10. Wann darf man einen Staat annektieren?

[59] Der Staat Tsi hatte den Staat Yän angegriffen und besiegt. Da befragte der König Süan den Mong Dsï und sprach: »Die einen raten mir, den Staat Yän nicht zu annektieren, die anderen raten mir, es zu tun. Wenn ein Staat mit zehntausend Kriegswagen einen anderen gleich starken Staat angreift und ihn in fünfzig Tagen vollkommen in der Hand hat, so ist das ein Erfolg, der durch Menschenkraft allein nicht zu erreichen war. Annektiere ich ihn nicht, so wird sicher Unheil vom Himmel über mich20 kommen. Wenn ich ihn nun annektiere, was dann?«

Mong Dsï erwiderte: »Wenn das Volk von Yän mit der Annexion einverstanden ist, so mögt Ihr ihn annektieren. Auch im Altertum kam diese Handlungsweise vor. König Wu ist ein Beispiel[59] dafür. Wenn das Volk von Yän mit der Annexion nicht einverstanden ist, so annektiert ihn nicht. Im Altertum kam auch diese Handlungsweise vor. König Wen ist ein Beispiel dafür. Ihr habt mit einem Staat von zehntausend Kriegswagen einen gleich starken Staat angegriffen, und seine Einwohner brachten Speise in Körben und Suppe in Töpfen Eurem Heer entgegen aus keinem anderen Grunde, als weil sie hofften, durch Euch von einer Not befreit zu werden, so schlimm wie Wasser und Feuer. Wenn Ihr nun noch tiefere Wasser und noch heißere Feuer über sie bringt, so wird die einfache Folge sein, daß sie auch von Euch sich abwenden.«

Quelle:
Mong Dsï: Die Lehrgespräche des Meisters Meng K'o. Köln 1982, S. 59-60.
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