Fünftes Capitel.

Von der Ethologie oder der Wissenschaft von der Bildung des Charakters.

[468] §. 1. Die in dem vorhergehenden Capitel charakterisirten Gesetze des Geistes bilden den allgemeinen und abstracten Theil der Philosophie der menschlichen Natur, und alle eine praktische Kenntniss der Menschheit constituirenden Wahrheiten der gewöhnlichen Erfahrung müssen, soweit sie Wahrheiten sind, Resultate oder Folgen derselben sein. Solche gewöhnlichen Maxime, wenn sie aus der Lebenserfahrung a posteriori geschlossen wurden, nehmen unter den Wahrheiten der Wissenschaft den Platz von dem ein, was wir bei unserer Analyse der Induction so häufig empirische Gesetze genannt haben.

Ein empirisches Gesetz ist (wie man sich erinnern wird) eine Gleichförmigkeit der Succession oder der Coexistenz, die in allen Fällen innerhalb der Grenze unserer Beobachtung gültig ist, deren Natur jedoch über diese Grenze hinaus keine Sicherheit giebt; entweder weil das Consequens nicht wirklich die Wirkung des Antecedens ist, sondern mit ihm nur einen Theil einer Kette von Wirkungen ausmacht, die aus früheren und noch nicht bestimmten Ursachen fliessen, oder weil Grund vorhanden ist zu glauben, die Sequenz (obgleich ein Fall von Verursachung) sei in einfachere Sequenzen auflösbar, und, da sie demnach von einem Zusammenwirken verschiedener natürlicher Agentien abhängig ist, einer unbekannten Menge von Möglichkeiten ausgesetzt, verhindert zu werden. Mit anderen Worten, ein empirisches Gesetz ist eine Generalisation, in Betreff deren wir uns nicht begnügen können, sie wahr zu finden, sondern bei der wir fragen müssen, warum sie wahr ist? indem wir wissen, dass ihre Wahrheit nicht absolut, sondern von irgend allgemeineren Bedingungen abhängig ist, und dass wir uns nur[468] soweit auf sie verlassen kann, als wir der Erfüllung dieser Bedingungen sicher sind.

Die der gewöhnlichen Erfahrung entnommenen Beobachtungen in Betreff menschlicher Angelegenheiten sind genau von dieser Natur. Auch wenn sie innerhalb der Grenzen der Erfahrung allgemein und genau wahr wären was niemals der Fall ist, so sind sie doch nicht die letzten Gesetze menschlicher Handlungen; sie sind nicht die Principien der menschlichen Natur, sondern Resultate dieser Principien unter den Umständen, in denen sich die Menschheit zufällig befand. Wenn der Psalmist »in seinem Zorn sagt, alle Menschen sind Lügner«, so spricht er aus, was in manchen Zeiten und Ländern durch reichliche Erfahrung bewiesen wird; es ist aber kein Gesetz der menschlichen Natur zu lügen, obgleich es eine der Folgen der Gesetze der menschlichen Natur ist, dass das Lügen nahezu allgemein ist, wenn gewisse äussere Umstände allgemein vorhanden sind, besonders Umstände, die gewohnheitsmässiges Misstrauen und Furcht erzeugen. Wenn behauptet wird, die Alten seien von vorsichtigem, die Jungen von heftigem Charakter, so ist dies wiederum nur ein empirisches Gesetz; denn nicht ihrer Jugend wegen sind die Jungen heftig, und nicht ihres Alters wegen sind die Alten vorsichtig. Der Grund liegt hauptsächlich, wenn nicht gänzlich, darin, dass die Alten während ihres langen Lebens dessen verschiedene Uebel mehr erfahren haben, und dass sie, da sie sich diesen Uebeln auf unvorsichtige Weise ausgesetzt, durch dieselben mehr gelitten haben oder Andere leiden gesehen und dadurch der Vorsicht günstige Ideenassociationen erlangt haben; während die Jungen, sowohl aus Mangel an ähnlicher Erfahrung, als auch der stärkeren Neigungen wegen, welche sie zu Unternehmungen drängen, sich leichter in dieselben einlassen. Hier ist also die Erklärung des empirischen Gesetzes, hier sind die Bedingungen, welche zuletzt bestimmen, ob das Gesetz gültig ist oder nicht. Wenn ein alter Mann nicht öfter als die meisten Jünglinge mit Gefahren und Schwierigkeiten in Berührung gekommen ist, so wird er gleich unvorsichtig sein; wenn ein Jüngling keine stärkeren Neigungen hat, als ein alter Mann, so wird er wahrscheinlich wenig unternehmend sein. Das empirische Gesetz leitet die Wahrheit, welche es besitzt, von den Causalgesetzen ab, von denen es eine Folge ist. Wenn wir diese[469] Gesetze kennen, so kennen wir auch die Grenzen des abgeleiteten Gesetzes, während, wenn wir das empirische Gesetz noch nicht erklärt haben – wenn es bloss eine Beobachtung bleibt –, in seiner Anwendung über die Grenzen der Zeit, des Ortes und der Umstände hinaus, in denen die Beobachtungen gemacht wurden, keine Sicherheit liegt.

Die wahrhaft wissenschaftlichen Wahrheiten sind daher nicht jene empirischen Gesetze, sondern die Causalgesetze, welche dieselben erklären. Die empirischen Gesetze dieser Erscheinungen, welche von bekannten Ursachen abhängen und von denen daher eine allgemeine Theorie aufgestellt werden kann, haben in der Wissenschaft keine andere Function, als die Schlüsse der Theorie zu verificiren, was auch sonst ihr Werth in der Praxis sein mag. Dies muss um so mehr der Fall sein, wenn die meisten der empirischen Gesetze sogar innerhalb der Grenzen der Beobachtung nur auf annähernde Generalisationen hinauslaufen.

§. 2. Dies ist indessen nicht so sehr, wie man zuweilen annimmt, eine Eigenthümlichkeit der sogenannten moralischen Wissenschaften (Geisteswissenschaften). Empirische Gesetze sind überhaupt nur in den einfachsten Zweigen der Wissenschaft genau wahr, und auch da nicht immer. Die Astronomie z.B. ist die einfachste von allen Wissenschaften, welche den wirklichen Lauf von Naturereignissen erklären. Die Ursachen oder Kräfte, von welchen die astronomischen Erscheinungen abhängen, sind an Zahl geringer als diejenigen, welche irgend eine andere der grossen Naturerscheinungen bestimmen. Da hier eine jede Wirkung aus dem Conflict von nur wenigen Ursachen hervorgeht, so darf ein hoher Grad von Regelmässigkeit und Gleichförmigkeit unter den Wirkungen erwartet werden; dies ist aber auch wirklich der Fall, sie besitzen eine feste Ordnung und kehren in Cyclen wieder. Aber Sätze, welche mit absoluter Genauigkeit die aufeinander folgenden Stellungen eines Planeten bis zur Vollendung des Cyclus ausdrücken, würden von einer fast unbesiegbaren Verwickelung sein und könnten nur durch die Theorie gewonnen werden. Die Generalisationen, welche in Betreff dieses Gegenstandes aus der directen Beobachtung gefolgert werden können, wären sie auch der Art wie die Kepler'schen Gesetze, sind blosse Annäherungen,[470] da sich die Planeten ihrer gegenseitigen Störungen wegen nicht genau in Ellipsen bewegen. Man darf daher sogar in der Astronomie nicht nach vollkommener Genauigkeit der empirischen Gesetze suchen; noch weniger aber in den verwickelteren Gegenständen der Forschung.

Dasselbe Beispiel zeigt, wie wenig aus der Unmöglichkeit, andere als annähernde empirische Gesetze von den Wirkungen aufzustellen, gegen die Allgemeinheit oder sogar gegen die Einfachheit der letzten Gesetze gefolgert werden kann. Die Causalgesetze, nach denen eine Classe von Phänomenen erzeugt wird, können an Zahl sehr gering und einfach und die Wirkungen können dennoch so mannigfaltig und verwickelt sein, dass es unmöglich wird, irgend eine durchgehende Regelmässigkeit bei ihnen aufzufinden. Die fraglichen Erscheinungen können nämlich von einem sehr veränderlichen Charakter sein, so dass unzählige Umstände die Wirkung beeinflussen, obgleich sie dies alle nach einer sehr geringen Anzahl von Gesetzen thun mögen. Nehmen wir an, es werde alles, was in dem Geiste eines Menschen vorgeht, durch einige einfache Gesetze bestimmt; wenn diese Gesetze indessen der Art sind, dass nicht eine einzige der ein menschliches Wesen umgebenden Thatsachen oder der sich ihm zutragenden Begebenheiten ohne Einfluss auf seine spätere geistige Geschichte bleibt, und wenn die Umstände verschiedener menschlicher Wesen höchst verschieden sind: so wird man sich nicht zu verwundern haben, wenn in Beziehung auf die Einzelheiten ihrer Handlungsweise oder ihrer Gefühle einige wenige Sätze aufgestellt werden können, die von der ganzen Menschheit wahr sind.

Ohne entscheiden zu wollen, ob der letzten Gesetze unserer geistigen Natur wenige oder viele sind, ist es nun aber gewiss, dass sie wenigstens von obiger Art sind. Es ist gewiss, dass unsere geistigen Zustände, unsere geistigen Fähigkeiten und Empfänglichkeiten entweder zeitweise oder beständig durch alles modificirt werden, was uns im Leben begegnet. Wenn wir daher betrachten, wie sehr diese modificirenden Ursachen bei zwei Individuen differiren, so wäre es unvernünftig zu erwarten, dass die empirischen Gesetze des menschlichen Geistes, die Generalisationen, welche in Betreff der Gefühle oder der Handlungen der Menschen ohne Bezug auf die sie bestimmenden Ursachen gemacht werden können, etwas[471] anderes seien als annähernde Generalisationen. In ihnen liegt die gewöhnliche Weisheit des gewöhnlichen Lebens, und soweit sind sie unschätzbar; besonders da sie meistentheils auf Fälle anzuwenden sind, die denen nicht sehr unähnlich sehen, aus denen sie gefolgert sind. Wenn aber derartige von Engländern abgeleitete Maxime auf Franzosen angewendet werden, oder wenn die von der Gegenwart abgeleiteten Grundsätze auf vergangene oder kommende Generationen angewendet werden, so trifft man dabei leicht auf Schwierigkeiten. Wenn wir nicht das empirische Gesetz in die Gesetze der Ursachen, von denen es abhängig ist, aufgelöst und wenn wir bestimmt haben, dass diese Ursachen sich auf den vorliegenden Fall erstrecken, so können wir uns auf unsere Folgerungen nicht verlassen. Denn ein jedes Individuum ist von Umständen umgeben, die sich von denen eines jeden andern Individuums unterscheiden; eine jede Nation oder Generation unterscheidet sich in dieser Beziehung von einer jeden andern Nation oder Generation ; und keine von diesen Verschiedenheiten bleibt bei der Bildung eines verschiedenen Charaktertypus ohne Einfluss. Es ist in der That auch eine gewisse allgemeine Aehnlichkeit vorhanden; aber Eigenthümlichkeiten der Umstände lassen fortwährend Ausnahmen sogar von Sätzen entstehen, welche in der grossen Mehrheit der Fälle wahr sind.

