Zweites Kapitel.
Vom Scheingebrauch jener beiden Prinzipien

[286] Wenn auch Newton, wie es scheint, über die Bedeutung des von ihm aufgestellten Prinzips der allgemeinen Anziehung mit sich selbst uneinig war, so fingen doch seine Anhänger sehr bald an, die Anziehung der Weltkörper gegeneinander nicht mehr als eine bloß scheinbare, sondern als eine dynamische, der Materie ursprünglich zukommende, Anziehung zu betrachten, Scheinbar[286] nämlich wäre diese Anziehung, wenn sie durch die Wirkung irgend einer dritten Materie, die die Körper wechselseitig gegeneinander triebe und voneinander entfernte (des Äthers etwa), hervorgebracht würde. Wenn also Newton wirklich, wie er in einigen Stellen äußert (unerachtet er in andern ausdrücklich das Gegenteil behauptet), zweifelhaft war, was »die wirkende Ursache der Anziehung« sei, ob sie vielleicht nicht durch einen Stoß oder auf andere uns unbekannte Art bewirkt werde, so war der Gebrauch, den er von jenem Prinzip zur Errichtung eines Weltsystems machte, in der Tat ein bloßer Scheingebrauch, oder vielmehr die Anziehungskraft selbst war ihm eine wissenschaftliche Fiktion, die er gebrauchte, bloß um das Phänomen überhaupt auf Gesetze zurückzuführen, ohne es dadurch erklären zu wollen.

Newton wollte aber höchstwahrscheinlich eben dadurch einem andern möglichen Scheingebrauch jenes Prinzips entgehen, in den bald nachher ein großer Teil seiner Nachfolger verfiel. Um dem Wahn vorzubeugen, als ob er wirklich durch jene Grundkraft die allgemeine Gravitation physisch erklären wollte, nahm er lieber eine Zeitlang das ganze Phänomen der Anziehung für scheinbar an, und suchte deshalb selbst wieder eine physische Erklärung davon in der mechanischen Wirkung einer hypothetisch-angenommenen Flüssigkeit, die er Äther nannte; bald aber widersprach er selbst wieder dieser Annahme ebensosehr, als er sie vorher behauptet hatte, – ein offenbarer Beweis, daß ihm weder das Eine noch das Andere Genüge tat, und daß er eine dritte Auskunft für möglich hielt.

Soll das Prinzip der allgemeinen Anziehung irgend etwas erklären, so gilt es nichts mehr und nichts weniger als irgend eine qualitas occulta der Scholastiker – als die fuga vacui, und was dergleichen mehr ist. Steht aber jenes Prinzip selbst an der Grenze aller physikalischen Erklärung, – ist es das, was erst überhaupt eine Nachfrage nach Ursache und Wirkung möglich macht, so muß man aufhören, selbst wieder eine Ursache dafür zu suchen oder es selbst als Ursache (d.h. als etwas, das nur im Zusammenhang der Naturerscheinungen möglich ist) aufzustellen.[287]

Wenn selbst Newton von der Anziehungskraft sagte, sie sei materiae vis insita, innata usw., so lieh er in Gedanken der Materie eine von der Anziehungskraft unabhängige Existenz. Die Materie könnte demnach auch wirklich sein ohne alle anziehenden Kräfte; daß sie diese Kräfte hat – (daß etwa, wie einige Schüler Newtons sagten, eine höhere Hand ihr dieses Bestreben eingedrückt hat), – ist, in bezug auf die Existenz der Materie selbst, etwas Zufälliges.

Wenn aber anziehende und zurückstoßende Kräfte selbst Bedingungen der Möglichkeit der Materie sind, oder vielmehr, wenn Materie selbst nichts anderes ist als diese Kräfte im Konflikt gedacht, so stehen diese Prinzipien an der Spitze aller Naturwissenschaft entweder als Lohnsätze aus einer höheren Wissenschaft, oder als Axiome, die vor allem vorausgesetzt werden müssen, wenn anders physikalische Erklärung überhaupt möglich sein soll.

Weil man aber in der Reflexion Anziehungs- und Zurückstoßungskraft als von der Materie verschieden sich vorstellen kann, so denkt man (nach einer eben nicht sehr seltenen Täuschung), daß was in Gedanken getrennt werden kann auch in der Sache selbst getrennt ist. Überläßt man sich dieser Täuschung, so ist die Materie da, ohne alle einziehenden und zurückstoßenden Kräfte.

