§ 15. Die Methode der Naturwissenschaft

[48] Die Naturwissenschaft stützt sich, wie die übrigen Wissenschaften überhaupt, nur auf die Erfahrung; ihr Glück und Gedeihen hängt daher von dem der Erfahrung ab. Deswegen ist es notwendig, daß an die Stelle der bisherigen Weise der Erfahrung eine andere und vernünftigere Weise trete. Bisher schweiften nämlich die Menschen im Gebiete[48] der Erfahrung nur flüchtig herum, ohne einen bestimmten Weg und Plan zu verfolgen. So hat z.B. der Fleiß der Chymiker manche Entdeckungen gemacht, aber gleichsam nur zufällig und unabsichtlich oder nur durch gewisse Veränderungen der Experimente, nicht in Folge einer bestimmten Methode oder Theorie. Eine Erfahrung aber, die durch keine bestimmte Methode geleitet wird und nur sich selbst überlassen ist, ist nur ein blindes Herumtappen. (l. c., A. 73, 70, 108, 82)

Der Sinn nämlich ebensowohl als der Verstand sind für sich allein nicht hinreichend zur Erfahrung und Erkenntnis; sie bedürfen bestimmter Hülfsmittel, d. i. einer bestimmten Aufsicht und leitender Regeln, einer bestimmten gesetzmäßigen Anweisung und Methode. Denn der Sinn für sich selbst ist schwach und täuscht, selbst Werkzeuge erhöhen nicht um einen bedeutenden Grad seine Kraft, daher alle wahre Erfahrungserkenntnis der Natur, die keine willkürliche Deutung der Natur nach vorausgesetzten Meinungen (keine anticipatio), sondern eine getreue Übersetzung (interpretatio) der Natur ist, nur durch eine genaue, spezielle Beachtung aller Instanzen und die Anwendung geschickter Experimente, wo der Sinn bloß über das Experiment, das Experiment aber über die Sache selbst urteilt, zustande kommt. Der Verstand aber, wenn er sich selbst nur überlassen ist, nicht unter der Leitung einer bestimmten Methode steht, fliegt unmittelbar vom Sinnlichen zum Übersinnlichen, vom Besondern zum Allgemeinen empor, um sich daran zu laben und zu begnügen, indem er bald der Erfahrung überdrüssig wird. (l. c., A. 50, 37›19, 20)

Wie die bloße Hand ohne Instrumente wenig ausrichtet, so auch der sich selbst überlassene Verstand; er bedarf daher wie sie Instrumente. Nur durch die Kunst wird der Geist den Dingen gewachsen. (l. c., A. 2; »De Augm. Sc.«, V. 2)

Dieses Instrument der Instrumente, dieses geistige Organ,[49] diese Methode, die allein die Erfahrung zu einer sichern und erfolgreichen Experimentierkunst erhebt, ist die Induktion38, von der daher allein das Heil der Wissenschaften abhängt.

Die Induktion aber, die allein den Wissenschaften eine glückliche Zukunft verbürgt, ist wohl zu unterscheiden von der bisher üblichen Induktion, denn diese eilt im Fluge von dem Sinnlichen und Besondern hinauf zu den allgemeinsten Axiomen, stellt sie sogleich als unerschütterlich wahre Sätze auf und macht sie dann zu den Prinzipien, aus denen sie die mittleren oder besonderen Sätze ableitet; die neue, bisher noch unversuchte, aber allein wahre Induktion dagegen kommt erst ganz zuletzt zu den allgemeinern Sätzen, steigt vom Sinnlichen und Besondern nur nach und nach, in einem ununterbrochenen Stufengange zu ihnen hinauf. (»N. O.«, I, A. 19)

