Mein Lebenslauf [III]
[Aus dem Jahre 1861]

[92] Ich bin zu Röcken geboren, einem Dorf, das in der Nähe von Lützen liegt und sich an der Landstraße entlang hinzieht. Rings wird es von Weidengebüsch und vereinzelten Pappeln und Ulmen umschlossen, so daß aus der Ferne nur die ragenden Schornsteine und der altertümliche Kirchturm durch die grünen Wipfel hindurchschauen. Innerhalb des Dorfes breiten sich größere Teiche aus, nur durch schmale Landstrecken voneinander getrennt: ringsum frisches Grün und knorrige Weiden. Etwas höher liegt das Pfarrhaus und die Kirche, ersteres von Gärten und Baumpflanzungen umgeben. Dicht grenzt der Friedhof an, voll von eingesunknen Grabsteinen und Kreuzen. Die Pfarrwohnung selbst wird von drei schön gewachsenen weitästigen Ulmen beschattet und macht durch ihren stattlichen Bau und ihre innere Einrichtung auf jeden Besucher einen angenehmen Eindruck.

Hier bin ich am fünfzehnten Oktober 1844 geboren und erhielt meinem Geburtstag angemessen den Namen: »Friedrich Wilhelm«. Was ich über die ersten Jahre meines Lebens weiß, ist zu unbedeutend, um es zu erzählen. Verschiedne Eigenschaften entwickelten sich schon sehr frühe. So eine gewisse Ruhe und Schweigsamkeit, durch die ich mich von andern Kindern leicht fern hielt, dabei eine bisweilen ausbrechende Leidenschaftlichkeit. Von der Außenwelt unberührt lebte ich in einem glücklichen Familienkreis; das Dorf und die nächste Umgebung war meine Welt, alles Fernerliegende ein mir unbekanntes Zauberreich. – Der heitre Himmel, der mich bis jetzt umlacht hatte, wurde plötzlich von schwarzen, unheilschwangeren Wolken getrübt. Mein Vater erkrankte gefährlich, ohne daß wir die Ursache der Krankheit durchschauten. Der scharfe Blick des Hofrats Opolzer erkannte sofort die Symptome einer Gehirnerweichung. Der Zustand wurde immer schlimmer, immer bedenklicher. Die zunehmenden Leiden meines Vaters, sein Erblinden, seine abgezehrte Gestalt, die Tränen meiner Mutter, die sorgenvollen Mienen des Arztes, endlich die unvorsichtigen Äußerungen der Landleute mußten mich ein drohendes Unglück ahnen lassen. Und dieses Unglück brach auch ein – mein Vater starb. –[92] Ich übergehe meinen Schmerz, meine Tränen, die Leiden meiner Mutter, die tiefe Betrübnis des Dorfes. Wie hat mich das Begräbnis ergriffen! Wie drangen mir die dumpfen Sterbeglocken durch Mark und Bein! Zuerst fühlte ich, daß ich verwaist und vaterlos sei, daß ich einen liebevollen Vater verloren habe. Sein Bild steht noch lebendig vor meiner Seele: eine hohe, schmächtige Gestalt mit feinen Gesichtszügen und wohlwollender Freundlichkeit. Überall beliebt und gern gesehn, sowohl wegen seines geistreichen Gesprächs, als seiner teilnehmenden Herzlichkeit, von den Bauern geehrt und geliebt, als Geistlicher durch Wort und Tat segensreich wirkend, in der Familie der zärtlichste Gatte, der liebevollste Vater, war er das vollendete Musterbild eines Landgeistlichen.


»Ach sie haben

Einen guten Mann begraben,

Und mir war er mehr!«


Einige Monate darauf betraf mich ein zweites Unglück, das ich durch einen sonderbaren Traum vorausahnte. Mir war es, als hörte ich aus der nahen Kirche dumpfen Orgelton. Überrascht öffne ich das Fenster, das der Kirche und dem Friedhof zugewandt war. Das Grab meines Vaters tut sich auf, eine weiße Gestalt steigt herauf und verschwindet in der Kirche. Die düsteren, unheimlichen Klänge rauschen fort; die weiße Gestalt erscheint wieder, etwas unter dem Arm tragend, das ich nicht deutlich erkannte. Der Hügel hebt sich, die Gestalt versinkt, die Orgel verstummt – ich erwache. Am folgenden Morgen wird mein jüngerer Bruder, ein lebhaftes und begabtes Kind, von Krämpfen überfallen und ist in einer halben Stunde tot. Er wurde ganz unmittelbar an dem Grabe meines Vaters beerdigt. –

Die Zeit, wo wir von unsrer geliebten Heimat scheiden sollten, rückte heran. Der letzte Tag und die letzte Nacht stehen mir noch besonders lebendig vor der Seele. Am Abend spielte ich noch mit mehreren Kindern, eingedenk, daß es das letzte Mal sei, und nahm dann von ihnen, wie auch von allen Orten, die mir lieb und teuer geworden waren, Abschied. Die Abendglocke hallte mit wehmütigem Klange durch die Fluren; mattes Dunkel breitete sich über unser Dorf, der Mond stieg auf und schaute bleich auf uns herab. Ich konnte nicht[93] schlafen; unruhig und aufgeregt warf ich mich auf meinem Lager umher und stand endlich auf. Im Hof standen mehrere beladne Wagen, der matte Schein einer Laterne beleuchtete die Hofräume. Nie erschien mir meine Zukunft so dunkel und ungewiß, als damals. Sobald der Morgen graute, wurden die Pferde angeschirrt; wir fuhren durch den Morgennebel fort und riefen unsrer lieben Heimat wehmütig ein Lebewohl zu.

Naumburg, das Ziel unserer Reise machte auf mich einen höchst sonderbaren Eindruck. Das viele Neue, Kirchen und Häuser, öffentliche Plätze und Straßen, alles erregte mein Erstaunen und verwirrte zuerst meine Sinne. Auch die Umgegend zog mich sehr an, die durch ihre schönen Berge und Flußtäler, Schlösser und Burgen die ländliche Einfachheit meiner Heimat sehr in Schatten stellte. Bald auch begann ich meine Schullaufbahn und wurde nach genügenden Vorkenntnissen einem Institut zum Unterricht übergeben. Diese Zeit wurde für mich auch besonders dadurch wichtig, daß ich damals zuerst die beiden Knaben kennenlernte, mit denen verbunden ich bis jetzt in treuer Freundschaft stehe. Überhaupt wurde meine Bekanntschaft erweitert; ich wurde von mehreren Familien freundlich aufgenommen und begann mich wieder heimisch und wohl zu fühlen. Im Kreis meiner Freunde verlebte ich frohe und glückliche Stunden; gleiche Bestrebungen, gleiche Wünsche banden unsere Seelen immer fester aneinander, so daß wir Freude und Leid gemeinsam genossen und ertrugen. Wie unbedeutend erscheinen doch die Trübsale der Knabenjahre! Leichte, fliehende Wolken verdunkeln die aufgegangene Sonne; wenn aber die Sonne hoch steht und die Erde dennoch düster erscheint, dann müssen wahrlich schwere, drohende Wolken sie verschleiern. – Bald auch wurde ich als reif für das Gymnasium erklärt und betrat jene Räume, die ich schon früher immer mit einem geheimen Schauer betrachtet hatte. Die düsteren Lehrzimmer, die strengen und gelehrten Mienen meiner Lehrer, die vielen, so erwachsenen Mitschüler, die mit Geringschätzung auf mich herab sahen und im Gefühl eigner Würde die Neulinge kaum beachteten, alles dies machte mich ängstlich und scheu, und erst allmählich gewöhnte ich mich, meine Stellung mit mehr Zuversicht und Ruhe zu behaupten. Zu gleicher Zeit entwickelten sich auch verschiedne Lieblingsneigungen,[94] von denen einige sich bis jetzt erhalten haben. Insbesondere war es die Neigung zur Musik, die im Laufe der Zeit nur zunahm und jetzt unerschütterlich fest in meiner Seele wurzelt.

Ich war regelmäßig bis Tertia vorgerückt und hatte hier schon ein Semester zugebracht, da traf mich eine Veränderung, die körperlich und geistig bedeutungsvoll auf mich eingewirkt hat. Es wurde uns eine Pförtner Alumnatsstelle angetragen; mir wurde ganz anheimgestellt, ob ich sie annehmen oder ausschlagen wollte. Schon früher hatte ich immer eine Zuneigung für Pforte gehegt, teils weil mich der gute Ruf der Anstalt und die berühmten Namen dort gewesener und dort seiender Männer anzogen, teils weil ich ihre schöne Lage und Umgebung bewunderte. Ich entschied mich schnell für die Annahme der Stelle und habe es nie bereut. Wenn auch die Trennung von Mutter, Schwester und lieben Freunden mir zuerst schwer fiel, so schwand dieses Gefühl doch sehr bald und ich fühlte mich bald hier wieder zufrieden und wohl. Ich verkenne nicht, wie wohltätig Pforte auf mich einwirkt, und ich kann nur wünschen, daß ich mich schon hier und noch mehr in spätren Zeiten immer als ein würdiger Sohn der Pforte erweise. –


Brief an meinen Freund,
in dem ich ihm meinen Lieblingsdichter
zum Lesen empfehle

19. 10. 61


Lieber Freund!


Einige Äußerungen aus deinem letzten Brief über Hölderlin haben mich sehr überrascht, und ich fühle mich bewogen, für diesen meinen Lieblingsdichter gegen dich in die Schranken zu treten. Ich will dir deine harten, ja ungerechten Worte noch einmal vor Augen führen; vielleicht, daß du schon jetzt eine andre Meinung hegst: »Wie Hölderlin dein Lieblingsdichter sein kann, ist mir völlig unerklärlich. Auf mich wenigstens haben diese verschwommenen, halbwahnsinnigen Laute eines zerrissenen, gebrochnen Gemütes nur einen traurigen,[95] mitunter abstoßenden Eindruck gemacht. Unklares Gerede, mitunter Tollhäuslergedanken, heftige Ausbrüche gegen Deutschland, Vergötterung der Heidenwelt, bald Naturalismus, bald Pantheismus, bald Polytheismus, wirr durcheinander – dies alles ist seinen Gedichten aufgeprägt, allerdings in wohlgelungenen, griechischen Metren.« In wohlgelungenen, griechischen Metren! Mein Gott! Das ist dein ganzes Lob? Diese Verse (um nur von der äußeren Form zu reden) entquollen dem reinsten, weichsten Gemüt, diese Verse, in ihrer Natürlichkeit und Ursprünglichkeit die Kunst und Formgewandtheit Platens verdunkelnd, diese Verse, bald im erhabensten Odenschwung einherwogend, bald in die zartesten Klänge der Wehmut sich verlierend, diese Verse kannst du mit keinem andern Wort beloben, als mit dem schalen, alltäglichen »Wohlgelungen«? Und das ist wahrlich nicht die größte Ungerechtigkeit. Unklares Gerede und mitunter Tollhäuslergedanken! Aus diesen schnöden Worten leuchtet mir soviel ein, daß du erstens von einem abgeschmackten Vorurteil gegen Hölderlin befangen bist, und zweitens vor allem, daß dir die Werke desselben nichts als unklare Einbildungen sind, indem du weder seine Gedichte, noch seine übrigen Erzeugnisse gelesen hast. Überhaupt scheinst du in dem Glauben zu stehen, als ob er nur Gedichte geschrieben hätte. So kennst du denn also nicht den Empedokles, dieses so bedeutungsvolle dramatische Fragment, in dessen schwermütigen Tönen die Zukunft des unglücklichen Dichters, das Grab eines jahrelangen Irrsinns, hindurchklingt, aber nicht, wie du meinst, in unklarem Gerede, sondern in der reinsten, sophokleischen Sprache und in einer unendlichen Fülle von tiefsinnigen Gedanken. Auch den Hyperion kennst du nicht, der in der wohlklingenden Bewegung seiner Prosa, in der Erhabenheit und Schönheit der darin auftauchenden Gestalten auf mich einen ähnlichen Eindruck macht, wie der Wellenschlag des erregten Meeres. In der Tat, diese Prosa ist Musik, weiche schmelzende Klänge, von schmerzlichen Dissonanzen unterbrochen, endlich verhauchend in düstren, unheimlichen Grabliedern. – Aber das Gesagte betraf vornehmlich nur die äußere Form; erlaube mir nun noch, einige Worte über die Gedankenfülle Hölderlins anzufügen, die du als Verwirrtheit und Unklarheit zu betrachten scheinst. Wenn dein Tadel auch wirklich einige Gedichte aus der Zeit seines Irrsinns[96] trifft, und selbst in den frühern mitunter der Tiefsinn mit der einbrechenden Nacht des Wahnsinns ringt, so sind doch die bei weitem zahlreichsten derselben reine, köstliche Perlen unsrer Dichtkunst überhaupt. Ich verweise dich nur auf Gedichte, wie »Rückkehr in die Heimat«, »der gefesselte Strom«, »Sonnenuntergang«, »der blinde Sänger«, und führe dir selbst die letzten Strophen aus der »Abendphantasie« an, in dem sich die tiefste Melancholie und Sehnsucht nach Ruhe ausspricht.