Ist dies, so können diese nicht mehr auf die Würde erster Prinzipien Anspruch machen, sie treten jetzt selbst in die Reihe von Naturursachen und Wirkungen – als Ursachen gedacht aber bieten sie dem Verstande nichts als dunkle Qualitäten der Materie dar, die, anstatt die Naturforschung zu fördern, ihr vielmehr im Wege sind.

Derselbe Schein der Reflexion, der über diese Prinzipien irreführte, verbreitet seinen Einfluß über alle Wissenschaften. Leibniz verwarf die Newtonische Anziehungskraft, weil er sie für die Fiktion einer trägen Philosophie hielt, die, anstatt physische Ursachen mit Mühe zu erforschen, lieber sogleich zu dunkeln, unbekannten Kräften (dem Ziel aller Naturkenntnis) ihre Zuflucht nimmt. Allein wenn Newton die allgemeine Anziehung aus einer der Materie selbst eingepflanzten Kraft erklärte, so tat er nichts anderes, als was Leibniz, so wie er insgemein verstanden wird,[288] in einem andern Gebiete selbst tat, wenn er die ursprünglichen und notwendigen Handlungen des menschlichen Geistes aus angebornen Kräften erklärte. So wie Newton die Materie von ihren Kräften trennte, als ob eines ohne das andere bestehen könnte, oder als ob die Materie etwas anderes wäre als ihre Kräfte, so trennten die Leibnizianer den menschlichen Geist (als ein Ding an sich) von seinen ursprünglichen Kräften und Handlungen, gleichsam als ob der Geist anders als nur durch seine Kräfte und in seinen Handlungen wirklich wäre. – Lange vor Newton hatte Kepler, dieser schöpferische Geist, in poetischen Bildern gesagt, was Newton nachher prosaischer ausdrückte. Als jener zuerst von der Sehnsucht, die Materie gegen Materie triebe, dieser von der Anziehung zwischen Körper und Körper sprach, dachte keiner von beiden daran, daß diese Ausdrücke ihnen selbst oder andern je für Erklärungen gelten sollten. Denn Materie und anziehende und zurückstoßende Kraft war ihnen eins und dasselbe – beide nur zwei gleichgeltende Ausdrücke derselben Sache, der eine für die Sinne, der andere für den Verstand gültig.

Selbst als Newton sich zwischen der Alternative erblickte, die allgemeine Anziehungskraft entweder als qualitas occulta (was er nicht wollte und nicht konnte) oder als bloß scheinbar, d.h. als Wirkung einer fremden Ursache anzusehen, entwickelte er sich doch, wie es scheint, niemals selbst den Grund, der ihn zwischen zwei widersprechenden Behauptungen ungewiß hin und her trieb. Wozu hätte er das auch nötig gehabt? Jener Grund betraf nur die Möglichkeit der Prinzipien; das System, in sich selbst gewiß, nahm keinen Anteil daran.

Unser Zeitalter, das, nicht nur selbsterfindend, auch die Möglichkeit früherer Erfindungen untersucht, hat jene durch alle Wissenschaften hindurchgehende Täuschung der Reflexion aufgedeckt. Der Naturlehre, innerhalb ihrer bestimmten Grenze, kann dies sehr gleichgültig sein. Sie geht ihren gebahnten Weg fort, auch wenn sie über die Prinzipien nicht im Reinen ist. Desto wichtiger ist jene Entdeckung für die Philosophie, vor deren Gerichtshof zuletzt alle jene Streitigkeiten entschieden werden müssen, mit denen sich andere Wissenschaften, im sichern Vertrauen auf die Anschaulichkeit ihrer Begriffe oder auf den[289] Probierstein der Erfahrung, den sie jeden Augenblick zur Hand haben, nicht bemengen mögen. – Inzwischen ist es bisher der Philosophie selbst, so sehr auch ihre Prinzipien mit allem übereinstimmen, was der richtige Sinn allgemein erkennt und voraussetzt, noch nicht gelungen, jene finstere Scholastik zu verdrängen, die das, was nur in einem absoluten Gebiete, dem der Vernunft, gilt, auf die sinnlichen Dinge überträgt, Ideen zu physischen Ursachen herabsetzt, und, indem sie, was die Sache betrifft, sich mit keinem Schritt über die Erfahrungswelt erhebt, doch mit realen Kenntnissen übersinnlicher Dinge sich brüstet99. Man hat großenteils noch nicht eingesehen, daß das Ideale der Dinge auch das einzig Reale ist, und trägt sich mit Hirngespinsten von Dingen, die außer den sinnlichen Dingen dennoch noch ihre Eigenschaften an sich tragen.100 Weil es der Reflexion möglich ist, zu trennen, was an sich selbst nie getrennt ist, weil die Phantasie das Objekt von seiner Eigenschaft, das Wirkliche von seiner Wirkung trennen und so festhalten kann, glaubt man, daß auch außer der Phantasie diese wirklichen Objekte ohne Eigenschaft, Dinge ohne Wirkung sein können, uneingedenk, daß, abgesehen von der Reflexion, jedes Objekt durch seine Eigenschaft, jedes Ding nur durch seine Wirkung für uns da ist. – Die Philosophie hat gelehrt, daß das Ich in uns – abstrahiert von seinen Handlungen – nichts ist; dessenungeachtet gibt es Philosophen, die mit dem großen Haufen immer noch glauben, die Seele sei irgend ein Ding – sie wissen selbst nicht, welcher Art – das gar wohl sein könnte, auch wenn es weder empfände, noch dächte, noch wollte, noch handelte. Dies drücken sie so aus: Die Seele ist etwas, das an sich existiert. Daß sie nun gerade denkt, will, handelt, ist zufällig und macht nicht ihr Wesen selbst aus, sondern ist ihr nur eingepflanzt; und wenn irgend einer fragt,[290] warum sie denkt, will und handelt, so sagt man ihm, daß es einmal so ist, und daß es wohl auch nicht so sein könnte.

Derselbe Geist herrscht nun in den gewöhnlichen Vorstellungen von anziehenden und zurückstoßenden Kräften in der Materie. Denn das will man, daß diese Kräfte nicht die Materie selbst, sondern nur in der Materie seien. Sobald man ihnen eine von der Materie unabhängige Existenz gegeben hat, fragt man auch weiter, was sie an sich sein mögen, nicht mehr, was sie in bezug auf uns sind, und ebendarin liegt das prôton pseudos alles Dogmatismus. Man vergißt, daß sie die ersten Bedingungen unserer Erkenntnis sind, die wir vergebens aus unserer Erkenntnis (physisch oder mechanisch) erklären wollen, daß sie, ihrer Natur nach, schon jenseits alles Erkennens liegen, daß wir, sobald man nach ihrem Grunde fragt, das Gebiet der Erfahrung, die jene Kräfte voraussetzt, verlassen müssen, und daß wir nur in der Natur unsers Erkennens überhaupt, in der ersten ursprünglichsten Möglichkeit unsers Wissens, einen Rechtsgrund finden können, sie aller Naturwissenschaft als Prinzipien, die in ihr selbst schlechthin unerweisbar sind, voranzuschicken.

Materie und Körper also sind selbst nichts, als Produkte entgegengesetzter Kräfte, oder vielmehr selbst nichts anderes, als diese Kräfte. Wie kommen wir doch zum Gebrauch des Begriffs von Kraft, der in keiner Anschauung darstellbar ist und dadurch schon verrät, daß er etwas ausdrückt, dessen Ursprung jenseits alles Bewußtseins liegt – alles Bewußtsein, Erkennen und also auch alles Erklären nach Gesetzen von Ursache und Wirkung erst möglich macht? Warum sind wir doch genötigt, mit unserm Wissen zuletzt bei Kräften stehen zu bleiben, wenn diese selbst wieder Erklärungen der Naturphänomene oder Gegenstand einer physikalischen Erklärung sein sollen?

Es gibt also einen doppelten Scheingebrauch jener Prinzipien.

Einen, da man die Materie unabhängig vorerst in Gedanken, dann aber auch wirklich voraussetzt, um ihr erst nachher Anziehungs- und Zurückstoßungskräfte (man weiß nicht wodurch) einpflanzen zu lassen. Denn da diese Kräfte nur als Bedingungen[291] der Möglichkeit der Materie Realität haben, so können sie sich, wenn die Materie abhängig von ihnen wirklich ist (wenn sie der Materie nur eingepflanzt sind), nun nicht mehr unter diesem Titel unsern physikalischen Untersuchungen entziehen; in der Reihe von Naturursachen und Wirkungen aber stellen sie nichts anderes vor als verborgene Qualitäten, die man in keiner gesunden Naturwissenschaft aufkommen läßt.