Obgleich es indessen kaum eine Gefühls- oder Handlungsweise giebt, die im absoluten Sinne allen Menschen gemein wäre, und obgleich die Generalisationen, welche behaupten, eine gegebene Varietät des Fühlens oder Handelns werde allgemein angetroffen von keinem mit wissenschaftlicher Forschung Vertrauten als wissenschaftliche Sätze betrachtet werden (wie nahe sie auch innerhalb der gegebenen Grenzen der Wahrheit kommen mögen): so haben doch alle Gefühls- und Handlungsweisen, denen man bei den Menschen begegnet, Ursachen, welche sie erzeugen; und in den Sätzen, welche diese Ursachen nachweisen, wird man die Erklärung der empirischen Gesetze und die ihre Verlässlichkeit beschränkenden Principien finden. Unter denselben Umständen fühlen und handeln menschliche Wesen nicht gleich; aber es ist möglich zu bestimmen, was den Einen in einer gegebenen Lage so handeln lässt, den Anderen anders; wie eine mit den allgemeinen (physischen und geistigen) Gesetzen der Menschennatur verträgliche[472] Gefühls-und Handlungsweise gebildet worden ist oder werden könnte. Mit anderen Worten, die Menschen haben nicht einen allgemeinen Charakter, aber es giebt allgemeine Gesetze der Bildung des Charakters. Und da durch diese Gesetze in Verbindung mit den Thatsachen eines jeden besonderen Falles das Ganze der Erscheinungen der menschlichen Gefühle und Handlungen hervorgebracht wird, so muss ein jeder rationelle Versuch, die Wissenschaft von der menschlichen Natur im Concreten und für praktische Zwecke zu construiren, von denselben ausgehen.

§. 3. Da also die Gesetze der Charakterbildung den Hauptgegenstand der wissenschaftlichen Erforschung der menschlichen Natur bilden, so bleibt noch die für die Feststellung derselben am meisten geeignete Methode zu bestimmen. Die logischen Principien, nach denen diese Frage zu entscheiden ist, müssen die Principien sein, welche einen jeden anderen Versuch, die Gesetze sehr complexer Erscheinungen zu erforschen, leiten müssen; denn es ist klar, dass sowohl der Charakter eines menschlichen Wesens, als auch das Aggregat der Umstände, wodurch dieser Charakter gebildet worden ist, Thatsachen von dem höchsten Grade von Verwickelung sind. Wir haben nun aber gesehen, dass die von allgemeinen Gesetzen ausgehende und deren Folgen durch specifisches Experiment verificirende deductive Methode allein auf solche Fälle anwendbar ist. Die Gründe dieser grossen logischen Lehre sind früher angegeben worden, und ihre Wahrheit wird durch eine Prüfung der Specialitäten des gegenwärtigen Falles eine weitere Bestätigung erhalten.

Die Naturgesetze können nur auf zweierlei Weise bestimmt werden, deductiv und experimentell; unter experimenteller Forschung sowohl Beobachtung als auch das künstliche Experimentiren verstanden. Sind die Gesetze der Charakterbildung einer genügenden Erforschung durch die experimentelle Methode fähig? Offenbar nicht, weil, wenn wir auch eine unbegrenzte Macht voraussetzen, das Experiment zu variiren (was in abstracto möglich, obgleich nur ein orientalischer Despot entweder die Macht dazu hat, oder eine solche Macht anzuwenden geneigt sein kann), eine noch wesentlichere Bedingung fehlt, nämlich die Macht, irgend eines dieser Experimente mit wissenschaftlicher Genauigkeit auszuführen.[473]

