Ausrufung

[114] Ausrufung. (Redekunst)

Eine Figur der Rede, welche eine Art des Geschreyes ist, wodurch man die Heftigkeit einer Leidenschaft durch die Stärke des Tones, an den Tag legt. Die Sprache hat zweyerley Mittel die Leidenschaften auszudrüken; die Worte, als bedeutende Zeichen dessen, was in uns vorgeht; und denn bloße Töne, die keine deutliche Begriffe mit sich führen, sondern bloß durch die Heftigkeit der Empfindung mechanisch ausgestoßen werden, wie die Töne O! und Ach! In heftigen Leidenschaften bestrebt sich die Seele ihre Empfindung auf alle mögliche Weise an den Tag zu legen, und fühlt währender Rede ofte, daß die willkührlichen Zeichen dazu nicht hinreichen; daher stößt sie gleichsam solche Töne aus, die überhaupt die Heftigkeit des Gefühls natürlicher Weise anzeigen.

Die Ausrufung entspringt also ganz natürlich aus allen starken Empfindungen, sie seyen angenehm oder widrig. Die Töne, welche die Natur in solchen Umständen aus uns erpreßt, sind nach der Beschaffenheit der Empfindung verschieden. Es giebt Töne des Schmerzens, der Freude, der Bewunderung, der Verschmähung. Die deutsche Sprache ist in diesem Stük eine der ärmsten; die griechische aber die reichste. Außer dem angeführten O! und Ach! haben wir selten andre Ausrufungstöne. Die Neuern haben das Hah! zum Ausdruk des Zorns hinzu gethan. Der Mangel solcher charakterisirten Töne wird bisweilen durch die Apostrophe ersezt; wenn man plötzlich ein höheres Wesen zur Hülfe oder zum Zeugen anruft. Ihr Götter! Himmel! oder wie Haller thut:


O Bern! O Vaterland! O Worte!


Die Ausrufung dienet demnach die Stärke der Leidenschaft, oder vielmehr in derselben die lebhaftesten Augenblike, die heftigsten Stiche der Empfindung anzuzeigen, indem sie uns eine sehr lebhafte Vorstellung von ihrer Gewalt giebt, die den Redenden zwingt die ordentliche Rede in eine Art des Geschreyes zu verwandeln. Man siehet aber hieraus zugleich, daß sie in den redenden Leidenschaften nur selten vorkommen könne. Sie ist einiger maaßen mit dem Blitze zu vergleichen, der währendem Rollen des Donners die Empfindung plötzlich rühret und gleich wieder verschwindet. Sie muß nur da angebracht werden, wo die Begriffe, die in der Sprache liegen, nicht mehr hinlänglich sind, die Heftigkeit der Empfindung auszudrüken, oder wo die Empfindung so plötzlich entsteht, daß man nicht Zeit haben kann, sich auf Worte zu besinnen.

Der Redner oder Dichter, der in der Sprache der Leidenschaften redet, muß sich wol in Acht nehmen, die Ausrufung nicht allzu sehr zu häufen, noch sie anderswo, als in den heftigsten Augenbliken, anzubringen; denn durch den Mißbrauch derselben fällt man in das frostige. Es ist ganz wider die Natur, daß die überwältigende Anfälle der Leidenschaft ofte kommen, oder lange anhalten. So bald man aber merkt, daß ein Scribent den Mangel der Begriffe mit Ausrufen ersetzen will, so wird man kalt. Sie würken nur alsdenn, wenn man uns so viel verständliches von der Gemüthslage gesagt hat, daß wir die Stärke der Empfindung begreiffen. Daher kömmt es, daß die Ausrufung bisweilen ihre Natur ganz verändert, und ironisch wird, so wie in dieser Stelle aus Hallers Ode, über die Ehre:


O! edler Lohn für meine Mühe,

Wenn ich mich in der Zeitung sehe,

Bey einem Schelmen, oben an.


Diese Figur thut ihre beste Würkung, wenn der Redner seinen Satz aufs äußerste gebracht hat, und denn dadurch alles von neuem bestätiget. Z. E. Illud queror, tam me ab iis esse contemptum, ut haec portenta, me Consule potissimum cogitarent. Atque in omnibus his agris aedificiisque vendendis [114] permittitur Decemviris, ut vendant quibuscunque in locis videatur. O! perturbatam rationem, o! libidinem refrenandam, o! consilia dissoluta atque perdita. Cic. II. de L. Agr.

Ganz andre Würkung thut es, wenn die Ausrufung der Vorstellung der Sache vorher geht. Sie bereitet den Zuhörer zu einem sehr lebhaften Ausdruk, und reizet seine Vorstellungskraft, genau auf das, was kommen soll, Achtung zu geben. Erfolget aber alsdenn nicht etwas ganz wichtiges, so wird die Rede frostig.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 114-115.
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