C. Synthesis durch Wechselbestimmung der in dem ersten der entgegengesetzten Sätze selbst enthaltenen Gegensätze.

[131] Es wird sich bald zeigen, dass durch die Synthesis vermittelst der Wechselbestimmung für die Lösung der Hauptschwierigkeit an sich nichts beträchtliches gewonnen ist. Aber für die Methode haben wir festen Fuss gewonnen.

Sind in dem zu Anfange des § aufgestellten Hauptsatze alle Gegensätze enthalten, welche hier vereinigt werden sollen; und sie sollen darin enthalten seyn, laut der oben gemachten Erinnerung über die Methode: sind sie ferner im Allgemeinen zu vereinigen gewesen durch den Begriff der Wechselbestimmung; so müssen nothwendig die Gegensätze, die in den schon vereinigten allgemeinen Sätzen liegen, schon mittelbar durch Wechselbestimmung vereinigt seyn. So wie die besonderen Gegensätze enthalten sind unter den aufgestellten allgemeinen; so muss auch der synthetische Begriff, der sie vereinigt, enthalten seyn unter dem allgemeinen Begriffe der Wechselbestimmung. Wir haben demnach mit diesem Begriffe gerade so zu verfahren, wie wir eben mit dem Begriffe der Bestimmung überhaupt verfuhren. Wir bestimmten ihn selbst, d.h. wir schränkten die Sphäre seines Umfangs ein auf eine geringere Quantität durch die hinzugefügte Bedingung, dass die Quantität des Einen durch sein entgegengesetztes bestimmt werden solle, und umgekehrt; und so erhielten wir den Begriff der Wechselbestimmung. Laut des soeben geführten Beweises haben wir von nun an diesen Begriff selbst näher zu bestimmen, d. i. seine Sphäre durch eine besondere hinzugefaßte Bedingung einzuschränken; und so bekommen wir synthetische Begriffe, die unter dem höheren Begriff der Wechselbestimmung enthalten sind.[131]

Wir werden dadurch in den Stand gesetzt, diese Begriffe durch ihre scharfe Grenzlinien zu bestimmen, so dass die Möglichkeit, sie zu verwechseln, und aus dem Gebiet des einen in das Gebiet des anderen überzuschweifen, schlechthin abgeschnitten werde. Jeder Fehler entdeckt sich sogleich durch den Mangel an scharfer Bestimmung.

Das Nicht-Ich soll bestimmen das Ich, d.h. es soll Realität in demselben aufheben. Das aber ist nur unter der Bedingung möglich, dass es in sich selbst denjenigen Theil der Realität habe, den es im Ich aufheben soll. Also – das Nicht-Ich hat in sich selbst Realität.

Aber alle Realität ist in das Ich gesetzt, das Nicht-Ich aber ist dem Ich entgegengesetzt; mithin ist in dasselbe gar keine Realität, sondern lauter Negation gesetzt. Alles Nicht-Ich ist Negation; und es hat mithin gar keine Realität in sich.

Beide Sätze heben einander gegenseitig auf. Beide sind enthalten in dem Satze: das Nicht-Ich bestimmt das Ich. Jener Satz hebt demnach sich selbst auf.

Aber jener Satz ist enthalten in dem eben aufgestellten Hauptsatze; und dieser in dem Satze der Einheit des Bewusstseyns; wird er aufgehoben, so wird der Hauptsatz, in dem er enthalten ist, und die Einheit des Bewusstseyns, in welcher dieser enthalten ist, aufgehoben. Er kann sich demnach nicht aufheben, sondern die Gegensatze, die in ihm liegen, müssen sich vereinigen lassen.

1) Der Widerspruch ist nicht etwa schon durch den Begriff der Wechselbestimmung aufgelöst. Setzen wir die absolute Totalität der Realität als eintheilbar; d. i. als eine solche, die vermehrt oder vermindert werden kann (und selbst die Befugniss dieses zu thun, ist noch nicht deducirt); so können wir freilich willkürlich Theile derselben abziehen, und müssen sie unter dieser Bedingung nothwendig in das Nicht-Ich setzen; soviel ist durch den Begriff der Wechselbestimmung gewonnen. Aber wie kommen wir denn dazu, Theile von der Realität des Ich abzuziehen? Das ist die noch nicht berührte Frage – die Reflexion setzt freilich laut des Gesetzes der Wechselbestimmung, die in Einem aufgehobene Realität[132] in das entgegengesetzte, und umgekehrt; wenn sie erst irgendwo Realität aufgehoben hat. Aber was ist denn dasjenige, das sie berechtigt oder nöthigt, überhaupt eine Wechselbestimmung vorzunehmen?

Wir erklären uns bestimmter! – Es ist in das Ich schlechthin Realität gesetzt. Im dritten Grundsatze, und soeben ganz bestimmt wurde das Nicht-Ich als ein Quantum gesetzt; aber jedes Quantum ist Etwas, mithin auch Realität. Demnach soll das Nicht-Ich Negation; – also gleichsam eine reale Negation, (eine negative Grösse) seyn.

Nach dem Begriffe der blossen Relation nun ist es völlig gleichgültig, welchem von beiden entgegengesetzten man Realität, und welchem man Negation zuschreiben wolle. Es hängt davon ab, von welchem der beiden Objecte die Reflexion ausgeht. So ist es wirklich in der Mathematik, die von aller Qualität völlig abstrahirt und lediglich auf die Quantität sieht. Ob ich Schritte rückwärts oder Schritte vorwärts positive Grössen nennen wolle, ist an sich völlig gleichgültig; und es hängt lediglich davon ab, ob ich die Summe der ersteren, oder die der letzteren als endliches Resultat aufstellen will. So in der Wissenschaftslehre. Was im Ich Negation ist, ist im Nicht-Ich Realität, und umgekehrt; so viel, weiter aber auch nichts, wird durch den Begriff der Wechselbestimmung vorgeschrieben. Ob ich nun das im Ich Realität oder Negation nennen wolle, bleibt ganz meiner Willkür überlassen: es ist bloss von relativer7 Realität die Rede.

Es zeigt sich demnach eine Zweideutigkeit in dem Begriffe der Realität selbst, welche eben durch den Begriff der Wechselbestimmung herbeigeführt wird. Lässt diese Zweideutigkeit sich nicht heben, so ist die Einheit des Bewusstseyns aufgehoben: das Ich ist Realität, und das Nicht-Ich ist gleichfalls[133] Realität; und beide sind nicht mehr entgegengesetzt, und das Ich ist nicht = Ich, sondern = Nicht-Ich.

2) Soll der aufgezeigte Widerspruch befriedigend gelöst werden, so muss vor allen Dingen jene Zweideutigkeit gehoben werden, hinter welcher er etwa versteckt seyn und kein wahrer, sondern nur ein scheinbarer Widerspruch seyn könnte.

Aller Realität Quelle ist das Ich. Erst durch und mit dem Ich ist der Begriff der Realität gegeben. Aber das Ich ist, weil es sich setzt, und setzt sich, weil es ist. Demnach sind sich setzten, und Seyn Eins und ebendasselbe. Aber der Begriff des Sichsetzens und der Thätigkeit überhaupt sind wieder Eins und ebendasselbe. Also – alle Realität ist thätig; und alles thätige ist Realität. Thätigkeit ist positive (im Gegensatz gegen bloss relative) Realität.

(Es ist sehr nöthig, den Begriff der Thätigkeit sich hier ganz rein zu denken. Es kann durch denselben nichts bezeichnet werden, was nicht in dem absoluten Setzen des Ich durch sich selbst enthalten ist; nichts, was nicht unmittelbar im Satze: Ich bin, liegt. Es ist demnach klar, dass nicht nur von allen Zeitbedingungen, sondern auch von allem Objecte der Thätigkeit völlig zu abstrahiren ist. Die Thathandlung des Ich, indem es sein eigenes Seyn setzt, geht gar nicht auf ein Object, sondern sie geht in sich selbst zurück. Erst dann, wenn das Ich sich selbst vorstellt, wird es Object. – Die Einbildungskraft kann sich schwerlich enthalten, das letztere Merkmal, das des Objects, in den reinen Begriff der Thätigkeit mit einzumischen: es ist aber genug, dass man vor der Täuschung derselben gewarnt ist, damit man wenigstens in den Folgerungen von allem, was von einer solchen Einmischung herstammen könnte, abstrahire).

3) Das Ich soll bestimmt seyn, d.h. Realität oder, wie dieser Begriff soeben bestimmt worden, Thätigkeit soll in ihm aufgehoben seyn. Mithin ist in ihm das Gegentheil der Thätigkeit gesetzt. Das Gegentheil der Thätigkeit aber heisst Leiden. Leiden ist positive Negation, und ist insofern der bloss relativen entgegengesetzt.

(Es wäre zu wünschen, dass das Wort Leiden weniger Nebenbedeutungen[134] hätte. Dass hier nicht an schmerzhafte Empfindung zu denken sey, braucht wohl nicht erinnert zu werden. Vielleicht aber das, dass von allen Zeitbedingungen, ferner bis jetzt noch von aller das Leiden verursachenden Thätigkeit in dem entgegengesetzten zu abstrahiren sey. Leiden ist die blosse Negation des soeben aufgestellten reinen Begriffs der Thätigkeit; und zwar die quantitative, da er selbst quantitativ ist; denn die blosse Negation der Thätigkeit, von der Quantität derselben abstrahirt = 0, wäre Ruhe. Alles im Ich, was nicht unmittelbar im: Ich bin liegt; nicht unmittelbar durch das Setzen des Ich durch sich selbst gesetzt ist, ist für dasselbe Leiden (Affection überhaupt).

4) Soll, wenn das Ich im Zustande des Leidens ist, die absolute Totalität der Realität beibehalten werden, so muss nothwendig, vermöge des Gesetzes der Wechselbestimmung, ein gleicher Grad der Thätigkeit in das Nicht-Ich übertragen werden.

Und so ist denn der obige Widerspruch gelöst. Das Nicht-Ich hat, als solches, an sich keine Realität; aber es hat Realität, insofern das Ich leidet; vermöge des Gesetzes der Wechselbestimmung. Dieser Satz: das Nicht-Ich hat, soviel wir wenigstens bis jetzt einsehen, für das Ich nur insofern Realität, insofern das Ich afficirt ist; und ausser der Bedingung einer Affection des Ich hat es gar keine, ist um der Folgen willen sehr wichtig.

5) Der jetzt abgeleitete synthetische Begriff ist enthalten unter dem höheren Begriffe der Wechselbestimmung; denn es wird in ihm die Quantität des Einen, des Nicht-Ich, bestimmt durch die Quantität seines entgegengesetzten, des Ich. Aber er ist von ihm auch specifisch verschieden. Nemlich im Begriffe der Wechselbestimmung war es völlig gleichgültig, welches der beiden entgegengesetzten durch das andere bestimmt wurde: welchem von beiden die Realität, und welchem die Negation zugeschrieben wurde. Es wurde die Quantität, – aber weiter auch nichts, als die blosse Quantität bestimmt. – In der gegenwärtigen Synthesis aber ist die Verwechselung nicht gleichgültig; sondern es ist bestimmt, welchem von den[135] beiden Gliedern des Gegensatzes Realität, und nicht Negation, und welchem Negation, und nicht Realität, zuzuschreiben sey. Es wird demnach durch die gegenwärtige Synthesis gesetzt Thätigkeit, und zwar der gleiche Grad der Thätigkeit in das Eine, sowie Leiden in sein entgegengesetztes gesetzt wird, und umgekehrt.

Diese Synthesis wird genannt die Synthesis der Wirksamkeit (Causalität). Dasjenige, welchem Thätigkeit zugeschrieben wird, und insofern nicht Leiden, heisst die Ursache (Ur-Realität, positive schlechthin gesetzte Realität, welches durch jenes Wort treffend ausgedrückt wird): dasjenige, dem Leiden zugeschrieben wird, und insofern nicht Thätigkeit, heisst das bewirkte, (der Effect, mithin von einer anderen abhängende und keine Ur-Realität.) Beides in Verbindung gedacht heisst eine Wirkung. Das bewirkte sollte man nie Wirkung nennen.

(In dem Begriffe der Wirksamkeit, wie er soeben deducirt worden, ist völlig zu abstrahiren von den empirischen Zeitbedingungen; und er lässt auch ohne sie sich recht wohl denken. Theils ist die Zeit noch nicht deducirt, und wir haben hier doch gar nicht das Recht, uns ihres Begriffs zu bedienen; theils ist es überhaupt gar nicht wahr, dass man sich die Ursache, als solche, d. i. insofern sie in der bestimmten Wirkung thätig ist, als dem bewirkten in der Zeit vorhergehend denken müsse, wie sich einst beim Schematismus zeigen wird. Ursache und bewirktes sollen ja vermöge der synthetischen Einheit als Eins und ebendasselbe gedacht werden. Nicht die Ursache als solche, aber die Substanz, welcher die Wirksamkeit zugeschrieben wird, geht der Zeit nach der Wirkung vorher, aus Gründen, die sich zeigen werden. Aber in dieser Rücksicht geht auch die Substanz, auf welche gewirkt wird, dem in ihr bewirkten der Zeit nach vorher).

7

Es ist merkwürdig, dass im gemeinen Sprachgebrauche das Wort relativ stets richtig, stets von dem gebraucht worden, was bloss durch die Quantität unterschieden ist, und durch weiter nichts unterschieden werden kann; und dass man dennoch gar keinen bestimmten Begriff mit dem Worte Relation, von welchem jenes abstammt, verbunden.

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 1, Berlin 1845/1846, S. 131-136.
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