IV. Von den Urtheilen, die ein sich selbst überlassener Mensch über die Dinge, von denen er abhängig ist, fällen kann.

[199] 1. Jeden Augenblick empfindet die Statue ihre Abhängigkeit von Allem, was sie umgiebt. Wenn die Dinge auch oft ihren Wünschen entsprechen, so durchkreuzen sie ihre Absichten fast eben so oft, machen sie unglücklich oder gestatten ihr das Glück, welches sie begehrt, nur theilweise.

In der Ueberzeugung, dass sie nichts thut, ohne es beabsichtigt zu haben, glaubt sie überall, wo sie eine[199] Wirkung entdeckt, eine Absicht zu sehen. Sie kann in der That darüber nur nach dem urtheilen, was sie an sich selbst bemerkt, und es würden viele Beobachtungen nöthig sein, wenn es ihr gelingen soll, ihre Urtheile zu berichtigen. Sie denkt mithin, was ihr gefällt, habe die Absicht, ihr zu gefallen, und was sie unangenehm berührt, habe die Absicht, sie unangenehm zu berühren. Darum werden ihre Liebe und ihr Hass um so heftigere Leidenschaften, je deutlicher sich in Allem, was auf sie wirkt, die Absicht zeigt, zu ihrem Glück oder ihrem Unglück beizutragen.

2. Alsdann begehrt sie nicht mehr bloss den Genuss der Freuden, den ihr die Dinge verschaffen können, und die Abwendung der Leiden, mit denen sie ihr drohen, sondern wünscht, dass sie die Absicht haben, sie mit Gütern zu überhäufen und jegliches Uebel von ihrem Haupte abzuwenden, kurz, sie wünscht, dass sie ihr günstig seien, und dieses Verlangen ist eine Art Gebet.

Sie wendet sich in ihrer Weise an die Sonne, und weil sie meint, dass diese, wenn sie ihr leuchtet und sie erwärmt, die Absicht habe, ihr zu leuchten und sie zu wärmen, so bittet sie dieselbe, auch ferner ihr zu leuchten und sie zu erwärmen. Sie wendet sich an die Bäume und verlangt Früchte von ihnen, weil sie nicht zweifelt, dass es von ihnen abhängt, ob sie welche tragen wollen oder nicht, kurz, sie wendet sich an Alles, von dem sie abhängig zu sein glaubt.

Leidet sie, ohne die Ursache davon in dem zu erkennen, was ihre Sinne erregt, so wendet sie sich an den Schmerz wie an einen unsichtbaren Feind, an dessen Besänftigung ihr liegt. So füllt sich das All mit sichtbaren und unsichtbaren Wesen, welche sie an ihrem Glücke mitzuarbeiten bittet.

Derart sind ihre ersten Vorstellungen, wenn sie anfängt, über ihre Abhängigkeit nachzudenken. Andere Umstände werden zu andern Urtheilen Veranlassung geben und ihre Irrthümer vermehren. Ich habe anderwärts auf die Verirrungen hingewiesen, in die man durch Aberglauben gerathen kann; wenn man sich aber über die Entdeckungen unterrichten will, welche die recht geleitete[200] Vernunft in dieser Hinsicht machen kann, so verweise ich auf die Werke der aufgeklärten Philosophen.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 199-201.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Abhandlung über die Empfindungen
Abhandlungen über die Empfindungen.