Klüger also ist es in diesem Fall, das ganze Phänomen der Anziehung für scheinbar zu erklären. Diese Annahme hat jedoch mit der vorigen gemein, daß sie Materie voraussetzen muß, um sie nachher zu erklären. Denn überhaupt ist alles Erklären unmöglich, ohne irgend etwas zum voraus anzunehmen, das, als Substrat, aller künftigen Erklärung zugrunde liegt. Also setzt auch die mechanische Physik als Datum zu ihren Erklärungen voraus den leeren Raum, die Atomen und eine feinere Materie, die jene gegeneinandertreibt und voneinander zurückstößt.

Was nun diese Voraussetzungen betrifft, so ist es hier genug, zu bemerken, daß die mechanische Physik, indem sie es unternimmt, die Körperwelt aus mechanischen Gesetzen zu erklären, wider ihren Willen Körper, und damit attraktive und repulsive Kräfte, vorauszusetzen genötigt ist. Denn daß sie die ursprünglichen Körperchen (corpuscula) für absolut-undurchdringlich und absolut-unteilbar ansieht, um so jener Kräfte entbehren zu können, ist nichts anderes als ein Ausfluchtsmittel der trägen Philosophie, die, weil sie etwas nicht aufkommen lassen will, was sie doch aufkommen lassen muß, sobald sie sich auf Untersuchungen einläßt, lieber durch einen diktatorischen Machtspruch alle Untersuchungen zum voraus abschneidet, und so die widerstrebende Vernunft nötigt, da Schranken anzuerkennen, wo sie ihrer Natur nach keine anerkennen kann.

Also kann auch der Atomistiker ohne einen Scheingebrauch jener beiden Prinzipien nicht abkommen, den er sich jedoch hütet, einzugestehen, weil, wenn er ihn eingestünde, seine ganze Arbeit vergeblich wäre. Denn er setzt (wider sein Wissen) jene Prinzipien so weit voraus, als er es nötig hat, um sie als entbehrlich darstellen zu können, und braucht sie selbst, um sie nachher ihrer Würde zu entsetzen. Sie allein geben ihm den[292] festen Punkt, an den er selbst seinen Hebel anlegen muß, um sie aus der Stelle zu rücken, und indem er sie als entbehrlich zu Erklärung des Weltsystems darstellen will, zeigt er, daß sie wenigstens in seinem Lehrsystem unentbehrlich waren.

Da jetzt noch ein neuer Versuch erwartet wird, durch welchen die mechanische Physik (ehrwürdig wenigstens durch ihr Alter) völlig außer Zweifel gesetzt und als das einzig-mögliche System des Universums behauptet werden soll, so ist es nicht zweckwidrig, zu sehen, was man wohl zum voraus von einem solchen Versuch (soweit man ihn bis jetzt beurteilen kann) sich versprechen darf.

99

jene finstere Scholastik zu verdrängen, die, unwissend in Ansehung aller Forderungen, welche Erfahrung und Erfahrungswissenschaften an die Philosophie machen, noch jetzt fortfährt, sich ihrem spekulativen Wahn zu überlassen, und, mit vermeinten realen Kenntnissen sich brüstend, auf alle Versuche, unser Wissen allein auf die Erfahrungswelt zu beschränken, stolz herabzusehen (Erste Auflage).

100

nicht eingesehen, daß die Dinge von ihren Wirkungen nicht verschieden sind, und tragt sich noch jetzt mit Hirngespinsten von Dingen, die außer den Dingen selbst vorhanden sein sollen (Erste Auflage).

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 1, Leipzig 1907, S. 286-293.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ideen zu einer Philosophie der Natur
Ideen Zu Einer Philosophie Der Natur (1); ALS Einleitung in Das Studium Dieser Wissenschaft. Erster Theil
Ideen zu einer Philosophie der Natur: Buch 1, Buch 2

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Nachkommenschaften

Nachkommenschaften

Stifters späte Erzählung ist stark autobiografisch geprägt. Anhand der Geschichte des jungen Malers Roderer, der in seiner fanatischen Arbeitswut sich vom Leben abwendet und erst durch die Liebe zu Susanna zu einem befriedigenden Dasein findet, parodiert Stifter seinen eigenen Umgang mit dem problematischen Verhältnis von Kunst und bürgerlicher Existenz. Ein heiterer, gelassener Text eines altersweisen Erzählers.

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon