§ 27. Das Problem der Individüalität.

[281] Entsprungen aus tiefster persönlicher Frömmigkeit, aus echt individuellem Bedürfnis rein innerlich religiösen Lebens, läuft so die Lehre der deutschen[281] Mystik in ein Ideal der Aufhebung, der Selbstentäußerung, der Weltvernichtung aus, demgegenüber wie in altorientalischer Anschauung alle Besonderung, alle Einzelwirklichkeit als Sünde oder als Unvollkommenheit erscheint. Damit ist der Widerspruch, der in den Tiefen des augustinischen Systems steckte (vgl. § 22, 5 ff.), zu voller und unmittelbar greifbarer Entwicklung gelangt, und es kommt klar zu Tage, daß der neuplatonische Intellektualismus, in welcher Gestalt auch immer er von Augustin bis zu Meister Eckhart auftrat, für sich allein stets geneigt sein mußte, dem Individuum die metaphysische Selbständigkeit zu bestreiten, die von der andern Seite her als ein Postulat der Willenslehre behauptet wurde. Steigerte sich sonach mit dem Intellektualismus auch die universalistische Tendenz, so mußte ebenfalls die Gegenströmung um so kräftiger hervorgerufen werden, und derselbe Gegensatz der Denkmotive, welcher zu der Dialektik des Universalienstreites geführt hatte (vgl. § 23), nahm nun in der Frage nach dem Seinsgrunde des Einzelwesens (principium individuationis) eine mehr sachlich-metaphysische Gestalt an.

1. Den dringenden Anlaß dazu boten die weitgehenden Folgerungen, zu denen Universalismus und Intellektualismus bei den Arabern geführt hatten. Diese nämlich waren bei der Auffassung der aristotelischen Lehre in der Richtung fortgeschritten, die im Altertum durch Straton eingeleitet (vgl. § 15, 1) und unter den späteren Kommentatoren hauptsächlich von Alexander von Aphrodisias eingehalten worden war, in der Richtung des Naturalismus, der aus dem System des Stagiriten auch die letzten Reste einer metaphysischen Trennung des Idealen vom Sinnlichen entfernen wollte. Auf zwei Punkte hatte sich dieses Bestreben konzentriert: auf das Verhältnis Gottes zur Welt und auf dasjenige der Vernunft zu den anderen Seelenkräften. Nach diesen beiden Seiten hin entwickelt sich auch die Eigentümlichkeit des arabischen Peripatetizismus, und zwar geschieht dies durch vielverschlungene Umbildungen des aristotelischen Begriffsschematismus von Form und Materie.

Im allgemeinen zeigt sich dabei in der andalusischen Philosophie eine metaphysische Verselbständigung der Materie. Sie wird nicht als das nur abstrakt Mögliche, sondern als dasjenige aufgefaßt, was die ihm eigentümlichen Formen als Lebenskeime in sich trägt und in seiner Bewegung zur Verwirklichung bringt. Dabei hielt nun zwar auch Averroës hinsichtlich des einzelnen Geschehens an dem aristotelischen Prinzip fest, daß jede Bewegung der Materie, durch welche sie eine niedere Form aus sich heraus verwirklicht, durch eine höhere Form hervorgerufen werden muß, und die Stufenreihe der Formen findet auch hier ihren oberen Abschluß in Gott als dem höchsten und ersten Beweger. Damit blieb, wie die Lehre Avicebrons zeigt, die Transzendenz Gottes nur noch vereinbar, wenn man die Materie selbst als durch den göttlichen Willen geschaffen ansah. Aber anderseits betonte derselbe jüdische Philosoph von denselben Voraussetzungen her, daß außer der Gottheit kein Wesen anders als mit Materie behaftet gedacht werden könne, daß somit auch die geistigen Formen zu ihrer Wirklichkeit einer Materie bedürfen, der sie inhärieren, und daß schließlich die Lebensgemeinschaft des Universums für das ganze Reich der Formen eine einheitliche Materie als Grundlage verlange. Je mehr aber dann bei Averroës die Materie als ewig in sich bewegt und einheitlich lebendig angesehen wurde, um so weniger konnte schließlich die bewegende[282] Form realiter von ihr getrennt sein, und so erschien denn des göttliche Allwesen einerseits als Form und bewegende Kraft (natrua, naturans) und anderseits als Materie, als bewegte Welt (natura naturata).

