III. Teil.

Die mittelalterliche Philosophie.

  • [219] Literatur: ROUSSELOT, Études sur la philosophie du moyen âge. Paris 1840-42.
    B. HAURÉAU, De la philosophie scolastique. Paris 1850; DERSELBE, Histoire de la philosophie scolastique. Paris 1872-80; DERSELBE, Notices et Extraits de quelques manuscripts de la bibliothèque nationale. 6 Bde. Paris 1890-93.
    A. STÖCKL, Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Mainz 1864-66.
    W. WINDELBAND, Zur Wissenschaftsgeschichte der romanischen Völker, in GRÖBER, Grundriß der romanischen Philologie II. 3 P. 650 ff.
    M. DE. WULF, Histoire de la philosophie médiévale. Paris et Bruxelles, 2. Aufl. 1905.
    FR, PICAVET, Esquisse d'une histoire générale et comparée des philosophies médiévales. Paris 1905.
    CL. BAEUMKER, Kultur der Gegenwart, I, 5, p. 288-381.
    J. ENDRES, Geschichte der mittelalterlichen Philosophie im christlichen Abendlande. Kempten 1908.
    C. D. BOULAY, Historia universitatis Parisiensis. Paris 1665-73.
    H. DENIFLE und E. CHATELAIN, Chartularium universitatis Parisiensis. 2 Bde: Paris 1890-94.
    H. DENIFLE und FR. EHRLE, Arch. f. Litt. u. Kirch.-Gesch. d. Mittelalter. 1885 ff.
    CL. BAEUMKER, Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Texte und Untersuchungen. 1891 ff.

Als die Völkerwanderung verheerend über das römische Reich hereinbrach und diesem die politische Kraft fehlte, sich der nordischen Barbaren zu erwehren, da geriet auch die wissenschaftliche Kultur in die Gefahr, vollkommen zertreten zu werden: denn für das fein ausgearbeitete Begriffsgefüge der Philosophie brachten die Stämme, auf welche nun das Szepter überging, noch weniger Sinn und Verständnis mit, als für die lichten Gestalten der griechischen Kunst. Und dabei war die antike Zivilisation so in sich zersetzt, ihre Lebenskraft so gebrochen, daß sie unfähig schien, die rauhen Sieger in ihre Schule zu nehmen.

So wären die Errungenschaften des griechischen Geistes rettungslos dem Untergange preisgegeben gewesen, wenn nicht mitten in dem Zusammenbruch der alten Welt eine neue geistige Macht erstarkt wäre, der die Söhne des Nordens sich beugten und die mit fester Hand die Güter der Kultur über die Jahrhunderte des Umsturzes in die Zukunft hinüberzuretten wußte. Diese Macht war die christliche Kirche. Was der Staat, was Kunst und Wissenschaft nicht vermochten, das vollbrachte die Religion Unzugänglich noch für die feinen Wirkungen ästhetischer Anschauung und begrifflicher Arbeit, wurden die Germanen in ihrem tiefsten Gefühl durch die Predigt des Evangeliums ergriffen, das mit der ganzen Gewalt seiner großartigen Einfachheit auf sie wirkte.

Nur von diesem Punkte der religiösen Erregung aus konnte deshalb auch der Prozeß der Aneignung der antiken Wissenschaft durch die Völker des heutigen Europa beginnen: nur an der Hand der Kirche konnte die neue Welt[219] in die Schule der alten gehen. Die natürliche Folge aber dieses Verhältnisses war die, daß von dem geistigen Inhalte der antiken Kultur zunächst nur dasjenige lebendig blieb, was in die Lehre der christlichen Kirche aufgenommen war, und daß die lehrende Macht alles übrige und besonders das ihr Widerstrebende mit aller Rücksichtslosigkeit ausschloß. Damit wurde freilich der Verwirrung in dem jugendlichen Gemüt der Völker, das noch nicht viel und vielerlei zu fassen und zu verarbeiten vermocht hätte, weislich vorgebeugt; aber damit versanken auch ganze Welten des geistigen Lebens in die Tiefe, aus der sie erst spät unter Mühe und Kampf wieder hervorgezogen werden mußten.