Die für die Verfolgung einer directen experimentellen Erforschung der Charakterbildung erforderlichen Fälle würden dann bestehen, dass man eine Anzahl menschlicher Wesen von der Kindheit bis zum reifen Alter erzieht. Um aber irgend eines dieser Experimente mit wissenschaftlicher Genauigkeit auszuführen, würde es nöthig sein, eine jede Sensation und einen jeden Eindruck, den das Kind erhalten hat lange bevor es sprechen konnte, zu kennen und ihn sowie auch die eigenen späteren Begriffe des Kindes in Betreff der Quellen aller dieser Sensationen aufzuzeichnen. Es ist nicht allein unmöglich, dies vollständig zu thun, sondern es ist auch unmöglich, es nur so weit zu thun, als für ein ziemlich annäherndes Experiment genügt. Ein scheinbar unbedeutender Umstand, der unserer Aufmerksamkeit entging, könnte eine hinreichende Reihe von Eindrücken und Ideenassociationen herbeiführen, um das Experiment als eine authentische Darlegung von aus gegebenen Ursachen fliessenden Wirkungen fehlerhaft zu machen. Diese Wahrheit kennt ein jeder, der über die Erziehung hinreichend nachgedacht hat; und wer sie nicht kennt, wird sie in den Schriften von Rousseau und Helvetius über diesen Gegenstand in höchst instructiver Weise erläutert finden.

Bei der Unmöglichkeit, die Gesetze der Charakterbildung durch besonders dafür eingerichtete Experimente zu studiren, bleibt nur noch die einfache Beobachtung. Wenn es aber selbst dann unmöglich ist, die influirenden Umstände mit annähernder Vollständigkeit zu bestimmen, wenn wir die Herrichtung der Experimente in der Gewalt haben, so ist dies um so unmöglicher, wenn die Falle unserer Beobachtung weiter entrückt sind und ganz ausser unserer Macht stehen. Man betrachte die Schwierigkeiten schon des ersten Schrittes – zu bestimmen, welches der wirkliche Charakter des Individuums in einem jeden besonderen Falle ist, den wir prüfen. Es giebt kaum einen Menschen, über welchen, was irgend einen wesentlichen Theil seines Charakters betrifft, die Meinungen seiner intimsten Bekannten nicht getheilt wären; und eine einzelne Handlung, oder die Handlungsweise von einer nur kurzen Zeit können die Bestimmung wenig fördern. Wir können unsere Beobachtungen nur in einer rauhen Weise und en masse machen; indem wir in einem gegebenen Falle nicht versuchen vollständig zu erforschen, welcher Charakter gebildet worden[474] ist, und noch weniger, durch welche Ursachen, sondern indem wir bloss beobachten, unter welchen vorausgängigen Umständen gewisse hervorragende geistige Eigenschaften oder Mängel am häufigsten existiren. Ausserdem, dass sie bloss annähernde Generalisationen sind, verdienen diese Schlüsse selbst auch als solche kein Vertrauen, wenn die Fälle nicht zahlreich genug sind, um nicht bloss den Zufall, sondern auch einen jeden accidentellen Umstand zu eliminiren, in dem sich eins Anzahl der geprüften Fälle vielleicht einander ähnlich sahen. Auch sind die den individuellen Charakter bildenden Umstände so mannigfaltig und zahlreich, dass die Folge einer besonderen Combination derselben kaum jemals irgend ein bestimmter und stark markirter Charakter ist, ein Charakter, der sich immer da findet, wo diese Combination existirt, und sonst nicht. Auch nach der umfassendsten und genauesten Beobachtung wird bloss ein relatives Resultat erhalten: wie z.B. dass unter einer gegebenen Anzahl von ohne Unterschied gewählten Franzosen sich mehr Personen von einer besonderen geistigen Richtung und weniger von der entgegengesetzten Richtung finden werden, als unter einer gleichen Anzahl von in gleicher Weise gewählten Italienern oder Engländern; oder auch: von hundert Franzosen und einer gleichen Anzahl Engländer, die unparteiisch gewählt und nach dem Grade geordnet sind, in dem sie eine besondere geistige Eigenthümlichkeit besitzen, wird eine jede Anzahl 1, 2, 3 etc. der einen Reihe von dieser Eigenthümlichkeit mehr besitzen, als die entsprechende Anzahl der andern Reihe. Da demnach nicht eine Vergleichung von Arten, sondern von Verhältnissen und Graden stattfindet, und da im Verhältniss, als die Unterschiede gering sind, die Elimination des Zufalls eine grössere Anzahl von Fällen erfordert: so kann es niemand oft vorkommen, dass er eine hinreichende Anzahl von Fällen mit der für die letztgenannte Vergleichung erforderlichen Genauigkeit kennt; eine geringere Kenntniss würde aber zu keiner wirklichen Induction führen. Es giebt auch demnach kaum eine gangbare Meinung in Betreff der Charaktere von Nationen, von Classen oder Arten von Personen, welche allgemein als unbestreitbar anerkannt wäre.201[475]

Und wenn wir zuletzt noch durch das Experiment viel gewissere Generalisation erhalten könnten, als es wirklich möglich ist so würden sie nur bloss empirische Gesetze sein. Sie würden in der That zeigen, dass zwischen dem gebildeten Charaktertypus und den in dem Falle existirenden Umständen ein Zusammenhang besteht; sie würden aber weder genau zeigen, wie der Zusammenhang war, noch welcher der Eigenthümlichkeiten dieser Umstände die Wirkung wirklich zuzuschreiben ist. Sie könnten daher nur als Resultate von Verursachung genommen werden, die der Auflösung in allgemeinere Causalgesetze bedürfen. Vor dieser Auflösung könnten wir nicht urtheilen, innerhalb welcher Grenzen die derivativen Gehetze in noch unbekannten Fallen als Präsumtionen dienen; oder auch sogar, ob sie in denjenigen Fällen für beständig gehalten werden können, welche für ihre Ableitung dienten. Das französische Volk hat einen bestimmten nationalen Charakter, oder man nimmt an, es habe ihn; aber es vertrieb seine königliche Familie und seine Aristokratie, änderte seine Institutionen, ging während eines halben Jahrhunderts durch eine Reihe[476] von ausserordentlichen Ereignissen hindurch und erschien nach Verlauf dieser Zeit in vielen Beziehungen sehr verändert. Zwischen Männern und Frauen wird eine lange Reihe von Verschiedenheiten beobachtet oder angenommen; aber in einer künftigen und, wie zu hoffen, nicht sehr entfernten Zeit werden beide gleiche Freiheit und eine gleich unabhängige sociale Stellung besitzen, und die Verschiedenheiten des Charakters werden entweder verschwinden oder ganz verändert werden.

Wenn aber die Verschiedenheiten, welche wir zwischen Franzosen und Engländern, oder zwischen Männern und Frauen zu beobachten glauben, mit allgemeineren Gesetzen in Zusammenhang gebracht werden können; wenn man die ersteren annehmen kann, seien durch Verschiedenheiten der Regierung, früherer Gebräuche durch physische Eigenthümlichkeiten der zwei Nationen, die anderen die Verschiedenheiten der Erziehung, der Beschäftigungen, der persönlichen Unabhängigkeit, der socialen Privilegien und durch ursprüngliche Unterschiede in der körperlichen Stärke und der Sensibilität der Nerven zwischen den zwei Geschlechtern erzeugt: so berechtigt uns in der That die Coincidenz der zwei Beweisarten zu glauben, dass wir richtig geurtheilt und richtig beobachtet haben. Wenn unsere Beobachtung auch nicht zu einem Beweis hinreicht, so dient sie doch reichlich als Bestätigung. Nachdem wir nicht allein die empirischen Gesetze, sondern auch die Ursachen der Eigenthümlichkeiten bestimmt haben, können wir ohne Bedenken urtheilen, wie weit man sie für beständig halten darf, und durch welche Umstände sie modificirt oder zerstört werden würden.

§. 4. Da es also unmöglich ist, von der Beobachtung und dem Experiment allein wirklich genaue Sätze in Betreff der Charakterbildung zu erhalten, so werden wir mit Gewalt zu demjenigen Untersuchungsmodus getrieben, der, wenn auch nicht der unentbehrliche, doch der vollkommenste Modus gewesen wäre, und dessen Ausdehnung einer der Hauptzwecke der Philosophie ist, nämlich zu dem Untersuchungsmodus, der seine Experimente nicht an den complexen Thatsachen, sondern an den einfachen Thatsachen versucht, aus denen jene bestehen; und der nach der Bestimmung der Gesetze der Ursachen, deren Zusammensetzung die complexe Thatsache[477] hervorruft, betrachtet, ob diese Gesetze die annähernden Generalisationen, welche bezüglich der Sequenzen dieser complexen Erscheinungen empirisch aufgestellt wurden, nicht erklären. Kurz, die Gesetze der Charakterbildung sind derivative, aus den allgemeinen Gesetzen des Geistes hervorgehende Gesetze, und können durch Deduction aus diesen allgemeinen Gesetzen erhalten werden, indem man eine gegebene Reihe von Umständen voraussetzt und dann sieht, was den Gesetzen des Geistes zufolge der Einfluss dieser Umstände auf die Charakterbildung sein wird.

Auf diese Weise wird eine Wissenschaft gebildet, für welche ich den Namen Ethologievorschlage; von êthos, ein Wort, das dem Worte »Charakter«, wie ich es hier gebrauche, besser entspricht, als ein jedes andere Wort. Etymologisch ist der Name vielleicht auf die ganze Wissenschaft unserer geistigen und moralischen Natur anwendbar; wenn wir aber, wie es üblich und passend ist, den Namen Psychologie für die Wissenschaft von den elementaren Gesetzen des Geistes gebrauchen, so wird Ethologie als der Name der Wissenschaft dienen, welche die Charakterart ermittelt, welche in Übereinstimmung mit diesen allgemeinen Gesetzen durch irgend eine Reihe von physischen und moralischen Umständen erzeugt wird. Nach dieser Definition ist die Ethologie die Wissenschaft, welche der Erziehungskunst entspricht; sie schliesst in dem weitesten Sinne des Wortes sowohl die Bildung des nationalen oder collectiven, als auch die des individuellen Charakters ein. Man würde in der That vergebens erwarten (wie vollständig die Gesetze der Charakterbildung auch bestimmt sein mögen), dass wir die Umstände eines gegebenen Falles so genau kennen lernen könnten, um den in diesem Falle erzeugten Charakter bestimmt vorauszusagen. Wir müssen uns aber erinnern, dass auch ein weit unter dem Vermögen der Voraussagung stehendes Wissen oft von grossem praktischen Werth ist. Es kann eine grosse Macht, die Erscheinungen zu beeinflussen, neben einer sehr unvollkommenen Kenntniss der Ursachen, durch welche dieselben in einem gegebenen Falle bestimmt werden, bestehen. Es ist genug, wenn wir wiesen, dass gewisse Mittel ein Bestreben haben, eine gegebene Wirkung zu erzeugen, und dass andere Mittel ein Bestreben haben, sie zu vereiteln. Wenn wir die Umstände eines Individuums oder einer[478] Nation in einem hohen Grade in der Gewalt haben, so können wir vermittelst unserer Kenntniss ihrer Bestreben im Stande sein, diese Umstände für den gewünschten Zweck viel günstiger herzustellen, als sie an und für sich sein würden. Dies ist die Grenze unserer Macht; aber innerhalb dieser Grenze ist die Macht eine sehr wichtige.

