen Katzenfraße, warf er einen Gewöllballen aus. Sperrten sich bei hitzigem Fressen spitzige Knochen im Schlunde querüber, so würgte er sie oft unter großen Mühsalen und Schmerzenslauten wieder aus, wobei meist eine ziemliche Menge des ekelhaft riechenden, fast farblosen Magensaftes aus dem Schnabel rann. Geschickter warf er die Stücke sofort wieder herunter, und einige Stunden nachher fühlte sich der Kropf wieder weich und halb leer an. Letzterer wurde durch ein bis anderthalb Pfund Fleisch strotzend gefüllt.

Beinahe acht Monate nach seiner Gefangennahme erkrankte der Vogel, fraß nicht mehr, schmeißte in den nächsten Tagen rein dunkelgrüne Galle, wurde immer schlaffer, seine Laune stets schlechter, das Auge matter, der Augenring blasser, bis er zuletzt gelb- und röthlichgefleckt und gestreift erschien, und war am vierzehnten Tage nach Beginn seiner Krankheit eine Leiche. Die Untersuchung ergab allgemeine Fettsucht als Todesursache.

Eine von Girtanner vorgenommene Vergleichung der von ihm an seinem Pfleglinge und von früheren Beobachtern an anderen gefangenen schweizerischen Bartgeiern gesammelten Erfahrungen ergibt, daß sich junge, in die Gefangenschaft gerathene Geieradler sehr zu ihrem Vortheile von alten unterscheiden. Diese erweisen sich als träge, dumm und trotzig und wollen nie in ein trauliches Verhältnis zu Menschen treten, wogegen die jungen nicht nur viel beweglicher sind, sondern auch weit mehr Fassungsgabe bekunden, sich geistig und körperlich selbständiger zeigen, mit ihren Pflegern in vertraulicheren Verkehr treten und deshalb weit richtigere Einblicke in ihr Betragen in der Freiheit erlauben als die alten. Einer, welchen Baldenstein sieben Monate lang pflegte, benahm sich im wesentlichen ebenso wie der vorhin geschilderte und faßte dieselbe Zuneigung zu seinem Gebieter wie der Girtanners zu diesem. So wußte er sein Bedürfnis nach Bädern aufs deutlichste[26] dadurch anzuzeigen, daß er sich mit den Flügeln schwimmend und mit dem Schwanze hin und herfegend auf dem Boden niederkauerte und alle Bewegungen eines badenden Vogels so deutlich darstellte, daß Baldenstein sofort eine gefüllte Wanne holte, in welche der Vogel ungesäumt sich stürzte und nun alle Bewegungen, welche er vorher im trockenen ausgeführt, jetzt mit dem größten Behagen im Wasser wiederholte, sich im Bade fast völlig untertauchend und gänzlich einnässend. Neckte Baldenstein seinen Vogel zu arg, so machte dieser unschädliche Scheinangriffe auf seinen Gebieter, so innig er diesem sich auch angeschlossen und so bestimmt er auch in ihm seinen Wohlthäter erkannt hatte. Wenn er auf dem Tische stand, war sein Kopf in gleicher Höhe mit dem seines Herrn, und beide hielten Unterredungen mit einander. Der Bartgeier krabbelte seinem Pfleger mit dem Schnabel im Backenbarte herum oder steckte ihn beim Handgelenke in die Aermel und ließ dabei sein gemüthliches »Gich« hören. Baldenstein dagegen konnte ihn streicheln wie er wollte, ohne daß er jemals Mißtrauen zeigte. Fremden gegenüber benahm er sich ganz anders. Ein ebenfalls junger Vogel, welchen Amstein pflegte, flog, als sein Gebieter sich anschickte, ihn abzumalen, und ihn deshalb vor sich hingesetzt hatte, von Zeit zu Zeit auf die Schulter sei nes Herrn und schmeichelte diesem mit dem Schnabel, da er wohl begriff, daß man etwas mit ihm vorhatte, über dessen Folgen aber nicht klar war. Daß aber auch anscheinend höchst gutmüthige Bartgeier zuweilen sich erzürnen, erfuhr Salis von einem, welcher ein Jahr lang gefangen gehalten und mit einem Taubenhabichte längere Zeit zusammengesperrt war. Als dieser ihm jedoch einst ein Stück Fleisch streitig machen wollte, erglühte sein Auge, die Halsfedern sträubten sich, ein Griff mit der Kralle nach der Brust des Habichts, und derselbe lag in den letzten Zuckungen neben ihm, während der Mörder, als wäre nichts von Bedeutung vorgefallen, weiterfraß.