Der großen Aufgabe, die intellektuelle Erziehung der europäischen Völker zu übernehmen, war aber die Kirche in erster Linie deshalb gewachsen, weil sie aus den unscheinbaren Anfängen einer religiösen Genossenschaft sich mit mächtiger Stetigkeit zu einer einheitlichen Organisation entwickelt hatte, welche in der Auflösung des politischen Lebens die einzige feste und ihrer selbstsichere Gewalt darstellte. Und da diese Organisation von dem Gedanken getragen war, daß die Kirche dazu berufen sei, der ganzen Menschheit das Heil der Erlösung zu vermitteln, so war die religiöse Erziehung der Barbaren eine der Kirche durch ihr eigenes Wesen vorgeschriebene Aufgabe. Dazu kam, daß sie auch innerlich mit derselben Sicherheit zwischen zahlreichen Abwegen hindurch zu dem Ziele einer einheitlichen, in sich geschlossenen Lehre gelangt war: denn an der Schwelle des neuen Weltalters wurde die Gesamtheit ihrer Ueberzeugungen als ein durchgebildetes wissenschaftliches System von einem Geiste ersten Hanges zusammengefaßt und in eindrucksvollster Weise dargestellt – von Augustin.

Dieser ist der wahre Lehrer des Mittelalters gewesen. In seiner Philosophie laufen nicht nur die Fäden des christlichen und des neuplatonischen Denkens, die Ideen des Origenes und des Plotin zusammen, sondern er hat auch mit schöpferischer Energie die ganzen Gedanken seiner Zeit um das Heilsbedürfnis und seine Erfüllung durch die kirchliche Gemeinschaft konzentriert: seine Lehre ist die Philosophie der christlichen Kirche. Damit war in straffer Einheitlichkeit das System gegeben, welches der wissenschaftlichen Bildung der europäischen Völker zu Grunde gelegt wurde, und in dieser Form traten die romanischen und germanischen Völker die, Erbschaft der Griechen an.

Deshalb aber hat das Mittelalter den Weg, welchen die Hellenen in ihrer inneren Beziehung zur Wissenschaft durchgemacht hatten, umgekehrt zurückgelegt. Im Altertum war die Wissenschaft aus reiner, ästhetischer Freude am Erkennen selbst entsprungen und war erst mit allmählicher Wandlung in de Dienst des praktischen Bedürfnisses, der sittlichen Aufgaben, der religiöse Sehnsucht getreten. Das Mittelalter beginnt mit der vollbewußten Unterordnung des Erkennens unter die großen Zwecke des Glaubens, es sieht in der Wissenschaft zuerst nur die Arbeit des Intellekts, sich dasjenige klar zu machen und begrifflich auszusprechen, was es in Gefühl und Ueberzeugung sicher und unanfechtbar besitzt; aber mitten in dieser Arbeit erwacht, zuerst schüchtern und unsicher, dann immer kräftiger und selbstgewisser von neuen die Freude am Erkennen selbst, sie entfaltet sich zunächst schülerhaft auf Gebieten, welche dem unantastbaren Vorstellungskreise des Glaubens ferner zu liegen scheinen, und sie bricht am Ende siegreich wieder durch, indem die Wissenschaft sich[220] gegen den Glauben, die Philosophie sich gegen die Theologie abzugrenzen und bewußt zu verselbständigen beginnt.

Die Erziehung der europäischen Völker, welche die Geschichte der Philosophie des Mittelalters darstellt, hat also zum Ausgangspunkte die Kirchenlehre und zum Zielpunkte die Entwicklung des wissenschaftlichen Geistes: die intellektuelle Kultur des Altertums wird den modernen Völkern in ihrer religiösen Endform zugeführt und bildet in ihnen erst allmählich die Reife zu eigner wissenschaftlicher Tat heran.

Unter solchen Verhältnissen ist es begreiflich, daß die Geschichte dieser Erziehung weit mehr psychologisches und kulturhistorisches Interesse erweckt, als sie neue und selbständige Früchte philosophischer Einsicht darbietet. Wohl macht sich in der Aneignung des überkommenen Stoffs die Eigenart des Schülers hie und da geltend; wohl finden deshalb die Probleme und Begriffe der alten Philosophie bei dieser Aufnahme in den Geist der neuen Völker mancherlei feine Umgestaltungen, und in der Ausschmiedung der neuen (lateinischen) Terminologie wetteifern im Mittelalter oft Scharfsinn und Tiefsinn mit Pedanterie und Geschmacklosigkeit; aber in den philosophischen Grundgedanken bleibt die mittelalterliche Philosophie, nicht nur was die Probleme sondern auch was die Lösungen anlangt, in dem Begriffssystem der griechischen und der hellenistisch-römischen Philosophie eingeschlossen. So groß der Wert ihrer Arbeiten für die intellektuelle Erziehung der europäischen Völker angeschlagen werden muß, so bleiben doch auch ihre höchsten Erzeugnisse in letzter Instanz eben glänzende Schülerleistungen, in denen sich nur dem Auge feinster Einzelforschung die leise keimenden Anfänge eines neuen Denkens entdecken, während sie doch im ganzen und großen sich als Aneignung der Gedankenwelt des ausgehenden Altertums erweisen. Die mitteltalterliche Philosophie ist ihrem ganzen Geiste nach lediglich die Fortsetzung der hellenistisch-römischen, und der Unterschied zwischen beiden ist wesentlich der, daß, was in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung im ringenden Werden war, für das Mittelalter als ein in der Hauptsache Fertiges und Abgeschlossenes gegeben ist und gilt.

Ein volles Jahrtausend hat diese Schulzeit der heutigen Gesellschaft gedauert, und wie in planvoll pädagogischer Stufenfolge schreitet darin die Erziehung zur Wissenschaft durch die successive Zufuhr des antiken Bildungsstoffes vorwärts. Aus den Gegensätzen, die in diesem zu Tage treten, erwachsen die philosophischen Probleme, und aus der Ausspinnung der aufgenommenen Begriffe gestalten sich die wissenschaftlichen Weltanschauungen des Mittelalters.

Ein ursprünglicher Zwiespalt besteht in dieser Ueberlieferung zwischen der durch Augustin vertretenen Kirchenlehre und dem Neuplatonismus. Dieser Zwiespalt ging freilich nicht an allen Stellen gleich tief, da Augustin in sehr wesentlichen Punkten selbst unter der Herrschaft des Neuplatonismus geblieben war; aber es blieb doch ein Gegensatz in Bezug auf die fundamentale Bestimmung des Verhältnisses der Philosophie zum Glauben. Der Augustinismus konzentriert sich um den Begriff der Kirche; für ihn ist die Aufgabe der Philosophie in der Hauptsache darauf gerichtet, die Kirchenlehre als ein wissenschaftliches System darzustellen, zu begründen und auszubilden: insofern als sie diese Aufgabe verfolgt, ist die mittelalterliche Philosophie die kirchliche[221] Schulwissenschaft, die Scholastik. Die neuplatonische Tendenz dagegen nimmt ihrem Wesen nach auf keine religiöse Gemeinschaft Rücksicht, sondern läuft darauf hinaus, das Individuum durch die Erkenntnis zur seligen Lebenseinheit mit der Gottheit zu führen: insofern die Wissenschaft des Mittelalters sich diesen Zweck setzt, ist sie Mystik.

Scholastik und Mystik ergänzen sich hiernach, ohne sich gegenseitig auszuschließen: so gut wie das mystische Schauen ein Lehrstück des scholastischen Systems werden kann, so gut vermag auch die mystische Verzückung das Lehrgebäude der Scholastiker als ihren theoretischen Hintergrund vorauszusetzen. Darum ist zwar durch das ganze Mittelalter hindurch die Mystik mehr in Gefahr heterodox zu werden als die Scholastik; aber es wäre falsch, wenn man hierin ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen beiden sehen wollte. Allerdings ist die Scholastik in der Hauptsache durchaus rechtgläubig; aber nicht nur hinsichtlich der Behandlung noch im Werden begriffener Dogmen sind die Ansichten der Scholastiker weit auseinander gegangen, sondern auch in der wissenschaftlichen Untersuchung der gegebenen Lehren sind viele von ihnen zu völlig heterodoxen Ansichten fortgeschritten, deren Aussprache sie in mehr oder minder schwere, äußere und innere Konflikte gebracht hat. Was aber die Mystik anlangt, so hat zwar die neuplatonische Tradition vielfach den gedanklichen Hintergrund der geheimen oder offenen Opposition gegen die kirchliche Monopolisierung des religiösen Lebens536 gebildet; aber wir begegnen anderseits begeisterten Mystikern, welche sich berufen fühlen, den rechten Glauben gegen die Ausschreitungen der scholastischen Wissenschaft in Schutz nehmen.

Es erscheint somit nicht angemessen, der mittelalterlichen Philosophie den Gesamtnamen der »Scholastik« zu geben; vielmehr dürfte sich bei genauer Abwägung ergeben, daß an der Aufrechterhaltung der wissenschaftlichen Tradition, wie an der langsamen Anpassung und Umbildung der für die Folgezeit wirksamen philosophischen Lehren ein mindestens ebenso großer Anteil der Mystik gebührt die der Scholastik, und daß anderseits eine scharfe Sonderung beider Strömungen hinsichtlich einer großen Anzahl gerade hervorragender philosophierender Persönlichkeiten des Mittelalters nicht angängig ist.

Es kommt endlich hinzu, daß auch die Zusammenstellung von Scholastik und Mystik die Charakteristik der mittelalterlichen Philosophie noch keineswegs erschöpft. Das Wesen dieser beiden Richtungen ist durch ihr Verhältnis zu den religiösen Voraussetzungen des Denkens – hier der kirchlich fixierten Lehre, dort der persönlichen Frömmigkeit – bestimmt; aber neben ihnen geht eine sozusagen weltliche Unterströmung einher, welche der sich neu gestaltenden Wissenschaft die reichen Ergebnisse griechischer und römischer Welterfahrung in steigendem Maße als reales Wissen zuführt. Dabei waltet anfangs noch das Bestreben ob, auch dies weite Kenntnismaterial und die damit übernommenen Begriffsformen wenigstens dem scholastischen Lehrgebäude organisch einzufügen; aber je mehr dieser Teil des Gedankenkreises zu selbständiger Bedeutung auswächst, um so mehr verschieben sich die ganzen Linien der wissenschaftlichen Weltbetrachtung, und während die begriffliche Gestaltung und[222] Vermittlung des religiösen Gefühls in sich vereinsamt, beginnt die philosophische Erkenntnis sich von neuem das Gebiet rein theoretischer Forschung abzustecken.

Mit dieser Mannigfaltigkeit vielfach ineinander verflochtener Fäden der Tradition spinnt sich die antike Wissenschaft in das Mittelalter fort: hieraus begreift sich die farbenreiche Lebendigkeit, womit die Philosophie dieses Jahrtausends vor der historischen Forschung erscheint. In dem bunten Wechsel freundlicher und feindlicher Berührung schieben sich die Elemente einer von Jahrhundert zu Jahrhundert an Umfang und Inhalt wachsenden Ueberlieferung zu immer neuen Bildern durcheinander; es entwickelt sich eine überraschende Feinheit der Uebergänge und Abschattierungen in der Verschmelzung dieser Elemente und damit eine reiche Lebensfülle der Gedankenarbeit, die sich in einer stattlichen Zahl interessanter Persönlichkeiten, in einem erstaunlichen Umfang der schriftstellerischen Produktion, in einer leidenschaftlichen Erregtheit der wissenschaftlichen Streitigkeiten kundgibt.

Solcher lebendigen Vielgestaltigkeit ist die literar-historische Forschung noch keineswegs überall gerecht geworden537: aber für die Geschichte der philosophischen Prinzipien, die trotz alledem in diesem Zeitraum aus den angeführten Gründen nur einen mageren Ertrag findet, liegen doch die Grundlinien dieser Entwicklung schon klar und deutlich genug zu Tage. Freilich muß man sich dabei hüten, die komplizierte Bewegtheit dieses Prozesses auf allzu einfache Formeln bringen zu wollen und die Fülle der positiven und negativen Beziehungen zu übersehen, welche zwischen den im Laufe der Jahrhunderte stoßweise in das. mittelalterliche Denken eintretenden Elementen der antiken Tradition gewechselt haben.

Im allgemeinen ist der Gang der Wissenschaft bei den europäischen Völkern des Mittelalters in folgenden Zügen verlaufen.

Die tiefsinnige Lehre des Augustin wirkte zunächst nicht in der Richtung ihrer philosophischen Bedeutung, sondern als autoritative Darstellung der Kirchenlehre. Neben dieser erhielt sich eine neuplatonische Mystik, und die wissenschaftliche Schulung war auf unbedeutende Kompendien und Bruchstücke der aristotelischen Logik angewiesen. Gleichwohl entwickelte sich aus der Verarbeitung der letzteren ein logisch-metaphysisches Problem von großer Tragweite und um dieses eine sehr lebhafte Denkbewegung, welche jedoch angesichts des Mangels an inhaltlicher Welterkenntnis in öden Formalismus auszuarten[223] drohte. Im Gegensatz dazu begann allmählich die augustinische Psychologie ihre mächtige Kraft geltend zu machen; gleichzeitig aber meldeten sich auch die ersten Wirkungen der Berührung mit der arabischen Wissenschaft, der das Abendland zunächst wenigstens eine gewisse Anregung zur Beschäftigung mit den Realien, sodann aber eine totale Ausweitung und Umgestaltung seines Gesichtskreises verdanken sollte. Der Hauptsache nach knüpfte sich dies an die auf solchem Umwege gewonnene Bekanntschaft mit dem ganzen System des Aristoteles: deren nächste Folge war, daß mit Hilfe seiner metaphysischen Grundbegriffe das Gebäude der Kirchenlehre in großartigstem Stil neu entworfen und in alle Teile hinein sorgfältig ausgeführt wurde. Indessen war dabei der Aristotelismus von den Arabern (und den Juden) nicht nur in ihrer lateinischen Uebersetzung, sondern auch mit ihren Kommentaren und ihrer stark neuplatonisch beeinflußten Auffassung übernommen worden. Auf diese Weise fanden zwar die neuplatonischen Bestandteile der bisherigen Ueberlieferung nach verschiedenen Richtungen lebhafte Verstärkung: anderseits aber wurden in heftigem Rückschlag dagegen die spezifischen Momente der augustinischen Metaphysik zu schärferer und energischerer Ausprägung getrieben. So begann sich eine innere Zwiespältigkeit des wissenschaftlichen Denkens herauszubilden, wel che in der Trennung von Theologie und Philosophie ihren Ausdruck fand. Diese Kluft erweiterte sich durch eine neue, nicht minder verwickelte Verschiebung. Hand in Hand mit dem Aristotelismus war aus dem Morgenlande auch die empirische Forschung in Medizin und Naturwissenschaft eingedrungen, sie begann sich nun auch bei den europäischen Völkern kräftiger zu regen; sie eroberte, nicht ohne Beistand der augustinischen Strömung, auch das Gebiet der Psychologie, und sie begünstigte die Entwicklung der aristotelischen Logik nach einer Richtung, die von der kirchlich-aristotelischen Metaphysik weit ab führte. Und während so die verschlungenen Fäden der Tradition nach allen Seiten hin auseinanderliefen, flochten sich in diese Auflösung schon die feinen Gespinnste neuer Anfänge hinein.

Mit so mannigfachen Beziehungen gegenseitiger Unterstützung oder Hemmung und mit so zahlreichen Frontveränderungen ziehen sich die Gedankenmassen der alten Philosophie durch das Mittelalter hin; aber die wichtigste und einschneidendste Wendung ist zweifellos die Rezeption des Aristotelismus, welche sich um das Jahr 1200 herum vollzog. Sie teilt das ganze Gebiet in zwei Abschnitte, die sich ihrem philosophischen Gehalte nach so zueinander verhalten, daß sich die Interessen und Probleme, die Gegensätze und Bewegungen des ersten Zeitraumes während des zweiten in erweiterter und zugleich vertiefter Form wiederholen. Das Verhältnis dieser beiden Abteilungen kann daher in diesem Falle nicht allgemein durch sachliche Verschiedenheiten bezeichnet werden.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 219-224.
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