Die Ethologie kann die Exacte Wissenschaft der menschlichen Natur genannt werden, denn ihre Wahrheiten sind nicht, ähnlich den empirischen Gesetzen, welche von ihnen abhängen, annähernde Generalisationen, sondern wirkliche Gesetze. Es ist aber (wie bei allen complexen Erscheinungen) für die Genauigkeit der Sätze nöthig, dass sie nur hypothetisch seien, und nur Bestreben, nicht aber Thatsachen behaupten. Sie dürfen nicht behaupten, dass Etwas immer oder gewiss eintreffen wird, sondern nur, dass die Wirkung einer gegebenen Ursache, soweit sie ungehindert wirkt, so und so sein wird. Es ist ein wissenschaftlicher Satz, dass körperliche Stärke die Menschen muthig zu machen strebt, nicht, dass sie es immer thue, dass ein Interesse auf der einen Seite einer Frage das Urtheil parteiisch zu machen strebt, nicht dass es dies beständig thue; dass die Erfahrung klug macht, nicht dass dies immer die Wirkung derselben sei. Da diese Propositionen nur Bestreben behaupten, so sind sie darum, dass die Bestreben vereitelt werden können, nicht weniger allgemein wahr.

§. 5. Während die Psychologie gänzlich oder hauptsächlich eine Wissenschaft der Beobachtung und des Experiments ist, ist die Ethologie, wie ich sie verstehe, gänzlich deductiv. Die eine bestimmt die einfachen Gesetze des Geistes im allgemeinen, die andere weist deren Wirkung in verwickelten Combinationen von Umständen nach. Die Ethologie steht zu der Psychologie in einem ähnlichen Verhältniss, wie die verschiedenen Zweige der Physik zur Mechanik. Die Principien der Ethologie sind eigentlich die mittleren Principien, die axiomata media (wie Bacon gesagt hätte) der Geisteswissenschaft; auf der einen Seite unterscheiden sie sich von den aus einfacher Beobachtung hervorgehenden empirischen Gesetzen, auf der anderen Seite von den höchsten Generalisationen.

Es scheint hier die geeignete Stelle für eine logische Bemerkung zu sein, welche, obgleich von allgemeiner Anwendbarkeit,[479] für den vorliegenden Gegenstand von besonderer Wichtigkeit ist. Bacon hat scharfsinnig bemerkt, dass die axiomata media hauptsächlich den Werth einer jeden Wissenschaft ausmachen. Ehe die niedrigsten Generalisationen in die mittleren Principien, deren Folgen sie sind, aufgelöst und durch sie erklärt sind, haben sie nur die unvollkommene Genauigkeit empirischer Gesetze; während die allgemeinen Gesetze zu allgemein sind, und zu wenig Umstände einbegreifen, um eine hinreichende Indication in Betreff dessen zu geben, was in individuellen Fällen, wo die Umstände fast immer ungeheuer zahlreich sind, geschieht. Es ist unmöglich, in Betreff der Wichtigkeit, welche Bacon den mittleren Principien einer jeden Wissenschaft beilegt, nicht mit ihm einverstanden zu sein. Ich glaube aber, dass er in Beziehung auf den Modus, nach welchem diese axiomata media zu erlangen sind, gänzlich im Irrthum war, obgleich in seinen Werken sich kaum eine Proposition finden dürfte, für die er ein gleich verschwenderisches Lob eingeerntet hätte. Er giebt als eine allgemeine Regel; dass die Induction von den untersten zu den mittleren, und von diesen zu den höchsten Principien aufsteigen sollte, und dass man diese Ordnung niemals umkehren sollte, so dass folglich für die Entdeckung neuer Principien durch Deduction kein Raum ist. Man kann sich nicht denken, dass ein so scharfsinniger Geist in einen solchen Irrthum hätte fallen können, wenn zu seiner Zeit unter den Wissenschaften, welche von successiven Erscheinungen handeln, ein einziges Beispiel von einer deductiven Wissenschaft gewesen wäre, wie die Mechanik, die Astronomie, die Optik. Akustik etc. jetzt sind. Offenbar sind in diesen Wissenschaften die höheren und mittleren Principien nicht von den untersten abgeleitet, sondern umgekehrt. In einigen von diesen Wissenschaften sind gerade die höchsten Generalisationen diejenigen, welche am frühesten mit wissenschaftlicher Genauigkeit bestimmt wurden, wie z.B. in der Mechanik das Gesetz der Bewegung. Diese allgemeinen Gesetze hatten in der That zuerst nicht die anerkannte Allgemeinheit, welche sie erlangten, nachdem sie erfolgreich angewendet worden waren, um viele Classen von Phänomenen zu erklären, auf die man sie anfänglich nicht für anwendbar hielt, z.B. als die Gesetze der Bewegung in Verbindung mit anderen Gesetzen gebraucht wurden, um die himmlischen Erscheinungen deductiv zu erklären. Immerhin bleibt aber[480] die Thatsache, dass die Sätze, welche später als die allgemeinsten Wahrheiten der Wissenschaft anerkannt wurden, von allen genauen Generalisationen derselben diejenigen waren, welche man am frühesten gewonnen hatte. Bacon's grösstes Verdienst kann daher nicht, wie man uns so oft gesagt hat, darin bestehen, die von den Alten befolgte fehlerhafte Methode – zuerst zu den höchsten Generalisationen aufzusteigen, und dann die mittleren Principien von ihnen abzuleiten – verworfen zu haben; denn dies ist weder eine fehlerhafte noch eine verworfene, sondern die allgemein anerkannte Methode der modernen Wissenschaft, die Methode, welcher dieselbe ihre grössten Triumphe verdankt. Der Irrthum der Alten lag nicht darin, dass sie die weitesten Generalisationen zuerst ausführten, sondern darin, dass sie dieselben ohne die Hülfe und Garantie einer strengen inductiven Methode ausführten und sie ohne den nöthigen Gebrauch jenes wichtigen Theiles der deductiven Methode, der Verification genannt wird, deductiv anwandten.

