16. Der Weise und der Günstling

[63] Der Herzog Ping von Lu24 war im Begriff auszufahren. Da trat sein Günstling Dsang Tsang bittend zu ihm und sprach: »Wenn Eure Hoheit sonst ausfuhren, so wieset Ihr immer Eure Beamten an, wohin Ihr wolltet. Heute ist der Wagen schon angespannt, und die Beamten wissen noch nicht, wohin es geht. Darf ich darnach fragen?«

Der Herzog sprach: »Ich bin im Begriff, den Meister Mong aufzusuchen.«

Er sprach: »Wahrlich, Ihr erniedrigt Euch mit Eurem Tun, indem Ihr einem gemeinen Manne entgegengeht. Denkt Ihr, er sei ein Weiser? Ordnung und Recht geht von den Weisen aus.

Aber Meister Mong hat für seine Mutter mehr getrauert als für seinen Vater. Ihr müßt ihn nicht besuchen.«

Der Herzog sagte: »Gut.«

Da trat Yüo Dschong Dsï zu dem Fürsten hinein und sprach: »Warum wollen Eure Hoheit den Mong Ko nicht besuchen?«

Er sprach: »Es hat mir jemand gesagt, daß Meister Mong für seine Mutter mehr getrauert hat als für seinen Vater, darum ging ich nicht hin, ihn aufzusuchen.«

Jener sprach: »Was meinen Eure Hoheit denn mit diesem ›mehr‹? Hat er für seinen Vater getrauert wie für einen einfachen Gelehrten und für seine Mutter wie für einen Minister? Hat er für seinen Vater nur drei Opfergefäße aufgestellt und für seine Mutter fünf?«[63]

Der Fürst sprach: »Nein, ich meine damit, daß der Sarg und Sarkophag, die Leichenkleidung und die Grabtücher schöner waren.«

Jener sprach: »Das ist nicht ein ›mehr‹ an Trauer; das zeigt nur, daß er erst arm war und später reich.«

Yüo Dschong Dsï trat darauf vor Mong Dsï und sprach: »Ich habe dem Fürsten von Euch erzählt, und der Fürst wollte deshalb kommen, um Euch aufzusuchen. Aber unter seinen Günstlingen ist einer, namens Dsang Tsang, der hat den Fürsten verhindert. Darum ist der Fürst schließlich doch nicht gekommen.«

Mong Dsï sprach: »Wenn einer geht, so ist immer einer da, der ihn veranlaßt. Wenn einer bleibt, ist immer einer da, der ihn verhindert. Aber Gehen oder Bleiben liegt nicht in der Macht der Menschen. Daß ich den Fürsten von Lu nicht getroffen habe, ist Fügung des Himmels. Wie hätte der Sohn Dsangs es bewirken können, daß ich ihn nicht getroffen habe!«

Fußnoten

1 Dschuang Bau war ein Minister in Tsi. Die Geschichte spielt im unmittelbaren Anschluß an die vorige. Der König ist ebenfalls König Süan von Tsi.


2 Wörtlich: »Die heutige Musik ist wie die alte Musik.« Diese Nachsicht gegen die Schwäche des Königs unter dem Gesichtspunkt »der Zweck heiligt das Mittel« unterschied den Mong von Kung. Die neue Musik ist unzweifelhaft die Musik von Dschong, die Kung verhaßt ist (vgl. Lun Yü XV, 10). Mong Dsï geht im Verlauf des Gesprächs dazu über, das Zeichen yo »Musik« in seiner anderen Bedeutung (lo = Freude) zu gebrauchen, eine sophistische Spielerei, die einigermaßen an die Sophisten in Liä Dsï II, 21 erinnert.


3 Über den hier erwähnten Vorfall vgl. III, B, 5, wo die Sache ausführlich erzählt ist.


4 Über den »Großen König«, den Großvater des Königs Wen, s. Abschnitt 15.


5 Gou Tsiän war ein König des Staates Yüo, der mit Wu im Kampfe lag, und als er besiegt wurde, sich selbst als Diener dem König von Wu anbot.


6 Chinesisch: tiän Himmel. Hier ist die Übersetzung mit »Gott« das unmittelbar Gegebene, zumal da sich auch sonst in der alten chinesischen Literatur Instanzen dafür finden. Vgl. zur Sache Laotse, Taoteking, Abschn. 61.


7 Schï Ging IV, 1, 1.


8 Schï Ging III, 1, 7, v. 5. Übersetzung von Strauß.


9 Vgl. Schu Ging V, 1, Abschnitt 1, 7. Doch ist der Text bei Mong sehr stark abweichend.


10 König Wu, der Sohn des Königs Wen von Dschou, der die Herrschaft über das Reich tatsächlich angetreten hat unter Beseitigung des Dschou Sin, des Tyrannen aus der Yindynastie.


11 Ming Tang »die lichte Halle« am Fuße des Taischan war zur Dschouzeit als kaiserliches Absteigequartier und Audienzhalle erbaut. Außer diesem Lichtschloß gab es noch vier andere am Fuße der anderen heiligen Berge. Dort wurde auch der König Wen verehrt. Vgl. Hiau Ging. Der König von Tsi hatte den Platz erobert. Man riet ihm, das Lichtschloß abzureißen, einerseits um nicht einen Rest kaiserlicher Würde in seinen Grenzen zu haben, andererseits um nicht als Usurpator zu erscheinen, wenn er ein Kaiserschloß für sich benutze. Mong ist in letzterer Hinsicht ganz ohne Skrupel und weicht weit ab von Kung.