Am Abendhimmel blühet ein Frühling auf;

Unzählig blühn die Rosen, und ruhig scheint

Die goldne Welt; o dorthin nehmt mich,

Purpurne Wolken! und mögen droben


In Licht und Luft zerrinnen mir Lieb und Leid! –

Doch, wie verscheucht von törichter Bitte, flieht

Der Zauber. Dunkel wird's, und einsam

Unter dem Himmel, wie immer, bin ich.


Komm du nun, sanfter Schlummer! Zu viel begehrt

Das Herz, doch endlich, Jugend, verglühst du ja!

Du ruhelose, träumerische!

Friedlich und heiter ist dann mein Alter.


In anderen Gedichten, wie besonders in dem »Andenken« und der »Wanderung«, erhebt uns der Dichter zur höchsten Idealität, und wir fühlen mit ihm, daß diese sein heimatliches Element war. Endlich ist noch eine ganze Reihe von Gedichten bemerkenswert, in denen er den Deutschen bittre Wahrheiten sagt, die leider nur oft allzu begründet sind. Auch im Hyperion schleudert er scharfe und schneidende Worte gegen das deutsche »Barbarentum«. Dennoch ist dieser Abscheu vor der Wirklichkeit mit der größten Vaterlandsliebe vereinbar, die Hölderlin auch wirklich in hohem Grade besaß. Aber er haßte in dem Deutschen den bloßen Fachmenschen, den Philister. –

In dem nicht vollendeten Trauerspiel »Empedokles« entfaltet uns der Dichter seine eigne Natur. Empedokles' Tod ist ein Tod aus Götterstolz,[97] aus Menschenverachtung, aus Erdensattheit und Pantheismus. Das ganze Werk hat mich immer beim Lesen ganz besonders erschüttert; es lebt eine göttliche Hoheit in diesem Empedokles. Im Hyperion hingegen, ob er gleich von verklärendem Schimmer umflossen scheint, ist alles unbefriedigt und unerfüllt; die Gestalten, die der Dichter hervorzaubert, sind »Luftbilder, die in Tönen, Heimweh weckend, uns umklingen, uns entzücken, aber auch unbefriedigte Sehnsucht erwecken.« Nirgends aber auch offenbart sich die Sehnsucht nach Griechenland in reineren Klängen, als hier; nirgends auch tritt die Seelenverwandtschaft Hölderlins mit Schiller und Hegel, seinem vertrauten Freund, deutlicher hervor.

Nur zu wenig habe ich bis jetzt berühren können, aber ich muß es dir, lieber Freund, überlassen, aus den angedeuteten Zügen ein Bild des unglücklichen Dichters dir zusammenzustellen. Daß ich dir die Vorwürfe, die du ihm wegen seiner widersprechenden Religionsansichten machst, nicht widerlege, mußt du meiner allzu geringen Kenntnis der Philosophie zuschreiben, die ein näheres Betrachten jener Erscheinung im hohen Maße erfordert. Vielleicht unterziehst du dich einmal der Mühe, näher auf diesen Punkt einzugehn und durch die Beleuchtung desselben etwas Licht auf die Ursachen seiner Geisteszerrüttung zu werfen, die allerdings schwerlich hierin ihre einzigen Wurzeln haben.

Du verzeihst mir gewiß, wenn ich mich in meiner Begeisterung mitunter zu harter Worte gegen dich bedient habe; ich wünsche nur – und das betrachte als den Zweck meines Briefes – daß du durch denselben zu einer Kenntisnahme und vorurteilsfreien Würdigung jenes Dichters bewogen würdest, den die Mehrzahl seines Volkes kaum dem Namen nach kennt.


Dein Freund

FWNietzsche[98]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 92-99.
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