Die Induktion, die übrigens nicht bloß die Methode der Naturwissenschaft, sondern aller Wissenschaft, wurde bisher nur zur Auffindung der Prinzipien angewandt, die mittlern und untern Sätze aber wurden dann aus ihnen vermittelst des Syllogismus abgeleitet. Allein es ist offenbar, daß wenigstens im Gebiete der Naturwissenschaft, deren Gegenstände materiell bestimmt sind, die untern Sätze durch den Syllogismus nicht sicher und richtig abgeleitet werden können denn im Syllogismus werden die Sätze durch Mittelsätze auf die Prinzipien zurückgeführt, aber eben diese Methode des Beweisens oder Erfindens hat nur in den populären Wissenschaften wie Ethik, Politik seine Anwendung. Die Induktion muß daher ebensowohl zur Entdeckung der allgemeinen als der besondern Sätze angewandt werden. (l. c., A. 127; »De Augm. Sc.«, V, c. 2)

Die ältere und neuere Induktion haben zwar das miteinander gemein, daß beide mit dem Besondern anfangen und im Allgemeinen endigen, sie unterscheiden sich aber wesentlich dadurch, daß jene nur in aller Eile das Gebiet der Erfahrung durchstreift, diese aber mit der gehörigen Umsicht und Ruhe in ihm verweilt, jene schon gleich vom Anfang an unfruchtbare allgemeine Sätze aufstellt, diese aber[50] nur stufenweise sich zum wahrhaft Allgemeinen erhebt und so die Wissenschaft fruchtbar macht, denn nur die Axiome, die im gehörigen Stufengange und mit der erforderlichen Umsicht vom Besondern abgezogen werden, entdecken uns wieder Besonderes, führen uns zu neuen Erfindungen und machen so die Wissenschaft fruchtbar und produktiv. (»N. O.«, I, A. 22, 24, 104)

Die wahre Induktion ist also eine ganz andere als die bisher gebräuchliche. Denn die bisherige Induktion, deren Verfahren in einer simplen Aufzählung von Exempeln besteht, ist etwas Kindisches, erbettelt nur ihre Schlüsse, hat von jeder widersprechenden Instanz eine Widerlegung ihrer Schlüsse zu befürchten und richtet sich in ihren Aussprüchen nach viel zu wenigen Fällen, als sich gehört, und selbst unter diesen nur nach solchen, die eben gerade bei der Hand sind, nach den ganz gemeinen und gewöhnlichen Fällen. Die wahre Induktion dagegen zergliedert und trennt die Natur durch gehörige Ausschließungen und Ausscheidungen und schließt auf die affirmativen Bestimmungen einer Sache erst dann, wenn sie eine hinreichende Anzahl verneinender Instanzen gesammelt und untersucht und alle Bestimmungen, die nicht wesentlich zur Sache gehören, von ihr ausgeschlossen hat. (l. c., A. 105, 69; »De Augm. Sc.«, l. c.)

Gott und vielleicht auch den Geistern kommt wohl die Kraft zu, unmittelbar auf dem Wege bloßer Affirmation, schon mit dem ersten Blicke die Dinge zu erkennen, wie sie sind, aber dem Menschen ist es nur vergönnt, erst durch vorausgegangene Unterscheidung und Ausschließung der negativen Fälle die affirmativen Bestimmungen einer Sache zu ermitteln. Die Natur muß daher förmlich anatomiert und zerlegt werden, freilich nicht vermittelst des Feuers der Natur, sondern des göttlichen Feuers des Geistes. Die Aufgabe der wahren Induktion ist also, das Ja erst auf das Nein, die Affirmation erst auf die Negation folgen zu lassen, erst dann eine Sache positiv zu bestimmen, wenn sie alle Bestimmungen, die nicht zu ihr gehören, von ihr abgesondert und weggeworfen hat. (»N. O.«, II, A. 15, 16)

Wenn also irgendein konkreter Gegenstand, z.B. die Wärme, untersucht und ihr Wesen aufgefunden werden soll, so muß nach den Gesetzen der wahren Induktion diese Untersuchung folgendermaßen angestellt werden. Zuerst[51] muß ein Verzeichnis von allen Dingen gemacht werden, die ungeachtet der verschiedenen Materie, woraus sie bestehen die Beschaffenheit der Wärme miteinander gemein haben, d. i. warm oder doch empfänglich für die Wärme sind, wie z.B. die Strahlen der Sonne, zumal im Sommer und mittags, die reflektierten und kondensierten Sonnenstrahlen, die feurigen Meteore, die zündenden Blitze, die erwärmten Flüssigkeiten, kurz, alle Körper, sowohl feste als flüssige, sowohl dichte als dünne (wie z.B. die Luft selbst ist), die auf eine Zeit dem Feuer genähert wurden, usw. (»N. O.«, II, A. 11)

Dann muß das Verzeichnis von den entgegengesetzten, den negativen Instanzen gegeben werden, d.h. nicht nur überhaupt von den Dingen, denen die Beschaffenheit der Wärme abgeht, die aber übrigens die größte Verwandtschaft mit den Dingen haben, welchen die Beschaffenheit der Wärme zukommt39, wie z.B. die Strahlen des Mondes, der Sterne und Kometen, die für das Gefühl keine Wärme haben, sondern auch von den besondern Einschränkungen oder Limitationen der affirmativen Instanzen.

Hierauf muß eine Vergleichung zwischen den warmen oder wärmefähigen Materien angestellt und die Verschiedenheit der Wärmegrade derselben bemerkt werden, und zwar stufenweise von den Materien an, die durchaus keinen bestimmten Wärmegrad für das Gefühl, nur die Möglichkeit der Wärme oder Empfänglichkeit für sie haben, bis zu den Materien hinauf, die wirklich oder dem Gefühl nach warm sind. (l. c., A. 13)

Nachdem dieses geschehen ist, folgt erst der wichtigste Akt, mit dem daher auch erst eigentlich das Geschäft der Induktion angeht, der Akt der Ausschließung aller Bestimmungen, die nicht zum Wesen der Wärme gehören, z.B. der Bestimmung der Himmlischkeit, weil sie nicht nur den Himmelskörpern, sondern auch dem gemeinen, irdischen Feuer zu[52] kommt, der Bestimmung der Dünnheit, weil auch die dichtesten Materien, wie das Metall, warm sein können, der Bestimmung der örtlichen Fortbewegung, usw. (l. c., A. 18 et 20). Erst nach diesen Negationen kommt dann endlich die wahre Induktion zur Position, zur affirmativen Bestimmung des Wesens der Wärme.

Sosehr sich aber die wahre Induktion von der bisher üblichen unterscheidet, sosehr unterscheidet sie sich auch von der Methode der Empirie. Denn die Empirie kommt nicht über das Besondere hinaus, sie schreitet immer nur von Erfahrungen zu Erfahrungen, von Versuchen zu neuen Versuchen fort; die Induktion dagegen zieht aus den Versuchen und Erfahrungen die Ursachen und allgemeinen Sätze heraus und leitet dann wieder neue Erfahrungen und Versuche aus diesen Ursachen und allgemeinen Sätzen oder Prinzipien ab. Die Induktion bleibt daher nicht auf der Ebene stehen, sie steigt gleichsam immer bergauf, bergab, hinauf zu den allgemeinen Sätzen, herab zu den Experimenten. (l. c., I, A. 117, 103, 82)

38

»Spes est una in inductione vera.« »N. O.«, I, A. 14.

39

Es stand hier in der ersten Ausgabe ebenso wie am Schlusse des § 11 eine tadelnde Bemerkung über die Methode B.s. Ich habe sie aber gestrichen, nach abermaliger Lektüre des »Neuen Organs« und anderer Schriften B.s von ihrer Unrichtigkeit und Oberflächlichkeit überzeugt. Es wurde nämlich bemerkt, daß B. »uns dem Zufall preis gebe und, statt die langen Wege der Erfahrung zu verkürzen, sie bis ins Ziellose ausdehne«. Allerdings ist die Erfahrung ein langsamer Weg; aber eben die »contractio inquisitionis« ist selbst ein Moment der B.schen Methode. Das ganze II. Buch des »Nov. Org.« beschäftigt sich mit den Prärogativen der Instanzen, d.h. mit solchen Instanzen, welche die Induktion abkürzen, den Nagel auf den Kopf treffen. Nur das dürfte in dieser Beziehung an B. auszusetzen sein daß er nicht das Talent das Ingenium mit in Anschlag bringt, gleich als könnte dieses durch eine Methode ersetzt oder gar überflüssig gemacht werden.

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 48-53.
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