12 Schï Ging II, 4, 8. v. 13 mit einer kleinen Abweichung.


13 Der Herzog Liu war der eigentliche Begründer des Hauses Dschou.


14 Schï Ging III, 11, 4. Übersetzung von Strauß.


15 Vgl. Abschnitt 15.


16 Vgl. Schï Ging III, I, 3 v. 2. Übersetzung von Strauß. Dan Fu ist der Name des »Großen Königs«. Seine Frau war eine geborene Giang. Hier ist uns ein sehr lebhaftes Bild vom Eindringen der Dschou in China erhalten.


17 Wörtlich: »Vater und Mutter«.


18 Aussprüche wie der vorliegende, die sehr radikal klingen, machten den Mong zum begünstigten Klassiker nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches. In Wirklichkeit liegt der Radikalismus mehr nur in der Ausdrucksweise. Sachlich ist die Bezeichnung des Dschou Sin als »gemeiner Kerl«, das heißt »Privatmann«, schon im Schu Ging vorgebildet.


19 Vgl. Lun Yü XI, 24. Der letzte Satz ist in der Form: »der Nephrit, nicht geglättet, wird kein Gerät« in den Dreizeichenklassiker, die chinesische Fibel der letzten Jahrhunderte, übergegangen. Auch hier heißt es statt »Edelstein« im Text wörtlich »Yü« = Nephrit, Jade.


20 Der Sinn ist: Daß ich mit Yän so leicht fertig geworden, das ist Gottes Finger; nehme ich den Staat nicht in Besitz, so widerstrebe ich Gottes Absicht und ziehe mir Unheil zu. Was also ist zu tun? Mong schiebt diese Anschauung zurück und stellt auch hier den Grundsatz der Volkssouveränität auf. Der Erfolg ist nur ein Zeichen der Mißstimmung des Volks von Yän gegen seinen Herrscher. Damit ist für die Frage der Berechtigung der Annexion nichts ausgesagt. Immerhin widerspricht Mong nicht in abstracto, weshalb er dann von manchen für die Handlungsweise von Tsi verantwortlich gemacht worden ist. Es handelt sich auch hier wieder um einen fehlgeschlagenen Versuch des Weisen, einem Fürsten durch seinen Rat zur Weltherrschaft zu verhelfen. Die Situation in Yän war wie folgt: Der offenbar törichte König Kuai wollte dem Großen Yau es gleich tun und gab den Thron an seinen schlechten Minister Dsï Dschï ab (314 v. Chr.). Die Unruhen, die infolge davon entstanden, benützte Tsi zu einem Überfall, der auch vollständig gelang, da die Bevölkerung von Yän auf der Seite von Tsi stand, von dem sie Befreiung erhoffte. Der Usurpator Dsï Dschï wurde in Stücke gehackt, der Ex-König Kuai getötet. Aber Tsi annektierte das Land und ließ sich viele Grausamkeiten zuschulden kommen. Infolge davon kam es zu einem Aufstand der Bevölkerung von Yän, die übrigen Fürsten drohten sich einzumischen. Mong Dsï verließ Tsi 312 v. Chr.


21 Schu Ging IV, II, 6. Der Text weicht etwas ab. Die hier erwähnte Geschichte ist dieselbe wie III, B, 5.


22 Tong war ein kleiner Staat zwischen Tschu im Süden und Tsi im Norden. Die hier und in den folgenden zwei Abschnitten genannten Unterhaltungen fallen wohl in das Jahr 300.


23 Der »Große König«, der Großvater des Königs Wen von Dschou. Vgl. zu dieser Geschichte den nächsten Abschnitt. Bin ist im Westen, der Aufenthaltsort der Dschous vor ihrer Niederlassung am Ki-Berge.


24 Diese mißglückte Begegnung mit dem Fürsten von Lu fällt in das Jahr 315. Nachdem Mong seine Mutter zum letztenmal im Jahre 318 in Tsi bei sich gesehen hatte, starb sie in Lu. Im Jahre 317 verließ Mong daher Tsi zum erstenmal wieder und ging nach Lu zur Beerdigung seiner Mutter. Dort blieb er der Sitte gemäß drei Jahre. Als die Trauerzeit zu Ende war, wollte der Fürst von Lu ihn auf den Rat seines Ministers Yüo Dschong, eines Schülers von Mong, aufsuchen, ohne jedoch seinem Günstling davon zu sagen. Der hatte die Sache jedoch bemerkt und wußte die Begegnung zu hintertreiben. Der Grund, daß Mong seine Mutter prächtiger beerdigte als seinen Vater (wörtlich: »Die zweite Beerdigung war prächtiger als die frühere«), ist nicht nur aus den hier gegebenen Instanzen nichtig, sondern vor allem, weil Mong beim Tode seines Vaters erst im dritten Jahre stand. Zu der Art, wie Mong sich mit dem Ereignis abfindet, vgl. Lun Yü VII, 22; IX, 5; XIV, 38.

Quelle:
Mong Dsï: Die Lehrgespräche des Meisters Meng K'o. Köln 1982, S. 63-64.
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