Die Ordnung, in welcher Wahrheiten von verschiedenem Grade von Allgemeinheit zu ermitteln sind, kann meiner Ansicht nach nicht durch eine starre Regel vorgeschrieben werden. Ich wüsste in Betreff dieses Gegenstandes keinen andern Grundsatz aufzustellen, als dass man diejenigen Wahrheiten zuerst zu erhalten suche, in deren Beziehung die Bedingungen einer wirklichen Induction zuerst und am vollständigsten zu erfüllen sind. Wo nun aber unsere Mittel der Untersuchung Ursachen erreichen können, ohne sich bei den empirischen Gesetzen der Wirkungen aufzuhalten, da werden sich die einfachsten Fälle, diejenigen, an denen die geringste Anzahl von Ursachen gleichzeitig betheiligt ist, dem inductiven Process am leichtesten fügen; und dies sind die Fälle, aus denen sich die umfassendsten Gesetze ergeben. Bei einer jeden Wissenschaft, welche das Stadium erreicht hat, wo sie zu einer Wissenschaft von Ursachen wird, wird es daher gebräuchlich und auch wünschenswerth sein, dass man sucht, zuerst zu den höchsten Generalisationen zu gelangen, um die specielleren sodann aus diesen abzuleiten. Für den von späteren Schriftstellern so sehr gepriesenen Baconischen Grundsatz kann ich keine andere Begründung erblicken, als diese: ehe wir versuchen, eine neue Classe von Erscheinungen deductiv durch allgemeinere Gesetze zu erklären, ist es wünschenswerth, dass wir die empirischen Gesetze dieser[481] Phänomene soweit als thunlich ermittelt haben; so dass wir die Resultate der Deduction nicht nacheinander mit einem jeden individuellen Fall, sondern mit allgemeinen Sätzen vergleichen, welche die zwischen vielen Fällen gefundenen Punkte der Uebereinstimmung ausdrücken. Wenn Newton gezwungen gewesen wäre, seine Gravitationstheorie in der Weise zu verificiren, dass er, anstatt Kepler's Gesetze daraus abzuleiten, alle beobachteten Stellungen der Planeten daraus ableitete, die Keppler für die Aufstellung seiner Gesetze dienten, so wäre Newton's Theorie wahrscheinlich niemals aus dem Zustande einer Hypothese herausgekommen.202

Die Anwendbarkeit dieser Bemerkungen auf den vorliegenden speciellen Fall steht ausser aller Frage. Die Wissenschaft von der Charakterbildung ist eine Wissenschaft von Ursachen. Der Gegenstand ist der Art, dass diejenigen Regeln der Induction, durch welche Causalgesetze bestimmt werden, darauf streng anwendbar sind. Es ist daher natürlich und rathsam, die einfachsten Causalgesetze, welche nothwendig auch die allgemeinsten sind, zuerst zu bestimmen und die mittleren Principien aus ihnen abzuleiten. Mit anderen Worten, die deductive Wissenschaft, die[482] Ethologie, ist ein System von Folgesätzen der experimentellen Wissenschaft der Psychologie.