Der Schaden, welchen der freilebende Bartgeier dem Menschen zufügt, ist gering, läßt sich mindestens mit dem vom Steinadler verursachten nicht vergleichen. Im Süden, wo Aas und Knochen, Schildkröten und andere kleinere Thiere ihn mühelos ernähren, erlaubt er sich nur ausnahmsweise Uebergriffe auf menschliches Besitzthum, und in der Schweiz ist er selbst so selten geworden, daß seine Räubereien hier auch nicht besonders ins Gewicht fallen. Von einem erheblichen Nutzen, welchen er stiften könnte, ist freilich ebensowenig zu reden, es sei denn, daß man der Tuaregs gedenken wollte, welche diesen, bei ihnen gemeinen Vogel seines Fleisches und Fettes wegen erlegen, um ersteres zu verspeisen und letzteres als Mittel gegen den Biß giftiger Schlangen zu verwenden. Da, wo der Bartgeier häufig auftritt, führt er ein ziemlich unbehelligtes Leben. Man verfolgt ihn nicht, wenigstens nur, um der Jagdlust Genüge zu thun, nicht aber aus Gründen der Nothwehr. Demungeachtet bleibt der Mensch der schlimmste Feind des Vogels; denn er schädigt ihn, wenn nicht unmittelbar, so doch mittelbar durch weiter und weiter umsichgreifende Besitznahme derjenigen Gebiete, in denen er vormals ungehindert herrschte oder noch heutigen Tages ein freies Leben führt. Zwar wird auch er von niederen Raubvögeln, namentlich Habichtsadlern, kleinen Falken, und ebenso von Krähen vielfach geneckt und geplagt, nicht minder von allerlei Schmarotzern gequält; alle diese Feinde zusammengenommen aber sind nicht im Stande, sein Leben zu verbittern. Der Herr der Erde allein ist es, welcher ihn weiter und weiter zurückdrängt und aus einzelnen Theilen seines Verbreitungsgebietes gänzlich vertreibt. Ueber die Jagd selbst wie den Fang ist wenig zu berichten. Wen der Zufall nicht begünstigt, wem nicht ein Horst die Jagd erleichtert, darf sich nicht verdrießen lassen, in der Nähe eines Aases tagelang zu lauern, wie wir es, jedoch vergeblich, in Spanien gethan haben, oder aber wochenlang nach einander an gewissen Gebirgszügen sich aufzustellen, in der Hoffnung, einen vorüberstreichenden Geieradler zu erlegen. Eher noch führt ein geschickt aufgestelltes Fuchseisen zum Ziele; doch muß dasselbe wohl befestigt werden, damit es der Vogel nicht losreißt und wegschleppt. Gefahr bringt die Jagd in keiner Weise. Auch verwundete Bartgeier denken nicht daran, sich dem Menschen gegenüber zur Wehre zu setzen, wie dies die Gänsegeier regelmäßig thun. Nach meinen eigenen Erfahrungen sträuben sie die Nackenfedern und sperren den Schnabel möglichst weit auf, versuchen mit diesem [27] allerdings auch ihren Gegner zu packen, sind aber leicht gebändigt. Ihre Lebenszähigkeit ist sehr groß; nur ein gut angebrachter Schuß tödtet sie augenblicklich. Ich schoß einem fliegenden eine Kugel durch den Leib, welche das Zwerchfell und die ganze Leber zerrissen und neben den Lendenwirbeln ihren Ausgang gefunden hatte. Der Vogel stürzte zwar sofort zum Boden hernieder, lebte aber noch volle sechsunddreißig Stunden, bevor er an Eitervergiftung starb.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 8-28.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Prinzessin Brambilla

Prinzessin Brambilla

Inspiriert von den Kupferstichen von Jacques Callot schreibt E. T. A. Hoffmann die Geschichte des wenig talentierten Schauspielers Giglio der die seltsame Prinzessin Brambilla zu lieben glaubt.

110 Seiten, 4.40 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon