§ 59. Der wahre Sinn und Gehalt der Cartesischen Geistesphilosophie

[197] Was ist denn nun aber dieser Geist des C., der, um seiner Existenz und Realität gewiß zu sein, nur zu denken braucht, der ist, indem und inwiefern er denkt, dessen Wesen einzig und allein das Denken ist? Existiert denn wirklich ein solcher, vom Körper und allem Sinnlichen sich absondern könnender und abgesonderter, ein solcher abstrakter Geist? Ist dieser Geist nicht etwa bloß eine subjektive Abstraktion, die C. nur macht, sondern auch eine objektiv-reale Abstraktion? Der Geist, den C. und wie er ihn erfaßte, hat seinen entsprechenden, ihn am bestimmtesten bezeichnenden Ausdruck wie seine Wirklichkeit in dem, was Ich oder Selbst heißt. Der Geist, der und inwiefern er von allem Körperlichen sich absondert, es als Fremdes (rem alienam), nicht zu ihm Gehöriges und mit ihm Identisches von sich ausschließt,[197] in dieser Absonderung und Unterscheidung seine positive Bestimmung hat, der nur ist, inwiefern und indem er denket, d. i., dessen Wesen nur das Denken ist, und zwar in der Bedeutung, die es bei C. hat, in der Bedeutung, nichts weiter zu sein als das Bewußtsein, die Selbstgewißheit, als die vom Körper sich unterscheidende Beziehung auf sich selbst, ist nichts andres als das Ich oder Selbst oder der Geist, inwiefern er Ich oder Selbst ist, und jeder Mensch erfaßt sich unbewußt, zumal aber der Gebildete, in dieser Absonderung und Unterscheidung vom Körperlichen und Sinnlichen und ist darin Geist, näher Selbst, Ich, er mag nun religiös, praktisch oder philosophisch diesen Unterschied machen So gewiß daher das Selbst existiert, so gewiß hat der Geist des C. Existenz. In der Wirklichkeit ist freilich das Selbst immer ein bestimmtes, verschiedenes, in mannigfachen Zuhängen, aber die Aufgabe des Philosophen ist eben, eine Sache für sich selbst herauszuheben; denn nur so kommt ihre wahre Wirklichkeit, ihr wahres Wesen zum Vorschein. – C. sagt selbst: »Nec aliam ob causam aliter (andres nämlich, als C., wenn er behauptet, der Geist sei gewisser und bekannter als der Körper) visum est iis, qui non ordine philosophati sunt, quam quia mentem a corpore nunquam satis accurate distinxerunt. Et quamvis sibi certius esse putârint, se ipsos existere, quam quidquam aliud, non tamen adverterunt, per se ipsos mentes solas hoc in loco fuisse intelligendas.« (»Princ. Phil.«, P. I, § 12)

Das »Cogito, dubito ergo sum« ist im wahren Geiste des C. nichts andres als das Wesen des Geistes, der ganze Geist selbst, oder der Begriff und die Definition des Geistes. Zufolge des Übelstandes aber, daß er von richtigen philosophischen Gedanken zu populären Vorstellungen herabfällt und seine Gedanken nicht streng zusammenhält, trennt C. den Zweifel als nur ein vorübergehendes Mittel, zur Erkenntnis zu kommen, in der[198] Darstellung von der positiven Bestimmung des Geistes ab oder zeigt wenigstens nicht, wie das Denken, in welches er später, nachdem er den Standpunkt des Zweifelns aufgegeben hat und sich mit den positiven Erkenntnisbestimmungen des Geistes und anderer Objekte beschäftigt, das Wesen des Geistes setzt, sich zu dem Denken verhält, mit dem er anfängt und das nicht von dem Zweifeln unterschieden ist. Der Zweifel erscheint daher insofern nur als ein zum Behufe der Erkenntnis vom Subjekte angenommener Standpunkt, als etwas dem aus ihm gefolgerten Prinzip Äußerliches, das auf die weitere Bestimmung und Erkenntnis des Geistes keinen Einfluß hat. Allein, um das früher schon hierüber Erwähnte nicht noch einmal weitläufig erwähnen zu müssen, wenn man den zerstreuten C. streng und ordentlich zusammenfaßt, alles genau erwägend, so findet man, daß der Zweifel die objektive, ihm immanente Genesis des Geistes ist, daß man, um auf den wahren Begriff des Geistes im Sinne C.s zu kommen, sich an den Anfang halten, den Weg des Zweifelns zu Hülfe nehmen und von der positiven Bestimmung des Geistes nicht abtrennen muß und daß in dem »Cogito ergo sum« das Wesen und der Begriff des Geistes selbst enthalten ist. C. unterscheidet den Geist vom Körper und sagt, er ist ein toto genere von ihm Unterschiedenes. Aber was ist dieser Unterschied? Das Denken, als in welchem allein das Wesen des Geistes besteht. Was ist aber das Denken, namentlich gerade da, wo C. den Unterschied des Geistes findet und bestimmt, das »Cogito ergo sum«, das Prinzip seiner Philosophie, welches er an einer andern schon angeführten Stelle so ausdrückt: »Primum principium est, quod anima nostra existit«, anders als Zweifeln? Was aber das Zweifeln anders als ein Absondern, ein Unterscheiden, ein Abstrahieren vom Körper und Sinnlichem? Unter Denken verstehe ich nichts anders als das Bewußtsein, sagt C. Ist das Bewußtsein aber wohl im Sinne des C. etwas andres als Selbstgewißheit? Die Selbstgewißheit aber etwas andres als die Selbstunterscheidung vom Körper, vom Sinnlichen überhaupt? Die Unterscheidung aber des in dieser Unterscheidung seiner selbst als des absolut und unmittelbar Reellen gewissen Geistes nicht ein Zweifel an der Existenz, der[199] Realität des Sinnlichen oder eine Verneinung desselben?106 Ist daher das Zweifeln eins mit dem Bewußtsein? Der Geist ist also unterschieden vom Körper, und dieser Unterschied besteht im Denken; das Denken ist aber eins mit dem Zweifeln, das Zweifeln mit dem Unterscheiden; er ist also durch das Sich-selbst-Unterscheiden vom Körper unterschieden; er ist dadurch Geist, daß er denkt, also dadurch unterschieden von dem Körper, daß er sich von ihm unterscheidet. Der Zweifel (natürlich in der Bedeutung, die er hier hat) ist das Wesen des Geistes, der Geist wesentlich ein Zweifler an der Realität der sinnlichen Dinge, oder positiv ausgedrückt: Das Wesen des Geistes ist das Bewußtsein, der Geist nichts als Bewußtsein, als das »Cogito ergo sum«, d. i. die unmittelbare Einheit meines Denkens und meines Seins, mein Wesen, daher das Denken, das zugleich Unmittelbarkeit, meine Selbstgewißheit ist. Der Geist aber, auf den die angegebenen Bestimmungen passen, ist streng genommen und bezeichnet nichts andres als das Ich oder Selbst. Die positive Erkenntnis[200] daher, die C. gegeben, der positive Fortschritt, der mit ihm im Begriffe oder in der Lehre vom Geiste die Philosophie und mit ihr der menschliche Geist tat, besteht darin, daß er (und alle Erkenntnis einer Sache beginnt mit dem Unterschiede) aufs schärfste und bestimmteste den Geist vom Sinnlichen und Körperlichen unterschied, daß er nicht bloß bei dem unbestimmten Ausdruck und Gedanken: Der Geist ist unterschieden von dem Körper, nicht bei den negativen, nichts bestimmenden, keine Erkenntnis gewährenden Bestimmungen der Immaterialität, Unkörperlichkeit und Unteilbarkeit stehenblieb, sondern diesen Unterschied, diese Immaterialität und Einfach heit positiv bestimmte als das lebendige Sich-Unterscheiden des Geistes, d. i., sie in die Tätigkeit des Denkens, des Bewußtseins setzte107 und den wirklichen, lebendigen, den selbstgewissen und bewußten Geist oder den Geist als Selbst zum Prinzip der Philosophie machte.

Es erhellt hieraus, wie Gassendi und Arnauld den Cartesius gänzlich mißverstanden, wenn sie ihm vorwarfen, er habe nicht bewiesen, daß das Denken nichts Körperliches sei, und er hätte doch vor allem eben dieses, denn dies sei eben die Hauptfrage, beweisen sollen. Denn die Hauptsache bei C., auf die alles ankommt, wenn man ihn begreifen will, ist eben die, daß er von dem hohlen Gespenst, dem leeren, nichtssagenden Prädikat der Immaterialität oder Unkörperlichkeit den Begriff des Geistes befreite und ihn in lebendigen, geistvollen Bestimmungen erfaßte, wenn auch diese Bestimmungen von ihm nicht konsequent durchgeführt wurden. Denn der Sinn des »Ich denke, also bin ich« ist eben kein andrer als der: Ich unterscheide mich vom Körper, von dem Materiellen, und deswegen und darin bin ich unterschieden, mein Mich-Unterscheiden ist mein Unterschied. Der Unterschied des Geistes von der Materie, seine Immaterialität, damit er selbst, sein Sein, besteht darin, daß er sich unterscheidet vom Körper, ihn als ein andres von sich ausscheidet, d. i., daß er denkt, denn dieses Verneinen des Körpers, dieses[201] Ausscheiden ist natürlich kein sinnliches, sondern ein geistiges, ist Denken. Wäre ich nicht unterschieden, so könnte ich mich nicht unterscheiden. Der Beweis, daß ich unterschieden bin, ist, daß ich mich unterscheide. Dieses mein Unterscheiden ist mein Bewußtsein, die Gewißheit meiner selbst, mein Ich, und als diese unmittelbare Bejahung meiner selbst die unbedingte Verneinung alles Körperlichen und Materiellen, die unumschränkte Gewißheit, daß ich Ich selbst bin, kein andres, kein Körper. Der Geist ist nicht immateriell und denkt, als wäre die Immaterialität für sich ein Prädikat oder das allgemeine Prädikat; oder auch er denkt, nicht weil er immateriell ist, sondern er ist immateriell, weil und insofern er denkt108, seine Immaterialität, sein Nicht-Körper-Sein ist einzig und allein sein Denken, sein Bewußtsein, und darum die Frage, ob er auch noch körperlich ist oder nicht, unstatthaft, die Forderung eines Beweises ein ungeziemender Mißverstand. –

Der Mangel der Philosophie des C. ihrem Inhalt nach besteht aber darin, daß er das Selbst zum ganzen Geiste machte, daß er den Geist nur in der Beziehung auf sich selbst (in der Subjektivität) und diese Beziehung als sein ganzes Wesen, daß er den Unterschied vom Körper lediglich als seine positive Bestimmung erfaßte – denn bestimmt er gleich diesen Unterschied positiv als Denken, als Bewußtsein, so ist doch selbst wieder dieses Denken nur Beziehung auf sich, Unterscheidung und Abstraktion vom Körper (Negativität) – und daß er daher bei dem Gegensatze zwischen Geist und Körper stehenbleibt. Aus diesem Mangel gehen die weitern Mängel seiner Philosophie, namentlich seiner Naturphilosophie und seiner Ansicht von der Verbindung des Geistes mit dem Leibe, hervor. Der Form nach besteht aber, abgesehen von der allgemeinen Ungenauigkeit und Inkonsequenz, die sich C. zuschulden kommen läßt, der[202] Mangel seiner Philosophie des Geistes, die, obwohl dem Umfang nach der geringste, seinem Inhalt nach aber der wichtigste und bedeutungsvollste Teil seiner Philosophie ist, darin, daß er die bei ihm zugrunde liegende Idee vom Geiste, die gerade die wesentliche ist, nicht zu klarem Bewußtsein gebracht und methodisch entwickelt hat, daß er den lebendigen Geist wieder in ein abgezogenes, leeres Wesen verwandelt, den Begriff des unmittelbar im Denken, des dadurch und darin, daß er seiner bewußt ist, seiner Immaterialität, seiner Freiheit vom Körperlichen, seiner Realität, seiner selbst als Geist gewissen Geistes in die geistlose Form der Einfachheit und Unteilbarkeit übersetzt und, nachdem er den Geist in ein metaphysisches Wesen verwandelt hat, das Denken, das Bewußtsein ebenso als ein Attribut ihm zuschreibt wie die Ausdehnung dem ausgedehnten Wesen und daher in einen Dualismus verfällt, worin das ausgedehnte Wesen ebensoviel Selbständigkeit und Realität hat als der Geist, der doch anfangs als das unmittelbar, ursprünglich Gewisse und Reelle gesetzt ist.

106

Daß diese Auffassung des C. die richtige, historisch begründete ist, daß in seinem Geiste, wie es früher hieß, Gewißheit und Realität, d, i. Wahrheit, Wesenhaftigkeit identisch sind, daß das Urteil: »Ich bin Geist«, Lob, Bejahung, das Urteil: »du bist Körper«, Tadel, Verneinung, Herabsetzung ausdrückt, dies geht deutlich daraus hervor, daß C. nicht von den Körpern, d.h. den sinnlichen Dingen, sondern von sich aus auf Gott schließt, Gott ableitet, daß das erste und höchste, wahrste und wesenhafteste Wesen ihm kein der körperlichen Wesen verwandtes – »Nihil est in Deo simile iis guae sunt in rebus externis i.e. corporeis« (Resp. III); »Ipsa natura corporis imperfectiones multas involvit« (Resp. II) –, sondern ein geistiges, denkendes Wesen, daß das höchste Wesen, Gott, nichts andres ist als das durch die Phantasie aufs höchste gesteigerte, ins Schrankenlose erweiterte und ausgedehnte Denkwesen des Menschen. »Indefinite extendendo format ideam intellectionibus divinae et sic de caeteris ejus attributis.« (Ebd.) Der Beweis von der Existenz Gottes ist daher seinem wahren Sinn nach gar nichts andres als der Beweis, daß das sich gewisse und bewußte, das denkende Wesen das wahre, göttliche Wesen ist. Bin ich der Wahrheit meines Wesens gewiß, so bin ich natürlich auch der Wahrheit meiner Vorstellungen und Gedanken gewiß.

107

Richtig sagt daher der geistvolle und gelehrte Cartesianer Joh. Clauberg in seiner »Defensio Cart.« (Amstel. 1652, P. I, c. 34, coroll. 56) »Der positive Begriff (positivus conceptus) der immateriellen oder unkörperlichen Wesen ist der, daß sie denkende, verständige, wollende Wesen sind.«

108

So sagt auch der Cartesianer L. de la Forge in seinem »Tractatus de Mente humana« (Bremae 1673), c. 13, § 4, trefflich: »Ist es nicht auch C.s Meinung, daß der Geist nicht ausgedehnt ist? Jawohl, aber et sagt nicht mit der Schule (der scholastischen Philosophie), daß dies den Geist ausmacht, daß et nur deswegen Geist ist, weil er nicht ausgedehnt ist; er sagt im Gegenteil, daß er deswegen, weil er Geist, d. i. denkendes Wesen ist, nicht ausgedehnt ist – dicit, propterea quod sit mens, i.e. res cogitans, eam non esse extensam.«

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 197-203.
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