§. 6. Von diesen zwei Wissenschaften ist nur die ältere bis jetzt wirklich als eine Wissenschaft aufgefasst und studirt worden; die andere, die Ethologie, ist noch zu schaffen, ihre Erschaffung ist aber endlich ausführbar geworden. Die für die Verification ihrer Deductionen bestimmten empirischen Gesetze sind durch eine Reihe von Jahrhunderten von den Menschen aufgestellt worden, und die Prämissen für die Deductionen sind nun hinlänglich vervollständigt. Wenn wir die Ungewissheit ausnehmen, welche in Betreff der Grösse der natürlichen Verschiedenheiten in dem Geiste der Individuen und in Betreff der physischen Umstände, von denen dieselben abhängen mögen, existirt (Betrachtungen, welche von untergeordneter Wichtigkeit sind, wenn wir die Menschen im Durchschnitt oder en masse betrachten); so glaube ich, werden die competentesten Richter darin übereinstimmen, dass die allgemeinen Gesetze der constituirenden Elemente der Menschennatur gegenwärtig genügend verstanden werden, um es einem competenten Denker möglich zu machen, aus diesen Gesetzen die besonderen Charaktertypen abzuleiten, welche durch irgend eine angenommene Reihe von Umständen aus den Menschen gebildet werden würden. Eine auf die Gesetze der Psychologie gegründete wissenschaftliche Ethologie ist daher möglich, obgleich noch wenig dafür geschehen und dieses wenige nicht einmal systematisch geschehen ist. Der Fortschritt dieser wichtigen aber höchst unvollkommenen Wissenschaft wird von einem doppelten Verfahren abhängen; erstens, von einer theoretischen Deduction der ethologischen Consequenzen besonderer Umstände der Lage und deren Vergleichung mit den anerkannten Resultaten der gewöhnlichen Erfahrung; und, zweitens, von der umgekehrten Operation, von vermehrtem Studium der verschiedenen in der Welt zu findenden Typen der menschlichen Natur durch Personen, die nicht allein im Stande sind, die Umstände, in denen die verschiedenen Typen vorherrschen, zu analysiren und aufzuzeichnen, sondern die auch mit den psychologischen Gesetzen hinreichend bekannt sind, um das Charakteristische des Typus durch die Eigentümlichkeiten der Umstände erklären zu können; indem[483] das Residuum allein, wenn sich ein solches herausstellt, auf Rechnung von angeborenen Prädispositionen gesetzt wird.

Für den experimentellen oder a posteriori Theil dieses Processes häuft sich durch die Beobachtung der Menschen das Material fortwährend an. So weit als das Denken in Betracht kommt, ist es die grosse Aufgabe der Ethologie, die erforderlichen mittleren Principien aus den allgemeinen Gesetzen der Psychologie abzuleiten. Der Ursprung und die Quellen aller jener Eigenschaften menschlicher Wesen, die für uns ein Interesse besitzen als Thatsachen, die entweder zu erzeugen, zu vermeiden, oder bloss zu verstehen sind, bilden den zu studirenden Gegenstand; aus den allgemeinen Gesetzen des Geistes und der allgemeinen Stellung unserer Species in der Welt zu bestimmen, welche wirklichen oder möglichen Combinationen von Umständen die Erzeugung dieser Eigenschaften befördern oder verhindern können, ist der Zweck dieses Studiums. Eine Wissenschaft, welche derartige mittlere Principien besitzt, und zwar geordnet nach der Ordnung nicht ihrer Ursachen, sondern der Wirkungen, die zu erzeugen oder zu verhindern wünschenswerth ist, ist gehörig vorbereitet, um das Fundament der entsprechenden Kunst zu bilden. Und wenn die Ethologie in dieser Weise ausgerüstet sein wird, so wird die praktische Erziehung die blosse Uebertragung dieser Principien in ein paralleles System von Vorschriften und die Anpassung der letzteren an die Totalsumme der einzelnen Umstände sein, welche in einem jeden besonderen Falle vorhanden sind.

Es ist kaum nöthig, noch einmal zu wiederholen, dass, wie in einer jeder anderen deductiven Wissenschaft, die Verification a posteriori mit der Deduction a priori gleichen Schritt halten muss. Die theoretische Folgerung in Betreff des Charaktertypus, welcher durch irgend gegebene Umstände gebildet werden würde, muss durch specifische Erfahrung dieser Umstände, so oft sie zu erlangen ist, geprüft werden, und die Schlüsse der Wissenschaft müssen als ein Ganzes fortwährend einer Verification und Correction durch die allgemeinen Beobachtungen, welche die gewöhnliche Erfahrung in Betreff der menschlichen Natur in unserer eigenen Zeit und die Geschichte in Beziehung auf vergangene Zeiten darbietet, unterworfen werden. Man kann sich auf die Schlüsse der Theorie nicht verlassen, wenn sie nicht durch Beobachtung bestätigt sind;[484] und eben so wenig auf die der Beobachtung, wenn sie nicht dadurch mit der Theorie affiliirt werden können, dass man sie von den Gesetzen der menschlichen Natur und einer genauen Analyse der Umstände der besonderen Lage ableitet. Es ist die Uebereinstimmung dieser beiden Beweisarten einzeln genommen – die Uebereinstimmung des aprioristischen Schliessens und der specifischen Erfahrung – welche die einzige genügende Grundlage für die Principien einer Wissenschaft bildet, welche es mit so verwickelten und concreten Erscheinungen zu thun hat, wie die Ethologie.[485]

Quelle:
John Stuart Mill: System der deduktiven und inductiven Logik. Band 2, Braunschweig 31868, S. 468-486.
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