B. Synthesis der in dem aufgestellten Satze enthaltenen Gegensätze überhaupt, und im allgemeinen.

[127] Der Satz: das Ich setzt sich, als bestimmt durch das Nicht-Ich, ist so eben vom dritten Grundsatze abgeleitet worden; soll jener gelten, so muss auch Er gelten; aber jener muss gelten, so gewiss die Einheit des Bewusstseyns nicht aufgehoben werden, und das Ich nicht aufhören soll, Ich zu seyn. (§ 3.) Er selbst muss demnach so gewiss gelten, als die Einheit des Bewusstseyns nicht aufgehoben werden soll.

Wir haben ihn zuvörderst zu analysiren, d. i. zu sehen, ob, und was für Gegensätze in ihm enthalten seyen.

Das Ich setzt sich, als bestimmt durch das Nicht-Ich. Also das Ich soll nicht bestimmen, sondern es soll bestimmt werden; das Nicht-Ich aber soll bestimmen; der Realität des Ich Grenzen setzen. Demnach liegt in unserem aufgestellten Satze zuvörderst folgender:

Das Nicht-Ich bestimmt (thätig) das Ich (welches insofern leidend ist). Das Ich setzt sich als bestimmt, durch absolute Thätigkeit. Alle Thätigkeit muss, soviel wir wenigstens bis jetzt einsehen, vom Ich ausgehen. Das Ich hat sich selbst, es hat das Nicht-Ich, es hat beide in die Quantität gesetzt. Aber das Ich setzt sich als bestimmt, heisst offenbar soviel, als das Ich bestimmt sich. Demnach liegt in dem aufgestellten Satze auch folgender:

Das Ich bestimmt sich selbst (durch absolute Thätigkeit).[127]

Wir abstrahiren vor der Hand noch gänzlich davon, ob etwa jeder von beiden Sätzen sich selbst widerspreche, einen inneren Widerspruch enthalte, und demnach sich selbst aufhebe. Aber soviel ist sogleich einleuchtend, dass beide einander gegenseitig widersprechen; dass das Ich nicht thätig sein könne, wenn es leidend seyn soll, und umgekehrt.

(Die Begriffe der Thätigkeit und des Leidens sind freilich noch nicht, als entgegengesetzte, abgeleitet und entwickelt; es soll aber auch weiter nichts aus diesen Begriffen als entgegengesetzten gefolgert werden; man hat sich dieser Worte hier bloss bedient, um sich deutlich zu machen. Soviel ist offenbar, dass in dem einen der entwickelten Sätze bejahet werde, was der andere verneinet, und umgekehrt; und so etwas ist doch wohl ein Widerspruch).

Zwei Sätze, die in einem und ebendemselben Satze enthalten sind, widersprechen einander, sie heben sich demnach auf; und der Satz, in dem sie enthalten sind, hebt sich selbst auf. Mit dem oben aufgestellten Satze ist es so beschaffen. Er hebt demnach sich selbst auf.

Aber er darf sich nicht aufheben, wenn die Einheit des Bewusstseyns nicht aufgehoben werden soll: wir müssen demnach suchen, die angezeigten Gegensätze zu vereinigen; (d.h. nach dem obigen nicht: wir sollen in unserem Geschäfte der Reflexion durch eine Künstelei einen Vereinigungspunct für sie erdichten; sondern, da die Einheit des Bewusstseyns, zugleich aber jener Satz, der sie aufzuheben droht, gesetzt ist, so muss der Vereinigungspunct schon in unserem Bewusstseyn vorhanden seyn, und wir haben durch Reflexion ihn nur zu suchen. Wir haben so eben einen synthetischen Begriff = X, der wirklich da ist, analysirt; und aus den durch die Analyse gefundenen Gegensätzen sollen wir schliessen, was für ein Begriff das unbekannte X sey).

Wir gehen an die Lösung unserer Aufgabe.

Es wird in dem einen Satze bejahet, was in dem anderen verneinet wird. Realität und Negation sind es demnach, die sich aufheben, und die sich nicht aufheben, sondern vereinigt werden sollen, und dieses geschieht (§ 3.) durch Einschränkung oder Bestimmung.[128]

Insofern gesagt wird: das Ich bestimmt sich selbst, wird dem Ich absolute Totalität der Realität zugeschrieben. Das Ich kann sich nur als Realität bestimmen, denn es ist gesetzt als Realität schlechthin (§ 1.), und es ist in ihm gar keine Negation gesetzt. Dennoch sollte es durch sich selbst bestimmt seyn; das kann nicht heissen, es hebt eine Realität in sich auf; denn dadurch würde es unmittelbar in Widerspruch mit sich selbst versetzt; sondern es muss heissen: das Ich bestimmt die Realität und vermittelst derselben sich selbst. Es setzt alle Realität als ein absolutes Quantum. Ausser dieser Realität giebt es gar keine. Diese Realität ist gesetzt ins Ich. Das Ich ist demnach bestimmt, insofern die Realität bestimmt ist.

Noch ist zu bemerken, dass dies ein absoluter Akt des Ich ist; ebenderselbe, der § 3. vorkommt, wo das Ich sich selbst als Quantität setzt; und der hier, um der Folgen willen, deutlich und klar aufgestellt werden musste.

Das Nicht-Ich ist dem Ich entgegengesetzt; und in ihm ist Negation, wie im Ich Realität. Ist in das Ich absolute Totalität der Realität gesetzt; so muss in das Nicht-Ich nothwendig absolute Totalität der Negation gesetzt werden; und die Negation selbst muss als absolute Totalität gesetzt werden.

Beides, die absolute Totalität der Realität im Ich, und die absolute Totalität der Negation im Nicht-Ich, sollen vereinigt werden durch Bestimmung. Demnach bestimmt sich das Ich zum Theil, und es wird bestimmt zum Theil.

Aber beides soll gedacht werden, als Eins und eben Dasselbe, d.h. in eben der Rücksicht, in der das Ich bestimmt wird, soll es sich bestimmen, und in eben der Rücksicht, in der es sich bestimmt, soll es bestimmt werden.

Das Ich wird bestimmt, heisst: es wird Realität in ihm aufgehoben. Wenn demnach das Ich nur einen Theil von der absoluten Totalität der Realität in sich setzt, so hebt es dadurch den Rest jener Totalität in sich auf und setzt den der aufgehobenen Realität gleichen Theil der Realität vermöge des Gegensetzens (S. 2.) und der Gleichheit der Quantität mit sich selbst in das Nicht-Ich (§ 3.). Ein Grad ist immer ein Grad; es sey ein Grad der Realität, oder der Negation. (Theilet z.B.[129] die Totalität der Realität in 10 gleiche Theile; setzt deren 5 in das Ich; so sind nothwendig 5 Theile der Negation in das Ich gesetzt).

So viele Theile der Negation das Ich in sich setzt, so viele Theile der Realität setzt es in das Nicht-Ich; welche Realität in dem entgegengesetzten die Realität in ihm eben aufhebt. (Sind z.B. 5 Theile der Negation in das Ich gesetzt, so sind 5 Theile Realität in das Nicht-Ich gesetzt).

Demnach setzt das Ich Negation in sich, insofern es Realität in das Nicht-Ich setzt, und Realität in sich, insofern es Negation in das Nicht-Ich setzt; es setzt sich demnach sich bestimmend, insofern es bestimmt wird; und bestimmt werdend, insofern es sich bestimmt: und die Aufgabe ist, insofern sie oben aufgegeben war, gelöst.

(Insofern sie aufgegeben war; denn noch immer bleibt die Frage unbeantwortet, wie das Ich Negation in sich, oder Realität in das Nicht-Ich setzen könne; und es ist soviel als nichts geschehen, wenn diese Fragen sich nicht beantworten lassen. Dies wird darum erinnert, damit niemand sich an die anscheinende Nichtigkeit und Unzulänglichkeit unserer Auflösung stosse).

Wir haben soeben eine neue Synthesis vorgenommen. Der Begriff, der in derselben aufgestellt wird, ist enthalten unter dem höheren Gattungsbegriffe der Bestimmung; denn es wird durch ihn Quantität gesetzt. Aber wenn es wirklich ein anderer Begriff, und die durch ihn bezeichnete Synthesis wirklich eine neue Synthesis seyn soll, so muss sich die specifische Differenz desselben vom Begriffe der Bestimmung überhaupt; es muss sich der Unterscheidungsgrund beider Begriffe aufzeigen lassen. – Durch Bestimmung überhaupt wird bloss Quantität festgesetzt; ununtersucht wie, und auf welche Art: durch unseren eben jetzt aufgestellten synthetischen Begriff wird die Quantität des Einen durch die seines Entgegengesetzten gesetzt; und umgekehrt. Durch die Bestimmung der Realität oder Negation des Ich wird zugleich die Negation oder Realität des Nicht – Ich bestimmt; und umgekehrt. Ich kann ausgehen, von welchem der Entgegensesetzten ich nur will[130] und habe jedesmal durch eine Handlung des Bestimmens zugleich das andere bestimmt. Diese bestimmtere Bestimmung könnte man füglich Wechselbestimmung (nach der Analogie von Wechselwirkung) nennen Es ist das gleiche, was bei Kant Relation heisst.

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 1, Berlin 1845/1846, S. 127-131.
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