Vorrede

Wenn es über irgend einen Gegenstand eine Philosophie (System der Vernunfterkenntnis aus Begriffen) gibt, so muß es für diese Philosophie auch ein System reiner, von aller Anschauungsbedingung unabhängiger Vernunftbegriffe, d.i. eine Metaphysik geben. – Es fragt sich nur: ob es für jede praktische Philosophie, als Pflichtenlehre, mithin auch für die Tugendlehre (Ethik), auch metaphysischer Anfangsgründe bedürfe, um sie, als wahre Wissenschaft (systematisch), nicht bloß als Aggregat einzeln aufgesuchter Lehren (fragmentarisch) aufstellen zu können. – Von der reinen Rechtslehre wird niemand dies Bedürfnis bezweifeln; denn sie betrifft nur das Förmliche der nach Freiheitsgesetzen im äußeren Verhältnis einzuschränkenden Willkür; abgesehen von allem Zweck (als der Materie derselben). Die Pflichtenlehre ist also hier eine bloße Wissenslehre (doctrina scientiae).13

In dieser Philosophie (der Tugendlehre) scheint es nun der Idee derselben gerade zuwider zu sein, bis zu metaphysischen Anfangsgründen zurückzugehen, um den Pflichtbegriff, von allem Empirischen (jedem Gefühl) gereinigt, doch zur Triebfeder zu machen. Denn was kann man sich für einen Begriff von einer Kraft und herkulischer Stärke[503] machen, um die lastergebärende Neigungen zu überwältigen, wenn die Tugend ihre Waffen aus der Rüstkammer der Metaphysik entlehnen soll? welche eine Sache der Spekulation ist, die nur wenig Menschen zu handhaben wissen. Daher fallen auch alle Tugendlehren, in Hörsälen, von Kanzeln und in Volksbüchern, wenn sie mit metaphysischen Brocken ausgeschmückt werden, ins Lächerliche. – Aber darum ist es doch nicht unnütz, vielweniger lächerlich, den ersten Gründen der Tugendlehre in einer Metaphysik nachzuspüren; denn irgend einer muß doch als Philosoph auf die ersten Gründe dieses Pflichtbegriffs hinausgehen: weil sonst weder Sicherheit noch Lauterkeit für die Tugendlehre überhaupt zu erwarten wäre. Sich desfalls auf ein gewisses Gefühl, welches man, seiner davon erwarteten Wirkung halber, moralisch nennt, zu verlassen, kann auch wohl dem Volkslehrer gnügen: indem dieser zum Probierstein einer Tugendpflicht, ob sie es sei oder nicht, die Aufgabe zu beherzigen verlangt: »wie, wenn nun ein jeder in jedem Fall deine Maxime zum allgemeinen Gesetz machte, würde eine solche wohl mit sich selbst zusammenstimmen können?« Aber, wenn es bloß Gefühl wäre, was auch diesen Satz zum Probierstein zu nehmen uns zur Pflicht machte, so wäre diese doch alsdann nicht durch die Vernunft diktiert, sondern nur instinktmäßig, mithin blindlings dafür angenommen.

Allein kein moralisches Prinzip gründet sich in der Tat, wie man wohl wähnt, auf irgend ein Gefühl, sondern ist wirklich nichts anders, als dunkel gedachte Metaphysik, die jedem Menschen in seiner Vernunftanlage beiwohnt; wie der Lehrer es leicht gewahr wird, der seinen Lehrling über den Pflichtimperativ, und dessen Anwendung auf moralische Beurteilung seiner Handlungen, sokratisch zu katechisieren versucht. – Der Vortrag desselben (die Technik) darf eben nicht allemal metaphysisch und die Sprache scholastisch sein, wenn jener den Lehrling nicht etwa zum Philosophen bilden will. Aber der Gedanke muß bis auf die Elemente der Metaphysik zurück gehen, ohne die keine Sicherheit und Reinigkeit, ja selbst nicht einmal bewegende Kraft in der Tugendlehre zu erwarten ist.[504]

Geht man von diesem Grundsatze ab und fängt vom pathologischen, oder dem reinästhetischen, oder auch dem moralischen Gefühl (dem subjektivpraktischen statt des objektiven), d.i. von der Materie des Willens, dem Zweck, nicht von der Form desselben, d.i. dem Gesetz an, um von da aus die Pflichten zu bestimmen: so finden freilich keine metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre statt – denn Gefühl, wodurch es auch immer erregt werden mag, ist jederzeit physisch. – Aber die Tugendlehre wird alsdenn auch in ihrer Quelle, einerlei ob in Schulen, oder Hörsälen, u.s.w., verderbt. Denn es ist nicht gleichviel, durch welche Triebfedern als Mittel man zu einer guten Absicht (der Befolgung aller Pflicht) hingeleitet werde. – – Es mag also den orakel– oder auch geniemäßig über Pflichtenlehre absprechenden vermeinten Weisheitslehrern Metaphysik noch so sehr anekeln: so ist es doch für die, welche sich dazu aufwerfen, unerläßliche Pflicht, selbst in der Tugendlehre zu jener ihren Grundsätzen zurückzugehen und auf ihren Bänken vorerst selbst die Schule zu machen.