Zu dieser Lehre von der Einheitlichkeit, innerlichen Geformtheit und ewigen Selbstbewegung der Materie, die sich mit dem Averroismus als eine extrem naturalistische Deutung der Philosophie des Aristoteles verbreitete, kamen nun aber jene Konsequenzen des dialektischen Realismus hinzu, welche dazu drängten, in Gott als dem ens generalissimum die einzige Substanz zu sehen, von der die Einzeldinge nur mehr oder minder vorübergehende Formverwirklichungen seien (vgl. § 23). So lehren denn die Amalricaner, daß Gott das einheitliche Wesen (essentia) aller Dinge, daß die Schöpfung nur eine Selbstgestaltung dieses göttlichen Wesens, eine in ewiger Bewegung sich vollziehende Realisierung aller der Möglichkeiten sei, welche in dieser einheitlichen Materie enthalten sind. Denselben Pantheismus begründet David von Dinant609 mit den Begriffen Avicebrons, indem er lehrt: wie die Hyle (d.h. die körperliche Materie) die Substanz aller Körper, so ist der Geist (ratio – mens) die Substanz aller Seelen; da aber Gott als das allgemeinste aller Wesen die Substanz aller Dinge überhaupt ist, so sind in letzter Instanz Gott, Materie und Geist identisch und die Welt nur ihre Selbstverwirklichung in einzelnen Formen.

3. Insbesondere aber wurde die metaphysische Selbständigkeit der geistigen Individualität noch durch eine andere Gedankenreihe in Frage gestellt. Aristoteles hatte den nous als die überall identische Vernunfttätigkeit in die animale Seele »von außen« hinzutreten lassen, und er war über die Schwierigkeiten dieser Lehre deshalb hinweggegangen, weil das Problem der Persönlichkeit, das erst mit dem stoischen Begriffe des hêgemonikon auftauchte, noch nicht im Umkreise seines Denkens lag. Die Kommentatoren aber, die griechischen und die arabischen, welche sein System aushauten, sind vor den Folgerungen nicht zurückgeschreckt, die sich daraus für die metaphysische Wertung der geistigen Individualität ergaben.

Bei Alexander von Aphrodisias begegnet uns unter dem Namen des »passiven Intellekts« (vgl. § 13, 10) noch die Fähigkeit der individuellen Psyche, ihren animalen und empirischen Dispositionen nach die Einwirkung der tätigen Vernunft in sich aufzunehmen, und der intellectus agens wird hier (der naturalistischen Auffassung des ganzen Systems gemäß) mit dem göttlichen Geiste identifiziert, der nur so noch als »getrennte Form« gedacht wird (intellectus separatus). Scholl bei Simplicius aber wird nach neuplatonischer Metaphysik dieser intellectus agens, der sich in der Vernunfterkenntnis des Menschen realisiert, zu der niedersten der Intelligenzen, welche die sublunarische Welt beherrschen.610 Eine originelle Ausbildung aber findet diese Lehre bei Averroës.611 Nach ihm ist der intellectus passivus in der Erkenntnisfähigkeit des Individuums zu suchen, welche, wie dieses selbst, entsteht und[283] vergeht als Form des einzelnen Leibes; sie hat daher nur individuelle und das einzelne betreffende Geltung: der intellectus agens dagegen ist als eine außerhalb und unabhängig von den empirischen Individuen bestehende Form die ewige Gattungsvernunft des menschlichen Geschlechtes, welche nicht entsteht und nicht vergeht, und welche in einer für alle gültigen Weise die allgemeinen Wahrheiten enthält. Sie ist die Substanz des wahrhaft geistigen Lebens, von der die Erkenntnistätigkeit des Individuums nur eine Sondererscheinung bildet. Diese (aktuelle) Erkenntnistätigkeit ist (als intellectus acquisitus) zwar ihrem Inhalt, ihrem Wesen nach ewig, sofern sie eben die tätige Vernunft selbst ist; sie ist dagegen als empirische Funktion individuellen Erkennens vergänglich wie die Einzelseele selbst. Die vollständigste Inkarnation der tätigen Vernunft ist nach Averroës in Aristoteles gegeben.612 Das vernünftige Erkennen des Menschen ist also eine unpersönliche oder überpersönliche Funktion: es ist das zeitliche Teilhaben des Individuums an der ewigen Gattungsvernunft. Diese ist das einheitliche Wesen, das sich in den wertvollsten Tätigkeiten der Persönlichkeit realisiert.

Dieser Pampsychismus tritt andeutungsweise im Gefolge neuplatonischer Mystik gelegentlich schon früher in der abendländischen Literatur auf: als ausgesprochene und verbreitete Lehre erscheint er neben dem Averroismus um 1200; er wird überall mit zuerst genannt, wo die Irrlehren des arabischen Peripatetizismus verdammt werden613, und es ist ein Hauptbestreben der Dominikaner, Aristoteles selbst gegen die Verwechslung mit dieser Lehre zu schützen: Albert und Thomas schrieben beide De unitate intellectus contra Averroistas.

3. Dem Pampsychismus tritt bei den christlichen Denkern als entscheidendes Motiv das durch Augustin genährte Gefühl von dem metaphysischen Eigenwerte der Persönlichkeit entgegen. Das ist der Standpunkt, aus dem Männer wie Wilhelm von Auvergne und Heinrich von Gent den Averroës bestreiten. Und das ist der eigentliche Grund, weshalb die Hauptsysteme der Scholastik – im diametralen Gegensatze zu Eckharts Mystik – den Realismus, der in den intellektualistischen Grundlagen ihrer Metaphysik steckte, nicht zur vollen Entfaltung haben kommen lassen. In schwieriger Lage war hier der Thomismus: er behauptete zwar nach der Formel Avicennas (vgl. § 23, 6), daß die Universalien nur »individuiert«, d.h. in den einzelnen empirischen Exemplaren als deren allgemeine Wesenheit (quidditas) existierten; dabei aber schrieb er den Gattungen doch die metaphysische Priorität im göttlichen Geiste zu. Er mußte daher erklären, wie es komme, daß sich dies Einheitliche (als allgemeine Materie) in so mannigfachen Formen darstelle, d.h. er fragte nach dem principium individuationis, und er fand es darin, daß die Materie in Raum und Zeit quantitativ bestimmt sei (materia signata). In der Fähigkeit der Materie, quantitative Differenzen anzunehmen, besteht die Möglichkeit der Individuation, d.h. die Möglichkeit, daß dieselbe Form (z.B. die Menschheit) in verschiedenen Exemplaren als Einzelsubstanz[284] wirklich ist. Daher sind nach Thomas die reinen Formen (separatae sive subsistentes) nur durch sich selbst individuiert, d.h. es entspricht ihnen nur Ein Exemplar. Jeder Engel ist Gattung und Individuum zugleich. Die inhärenten Formen dagegen, zu denen ja auch trotz ihrer Subsistenz die menschliche Seele gehört (vgl. § 25, 4), sind je nach den quantitativen Differenzen von Raum und Zeit, die ihre Materie darbietet, in vielen Exemplaren wirklich.

Demgegenüber gilt nun den Franziskanern zunächst in ihrer an Augustin großgezogenen religiös-metaphysischen Psychologie die Einzelseele, sodann aber mit konsequenter Erweiterung in der allgemeinen Metaphysik das Einzelwesen überhaupt als in sich selbständige Realität. Sie verwerfenden Unterschied separierter und inhärenter Formen. Schon Bonaventura (und ebenso übrigens auch Heinrich von Gent), energischer aber noch Duns Scotus behaupten nach Avicebron, daß auch die geistigen Formen ihre eigene Materie haben, und der letztere lehrt, daß die »Seele« nicht erst (wie nach Thomas) durch ihr Verhältnis zu einem bestimmten Leibe, sondern schon in sich selbst individualisiert und substantialisiert sei. Der Scotismus zeigt in dieser Hinsicht eine in dem Geiste seines Urhebers offenbar noch nicht ausgetragene Zwiespältigkeit. Er betont einerseits auf das stärkste die Realität des universale, indem er die Einheit der Materie (materia primo-prima) ganz im arabischen Sinne aufrechterhält, und er lehrt anderseits, daß dies Allgemeine nur wirklich sei, indem es, durch die Reihe der vom Allgemeinen zum Besonderen absteigenden Formen hindurch, schließlich vermöge der bestimmten Einzelform (in der Schule haecceitas genannt) realisiert sei. Die Einzelform gilt bei Duns Scotus als ein ursprünglich Tatsächliches, nach dessen Grunde nicht weiter gefragt werden darf. Er bezeichnet die Individualität (sowohl im Sinne der einzelnen Substanz, als auch des einzelnen Geschehens) als das Zufällige (contingens), d.h. als dasjenige, was nicht aus einem allgemeinen Grunde abzuleiten, sondern nur als tatsächlich zu konstatieren ist. Für ihn hat daher, wie schon für seinen Vorgänger Roger Bacon, die Frage nach dem Prinzip der Individuation keinen Sinn: das Individuum ist die »letzte« Form aller Wirklichkeit, durch welche allein die allgemeine Materie existiert, und es fragt sich vielmehr umgekehrt, wie bei dieser alleinigen Realität der formbestimmten Einzelwesen von einer Realität der allgemeinen »Naturen« geredet werden kann. Diese dem Duns Scotus eigentümliche Art der Lösung des Universalienproblems pflegt als Formalismus bezeichnet zu werden.

Aus dieser merkwürdigen Verschränkung der scotistischen Lehre erklärt es sich, daß, während einige ihrer Anhänger, wie Franz von Mayron, von ihr aus zum extremen Realismus fortschritten, sie bei Occam in die Erneuerung der nominalistischen These umschlug, daß das Wirkliche nur das Einzelwesen und daß das Allgemeine nur ein Produkt des vergleichenden Denkens sei.

4. Die siegreiche Entfaltung, welche der Nominalismus in dem zweiten Zeitraum der mittelalterlichen Philosophie gefunden hat, beruht auf einer höchst eigentümlichen Kombination sehr verschiedenartiger Denkmotive. In der Tiefe waltet das augustinische Gefühlsmoment, welches der individuellen Persönlichkeit ihre metaphysische Würde gewahrt sehen will; in der philosophischen Hauptströmung macht sich die antiplatonische Tendenz der jetzt erst bekannt werdenden aristotelischen Erkenntnistheorie geltend, die nur dem[285] empirischen Einzelwesen den Wert der »ersten Substanz« zuerkennen will; und an der Oberfläche spielt ein logisch-grammatischer Schematismus, der aus der ersten Wirkung der byzantinischen Tradition des Altertums herstammt.614 Alle diese Einflüsse konzentrieren sich in der leidenschaftlich bewegten, eindrucksvollen Persönlichkeit Wilhelms von Occam.615

Die Lehrbücher der »modernen« Logik, als deren Typus dasjenige von Petrus Hispanus gelten kann, legten in einer Weise, welche in der Semeiotik des späteren Altertums (vgl. oben § 17, 4) vorgebildet war, bei der Darstellung der Begriffslehre und ihrer Anwendung auf Urteil und Schluß ein Hauptgewicht auf die Theorie der Supposition, wonach ein Gattungsbegriff (terminus) für die Summe seiner Arten, ein Artbegriff für diejenige aller seiner Exemplare (homo=omnes homines) sprachlich und, wie man meinte, auch logisch eintreten kann, so daß er in den Operationen des Denkens als Zeichen für dasjenige, was er bedeutet, angewendet wird. In den Formen dieses Terminismus616 entwickelt Occam den Nominalismus (vgl. § 25, 6). Die Einzeldinge, denen er nach Duns Scotus die Realität ursprünglicher Formen zuerkennt, werden von uns intuitiv (ohne Vermittlung von species intelligibiles) vorgestellt; allein diese Vorstellungen sind nur die »natürlichen« Zeichen für jene Dinge und haben zu ihnen nur eine notwendige Beziehung, dagegen eine sachliche Aehnlichkeit mit ihnen so wenig, wie dies sonst für ein Zeichen in Einsicht des bezeichneten Gegenstandes nötig ist. Dies Verhältnis ist dasjenige der »ersten Intention«. Wie nun aber die Individualvorstellungen für die Individualdinge, so können im Denken, Sprechen und Schreiben auch die »unbestimmten« Allgemeinvorstellungen der abstraktiven Erkenntnis, bzw. die wieder sie ausdrückenden gesprochenen oder geschriebenen Wörter für die Individualvorstellung »supponieren«. Diese »zweite Intention«, worin die Allgemeinvorstellung mit Hilfe des Worts sich nicht mehr direkt auf die Sache, sondern zunächst auf deren Vorstellung bezieht, ist nicht mehr natürlich, sondern beliebig (ad placitum instituta).617 Auf diese Unterscheidung stützt Occam auch diejenige realer und rationaler Wissenschaft: die erste bezieht sich unmittelbar (intuitiv) auf die Sachen, die andere bezieht sich (abstraktiv) auf die immanenten Verhältnisse der Vorstellungen untereinander.

Klar ist danach, daß auch die rationale Wissenschaft die »reale« voraussetzt und an das von dieser gelieferte empirische Vorstellungsmaterial gebunden ist, klar aber auch, daß selbst das »reale« Wissen nur eine innere Welt der Vorstellungen erfaßt, die zwar als »Zeichen« der Dinge gelten dürfen, aber von diesen selbst verschieden sind. Der Geist, so bitte gelegentlich auch Albert gesagt, und Nikolaus Cusanus führte es später aus, erkennt nur, was er in sich hat: seine Welterkenntnis, folgert der terministische Nominalismus, ist[286] auf die inneren Zustände angewiesen, in die ihn der Lebenszusammenhang mit dem Wirklichen versetzt. Dem wahren Wesen der Dinge gegenüber, lehrt Nicolaus Cusanus, der sich durchaus zu diesem idealistischen Nominalismus bekannte, besitzt das menschliche Denken nur Konjekturen, d.h. nur die seinem eigenen Wesen entspringenden Vorstellungsweisen, und die Erkenntnis dieser Relativität aller positiven Aussagen, das Wissen des Nichtwissens, als erste Stufe der docta ignorantia, ist der einzige Weg, um auch über die rationale Wissenschaft hinaus zu der unaussagbaren, zeichenlosen, unmittelbaren Erkenntnisgemeinschaft mit dem wahren Sein, der Gottheit, zu gelangen.

5. Trotz dieser weittragenden erkenntnistheoretischen Restriktion ist die eigentliche Lebenskraft des Nominalismus auf die Entwicklung der realen Wissenschaft gerichtet, und wenn deren Erfolge während des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts nur sehr beschränkt geblieben sind, so lag das wesentlich daran, daß die zu voller Ausbildung gelangte scholastische Methode mit ihrer buchgelehrten Diskussion der Autoritäten den Betrieb der Wissenschaft nach wie vor allmächtig beherrschte, und daß die neuen Ideen, in diese Form gezwängt, sich nicht frei entfalten konnten, – eine Erscheinung übrigens, welche sich noch bis tief in die Philosophie der Renaissance hineinzieht. Gleichwohl haben Duns Scotus und Occam den hauptsächlichsten Anstoß dazu gegeben, daß sich allmählich neben der bisher wesentlich religiös interessierten Metaphysik die Philosophie wieder als eine weltliche Wissenschaft des Tatsächlich-Wirklichen konstituierte, und daß diese sich mit immer stärker ausgeprägtem Bewußtsein auf den Boden des Empirismus stellte. Wenn Duns Scotus die ursprüngliche Individualform als das Kontingente bezeichnete, so hieß das, sie sei nicht durch logische Deduktion, sondern nur durch tatsächliche Konstatierung zu erkennen, und wenn Occam die Einzelwesen für das allein wahrhaft Reale erklärte, so wies er damit der »realen Wissenschaft« den Weg in die unmittelbare Auffassung des Wirklichen. Beide Franziskaner aber stehen damit unter der Einwirkung Roger Bacons, der mit aller Energie die Wissenschaft seiner Zeit von den Autoritäten zu den Sachen, von den Meinungen zu den Quellen, von der Dialektik zur Erfahrung, von den Büchern zur Natur gerufen hatte: er stellte unabhängig von metaphysischen Gesichtspunkten die äußere und die innere Erfahrung als die beiden Quellen des Wissens dar und leistete so auch der Psychologie Vorschub. Ihm war Albert an die Seite getreten, der unter den Dominikanern die gleiche Richtung vertrat, den Wert der autoptischen Beobachtung und des Experiments zu würdigen wußte und in seinen botanischen Studien die Selbständigkeit eigener Forschung glänzend betätigte. Aber für die Naturforschung war die Zeit noch nicht reif, so sehr auch Roger Bacon nach arabischem Muster auf quantitative Bestimmungen der Beobachtung und auf mathematische Schulung drang.618

Fruchtbar entfaltete sich der Empirismus während dieser Zeit nur in der Psychologie. Unter dem Einfluß der Araber619 nahmen die Untersuchungen[287] über das Seelenleben620 namentlich auch bei Albert eine mehr auf Feststellung und Ordnung des Tatsächlichen gerichtete Tendenz an, und schon bei Alfred dem Engländer621 finden wir eine rein physiologische Psychologie mit allen radikalen Konsequenzen. Diese Regungen eines psychologischen Empirismus wären aber durch die metaphysische Psychologie des Thomismus erstickt worden, wenn sie nicht ihren Halt an der augustinischen Stimmung gefunden hätten, welche die Selbsterfahrung der Persönlichkeit als höchstes Prinzip festhielt. In diesem Sinne trat dem Thomismus namentlich Heinrich von Gent gegenüber, der den Standpunkt der inneren Erfahrung scharf formulierte und ihn besonders in der Untersuchung über die Gemütszustände zu entscheidender Geltung brachte.

So kam es zu dem merkwürdigen Erfolge, daß sich die rein theoretische Wissenschaft im Gegensatz gegen den intellektualistischen Thomismus an der Hand der augustinischen Lehre von der Selbstgewißheit der Persönlichkeit entwickelte. Diese Selbsterkenntnis galt622 als das Gewisseste der »realen Wissenschaft«. Daher hat die letztere im ausgehenden Mittelalter sich mehr dem bewegten Menschenleben als der Natur zugewandt, und die Anfänge einer weltlichen Wissenschaft von den Zusammenbringen der menschlichen Gesellschaft finden sich nicht nur in den Theorien von Occam und Marsilius von Padua (vgl. § 25, 8), nicht nur in dem Anwachsen einer reicheren, lebensvolleren und innerlicheren Geschichtsschreibung, sondern auch in empirischer Betrachtung der sozialen Verhältnisse, wie sie ein Nicolas d'Oresme (gest. 1382) anbahnte.623

6. Die geteilte Stimmung, in welcher sich das ausgehende Mittelalter zwischen den ursprünglichen Voraussetzungen seines Denkens und diesen Anfängen eines neuen, erfahrungskräftigen Forschens befand, kommt nirgends lebendiger zum Ausdruck, als in der vieldeutigen Philosophie des Nicolaus Cusanus, der, von dem frischen Zuge der Zeit in allen Fasern ergriffen, doch nicht darauf verzichten möchte, die neuen Gedanken dem Zusammenhange der alten Weltauffassung einzuordnen.

Dieser Versuch gewinnt erhöhtes Interesse durch die begrifflichen Formen, in denen er unternommen wurde. Das Leitmotiv ist dabei, zu zeigen, daß das Individuum auch in seiner metaphysischen Besonderung mit dem allgemeinsten, dem göttlichen Wesen, identisch sei. Zu diesem Zwecke verwendet Nicolaus zum erstenmal mit systematischer Durchführung das Begriffspaar des Unendlichen und des Endlichen. Dem gesamten Altertum hatte (vgl. Oben § 20, 2) das Vollkommene als das in sich Begrenzte, und als unendlich nur die unbestimmte Möglichkeit gegolten. In der alexandrinischen Philosophie dagegen war das höchste Wesen aller endlichen Bestimmungen entkleidet, und auch im christlichen Denken war die Macht, wie der Wille und das Wissen Gottes mehr und mehr als schrankenlos gedacht worden. Hier kam vor allem das Motiv hinzu, daß der Wille schon im Individuum als ein rastloses,[288] nimmer ruhendes Streben gefühlt und daß diese Unendlichkeit der inneren Erfahrung zum metaphysischen Prinzip erhoben wurde. So hat nun auch Nicolaus die Methode der negativen Theologie auf den positiven begrifflichen Ausdruck gebracht, daß er die Unendlichkeit als das wesentliche Merkmal Gottes im Gegensatze zur Welt behandelte. Die Identität von Gott und Welt, welche die mystische Weltanschauung ebenso verlangte wie die naturalistische, wurde daher so formuliert, daß in Gott dasselbe absolute Sein unendlich enthalten sei, welches in der Welt sich in endlicher Gestaltung darstellt.

Damit war der weitere Gegensatz der Einheit und der Vielheit gegeben. Das Unendliche – so glaubte Nicolaus es schon an mathematischen Beispielen erläutern zu können – ist die lebendige und ewige Einheit dessen, was im Endlichen als ausgebreitete Vielheit erscheint. Aber diese Vielheit ist – und darauf legt der Cusaner besonderes Gewicht – auch diejenige der Gegensätze. Was im Endlichen auf Verschiedenes verteilt und nur dadurch nebeneinander möglich erscheint, das muß in der Unendlichkeit des göttlichen Wesens sich ausgleichen. Gott ist die Einheit aller Gegensätze, die coincidentia oppositorum.624 Er ist daher die absolute Wirklichkeit, in der alle Möglichkeiten eo ipso als solche realisiert sind (possest), während jedes der vielen Endlichen an sich nur möglich und erst durch ihn wirklich ist.625

Unter den Gegensätzen, die in Gott vereinigt sind, erscheinen eben deshalb die zwischen ihm selbst und der Welt, d.h. diejenigen des Unendlichen und Endlichen und der Einheit und Vielheit, als die wichtigsten. Demzufolge ist der Unendliche zugleich endlich; in jeder seiner Erscheinungen ist der einheitliche deus implicitus zugleich der in die Vielheit ergossene deus explicitus (vgl. § 23, 1). Gott ist das Größte und dabei auch das Kleinste. Demzufolge ist aber auch anderseits dies Kleinste und Endliche in seiner Weise der Unendlichkeit teilhaftig und stellt in sich selbst, wie das Ganze, eine harmonische Einheit des Vielen dar.

Danach ist zunächst auch das Universum zwar nicht in demselben Sinne wie die Gottheit, aber in seiner Weise unendlich, d.h. es ist in Raum und Zeit unbegrenzt (intermiuatum oder privativ unendlich). Ebenso aber kommt auch jedem Einzeldinge eine gewisse Unendlichkeit in dem Sinne zu, daß es in seinen Wesensbestimmungen auch diejenigen aller andern Individuen in sich trägt. Alles ist in allem: omnia ubique. Auf diese Weise enthält jedes Individuum in sich das Weltall, aber in beschränkter, ihm allein eigener und von allen andern verschiedener Form. In omnibus partibus relucet totum. Jedes Einzelding ist – so hatte schon der arabische Philosoph Alkendi gelegentlich gesprochen[289] –, wenn recht und vollständig erkannt, ein Spiegel des Universums.

Insbesondere gilt dies natürlich vom Menschen, und in der Auffassung desselben als Mikrokosmos knüpft Nicolaus sinnig an die terministische Lehre an. Die besondere Art, auf welche die übrigen Dinge im Menschen enthalten sind, ist durch die Vorstellungen charakterisiert, die in ihm die Zeichen für die Außenwelt bilden. Der Mensch spiegelt das Universum durch seine »Konjekturen«, durch die ihm eigene Vorstellungsweise (vgl. oben N. 4).

So ist mit und in dem Unendlichen auch das Endliche, mit und in dem Allgemeinen auch das Individuum gegeben. Dabei ist das Unendliche in sich notwendig, das Endliche aber (nach Duns Scotus) absolut kontingent, d.h. bloße Tatsache. Es gibt keine Proportion zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen; auch die endlose Reihe des Endlichen bleibt mit dem wahrhaft Unendlichen inkommensurabel. Die Ableitung der Welt aus Gott ist unbegreiflich, und aus der Kenntnis des Endlichen führt kein Weg in das Unendliche. Das Individuell-Wirkliche will empirisch erkannt, seine Verhältnisse und die darin waltenden Gegensätze wollen durch den Verstand aufgefaßt und unterschieden sein; aber die Anschauung der unendlichen Einheit, die, über alle diese Gegensätze erhaben, sie alle in sich schließt, ist nur durch die Abstreifung all solchen endlichen Wissens, durch die mystische Erhebung der docta ignorantia möglich. So fallen die Elemente, welche der Cusaner vereinigen wollte, in eben dieser Verknüpfung wieder auseinander. Der Versuch, die mittelalterliche Philosophie allseitig abzuschließen, führt zu ihrer inneren Zersetzung.[290]

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 281-291.
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