§ 4. Erster Lehrsatz.

[123] Ehe wir unseren Weg antreten, eine kurze Reflexion über denselben! – Wir haben nun drei logische Grundsätze; den der Identität, welcher alle übrigen begründet; und dann die beiden, welche sich selbst gegenseitig in jenem begründen, den des Gegensetzens, und den des Grundes aufgestellt. Die beiden letzteren machen das synthetische Verfahren überhaupt erst möglich; stellen auf und begründen die Form desselben. Wir bedürfen demnach, um der formalen Gültigkeit unseres Verfahrens in der Reflexion sicher zu seyn, nichts weiter. – Ebenso ist in der ersten synthetischen Handlung, der Grundsynthesis (der des Ich und Nicht-Ich), ein Gehalt für alle mögliche künftige Synthesen aufgestellt, und wir bedürfen auch von dieser Seite nichts weiter. Aus jener Grundsynthesis muss alles sich entwickeln lassen, was in das Gebiet der Wissenschaftslehre gehören soll.

Soll sich aber etwas aus ihr entwickeln lassen, so müssen in den durch sie vereinigten Begriffen noch andere enthalten liegen, die bis jetzt nicht aufgestellt sind; und unsere Aufgabe ist die, sie zu finden. Dabei verfahrt man nun auf folgende Art. – Nach § 3. entstehen alle synthetische Begriffe durch Vereinigung entgegengesetzter. Man müsste demnach zuvörderst solche entgegengesetzte Merkmale der aufgestellten Begriffe (hier des Ich und des Nicht-Ich, insofern sie als sich gegenseitig bestimmend gesetzt sind) aufsuchen; und dies geschieht durch Reflexion! die eine willkürliche Handlung unseres Geistes ist. – Aufsuchen, sagte ich; es wird demnach vorausgesetzt, dass sie schon vorhanden sind, und nicht etwa[123] durch unsere Reflexion erst gemacht und erkünstelt werden (welches überhaupt die Reflexion gar nicht vermag), d.h. es wird eine ursprünglich nothwendige antithetische Handlung des Ich vorausgesetzt.

Die Reflexion hat diese antithetische Handlung aufzustellen: und sie ist insofern zuvörderst analytisch. Nemlich entgegengesetzte Merkmale, die in einem bestimmten Begriffe = A enthalten sind, als entgegengesetzt durch Reflexion zum deutlichen Bewusstseyn erheben, heisst: den Begriff A analysiren. Hier aber ist insbesondere zu bemerken, dass unsere Reflexion einen Begriff analysirt, der ihr noch gar nicht gegeben ist, sondern erst durch die Analyse gefunden werden soll; der analysirte Begriff ist bis zur Vollendung der Analyse = X. Es entsteht die Frage: wie kann ein unbekannter Begriff analysirt werden?

Keine antithesische Handlung, dergleichen doch für die Möglichkeit der Analyse überhaupt vorausgesetzt wird, ist möglich ohne eine synthetische; und zwar keine bestimmte antithetische ohne ihre bestimmte synthetische. (§ 3.) Sie sind beide innig vereinigt, eine und ebendieselbe Handlung, und werden bloss in der Reflexion unterschieden. Mithin lässt von der Antithesis sich auf die Synthesis schliessen; das dritte, worin die beiden entgegengesetzten vereinigt sind, lässt sich gleichfalls aufstellen: nicht als Product der Reflexion, sondern als ihr Fund; aber als Product jener ursprünglichen synthetischen Handlung des Ich; die darum, als Handlung, nicht eben zum empirischen Bewusstseyn gelangen muss, ebensowenig, als die bisher aufgestellten Handlungen. Wir treffen also von jetzt an auf lauter synthetische Handlungen, die aber nicht schlechthin unbedingte Handlungen sind, wie die ersteren. Durch unsere Deduction aber wird bewiesen, dass es Handlungen, und Handlungen des Ich sind. Nemlich, sie sind es so gewiss, so gewiss die erste Synthesis, aus der sie entwickelt werden) und mit der sie Eins und dasselbe ausmachen, eine ist; und diese ist eine, so gewiss als die höchste Thathandlung des Ich, durch die es sich selbst setzt, eine ist. – Die Handlungen, welche aufgestellt werden; sind synthetisch; die Reflexion aber, welche sie aufstellt, ist analytisch.[124]

Jene Antithesen aber, die für die Möglichkeit einer Analyse durch Reflexion vorausgesetzt worden, müssen, als vorhergegangen, d i. als solche gedacht werden, von welchen die Möglichkeit der aufzuzeigenden synthetischen Begriffe abhängig ist. Keine Antithesis aber ist möglich ohne Synthesis. Mithin wird eine höhere Synthesis als schon geschehen vorausgesetzt; und unser erstes Geschäft muss seyn, diese aufzusuchen, und sie bestimmt aufzustellen. Nun muss zwar eigentlich dieselbe schon im vorigen § aufgestellt seyn. Es könnte sich aber doch finden, dass wegen des Ueberganges in einen ganz neuen Theil der Wissenschaft doch noch etwas besonderes dabei zu erinnern wäre.

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 1, Berlin 1845/1846, S. 123-125.
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