* * *


Man muß sich hiebei billig wundern: wie es, nach allen bisherigen Läuterungen des Pflichtprinzips, so fern es aus reiner Vernunft abgeleitet wird, noch möglich war, es wiederum auf Glückseligkeitslehre zurück zu führen: doch so, daß eine gewisse moralische Glückseligkeit, die nicht auf empirischen Ursachen beruhete, zu dem Ende angedacht worden, welche ein sich selbst widersprechendes Unding ist. – Der denkende Mensch nämlich, wenn er über die Anreize zum Laster gesiegt hat und seine, oft sauere, Pflicht getan zu haben sich bewußt ist, findet sich in einem Zustande der Seelenruhe und Zufriedenheit, den man gar wohl Glückseligkeit nennen kann; in welchem die Tugend ihr eigener Lohn ist. – Nun sagt der Eudämonist: diese Wonne, diese Glückseligkeit ist der eigentliche Bewegungsgrund, warum er tugendhaft handelt. Nicht der Begriff der[505] Pflicht bestimme unmittelbar seinen Willen, sondern nur vermittelst der im Prospekt gesehnen Glückseligkeit werde er bewogen, seine Pflicht zu tun. – Nun ist aber klar, daß, weil er sich diesen Tugendlohn nur von dem Bewußtsein, seine Pflicht getan zu haben, versprechen kann, das letztgenannte doch vorangehen müsse; d.i. er muß sich verbunden finden, seine Pflicht zu tun, ehe er noch, und ohne daß er daran denkt, daß Glückseligkeit die Folge der Pflichtbeobachtung sein werde. Er dreht sich mit seiner Ätiologie im Zirkel herum. Er kann nämlich nur hoffen, glücklich (oder innerlich selig) zu sein, wenn er sich seiner Pflichtbeobachtung bewußt ist; er kann aber zur Beobachtung seiner Pflicht nur bewogen werden, wenn er voraussieht, daß er sich dadurch glücklich machen werde. – Aber es ist in dieser Vernünftelei auch ein Widerspruch. Denn einerseits soll er seine Pflicht beobachten, ohne erst zu fragen, welche Wirkung dieses auf seine Glückseligkeit haben werde, mithin aus einem moralischen Grunde; andrerseits aber kann er doch nur etwas für seine Pflicht anerkennen, wenn er auf Glückseligkeit rechnen kann, die ihm dadurch erwachsen wird, mithin nach pathologischem Prinzip, welches gerade das Gegenteil des vorigen ist.

Ich habe an einem anderen Orte (der Berl. M. S.) den Unterschied der Lust, welche pathologisch ist, von der moralischen, wie ich glaube, auf die einfachsten Ausdrücke zurückgeführt. Die Lust nämlich, welche vor der Befolgung des Gesetzes hergehen muß, damit diesem gemäß gehandelt werde, ist pathologisch und das Verhalten folgt der Naturordnung; diejenige aber, vor welcher das Gesetz hergehen muß, damit sie empfunden werde, ist in der sittlichen Ordnung. – – Wenn dieser Unterschied nicht beobachtet wird: wenn Eudämonie (das Glückseligkeitsprinzip) statt der Eleutheronomie (des Freiheitsprinzips der inneren Gesetzgebung) zum Grundsatze aufgestellt wird, so ist die Folge davon Euthanasie (der sanfte Tod) aller Moral.[506]

Die Ursache dieser Irrungen ist keine andere als folgende. Der kategorische Imperativ, aus dem diese Gesetze diktatorisch hervorgehen, will denen, die bloß an physiologische Erklärungen gewohnt sind, nicht in den Kopf; unerachtet sie sich doch durch ihn unwiderstehlich gedrungen fühlen. Sich aber das nicht erklären zu können, was über jenen Kreis gänzlich hinaus liegt (die Freiheit der Willkür), so seelenerhebend auch eben dieser Vorzug des Menschen ist, einer solchen Idee fähig zu sein, wird durch die stolzen Ansprüche der spekulativen Vernunft, die sonst ihr Vermögen in andern Feldern so stark fühlt, gleichsam zum allgemeinen Aufgebot der für die Allgewalt der theoretischen Vernunft Verbündeten gereizt, sich jener Idee zu widersetzen und so den moralischen Freiheitsbegriff jetzt und vielleicht noch lange, obzwar am Ende doch vergeblich, anzufechten und, wo möglich, verdächtig zu machen.[507]

13

Ein der praktischen Philosophie Kundiger ist darum eben nicht ein praktischer Philosoph. Der letztere ist derjenige, welcher sich den Vernunftendzweck zum Grundsatz seiner Handlungen macht, indem er damit zugleich das dazu nötige Wissen verbindet; welches, da es aufs Tun abgezweckt ist, nicht eben bis zu den subtilsten faden der Metaphysik ausgesponnen werden darf, wenn es nicht etwan eine Rechtspflicht betrifft – als bei welcher auf der Wage der Gerechtigkeit das Mein und Dein, nach dem Prinzip der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung, genau bestimmt werden und darum der mathematischen Abgemessenheit analog sein muß; – sondern eine bloße Tugendpflicht angeht. Denn da kommt es nicht bloß darauf an, zu wissen, was zu tun Pflicht ist (welches, wegen der Zwecke, die natürlicherweise alle Menschen haben, leicht angegeben werden kann): sondern vornehmlich auf dem inneren Prinzip des Willens, nämlich daß das Bewußtsein dieser Pflicht zugleich Triebfeder der Handlungen sei, um von dem, der mit seinem Wissen dieses Weisheitsprinzip verknüpft, zu sagen: daß er ein praktischer Philosoph sei.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 501,508.
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