Dichter

[246] Dichter.

Mit diesem Namen möchten wir nicht gerne ohne Unterschied alle diejenigen beehren, welche in gebundener Rede geschrieben, oder Verse gemacht haben,


–– Neque enim concludere versum

Dixeris esse satis1


Denn gemeine Gedanken oder Erzählungen in Versen vortragen, macht so wenig den Dichter aus, als die gemeine Sprache reden, einen Redner macht. Man muß aller Urtheilskraft über Gegenstände des Geschmaks beraubet seyn, um sich einbilden zu können, daß gemeine und alltägliche Gedanken durch die Einkleidung in Verse eine schönere Rede machen, als wenn sie nach der gemeinen Art vorgetragen wären; da vielmehr das Gegentheil geschieht. Eine ausserordentliche Sprache, wie die Sprache des Dichters ist, der in Versen spricht, erfodert nothwendig auch ausserordentliche Gedanken, oder Empfindungen, aus denen man begreifen kann, warum die gemeine Art der Rede verlassen worden.

Man muß demnach den Charakter des Dichters nicht in der Kunst suchen, die Rede durch wolabgemessene und wolklingende Verse fortzuführen, sondern in dem Vermögen den Geist und das Gemüth durch Vorstellungen, die einen ganz ausserordentlichen Gang der Rede erfodern, zu reizen. »Die Worte und Syllaben in gewisse Gesetze zu dringen, und Verse zu schreiben, sagt Opitz, ist das allerwenigste, was in einem Poeten zu suchen ist. Er muß έυ-Φαντασιωτατος von sinnreichen Einfällen und Erfindungen seyn, muß ein grosses unverzagtes Gemüth haben, muß hohe Sachen bey sich erdenken können, soll anders seine Rede eine Art kriegen, und von der Erde empor steigen.«2 Eben diese Foderungen macht Horaz, der nur den einen Dichter nennt,


Ingenium cui sit, cui mens divinior, atque os magna sonaturum.3


Einmal die gebundene Rede, die gewöhnliche Sprache der Dichter, hat etwas so ausserordentliches und enthusiastisches, daß man sie die Sprache der Götter genennt hat: deswegen sie auch eine ausserordentliche Veranlasung haben muß, welche ohne Zweifel in dem Genie und Charakter des Dichters zu suchen ist. Es scheinet, daß einerley Lage des Gemüthes Tanz, Musik, Gesang und Poesie hervorgebracht habe. Wir werden also auf die Entdekung des poetischen Genies geleitet werden, wenn wir den wahrscheinlichen Ursprung dieser Künste vor Augen haben.4 Wir werden daraus abnehmen können, wie die poetische Sprache und die Lust in abgemessenen Versen zu sprechen, und aus der Rede einen Gesang zu machen, hat entstehen können. Will man den Ursprung jener drey verschwisterten Künste begreifen, so muß man annehmen, daß in dem Gemüth Empfindungen oder Vorstellungen vorhanden seyn, die entweder durch ihre Heftigkeit, oder durch einen sanften, aber die ganze Seele einnehmenden Zwang, oder durch ihre religiose oder politische Grösse, sich des Gemüthes so bemächtigen, daß es in eine heftige oder sanfte Schwermerey geräth, in welcher die Gedanken und Empfindungen unaufhaltbar durch die Rede heraus ströhmen. Wer auf diese Weise von Gegenständen gerührt wird, und zugleich [246] ein zartes Gefühl für abgemessene Bewegung hat, die in der Musik den Takt und den Rythmus ausmacht, der ist der Mensch, den die Natur zum Dichter gebildet hat.

Der Grund des poetischen Genies wird also in einer ungewöhnlich grossen Fühlbarkeit der Seele zu suchen seyn, die mit einer ausserordentlichen Lebhaftigkeit der Einbildungskraft begleitet ist. Die Eindrüke von Lust und Unlust sind bey dem Dichter so stark, daß er sich denselben ganz überläßt, alle seine Aufmerksamkeit auf das, was in seinem Gemüthe vorgeht, richtet, und ihrem Ausbruch einen freyen Lauf läßt; darüber vergißt er die äussern Umstände, die ihn umgeben, und Gegenstände der Einbildungskraft würken eben so stark auf ihn, als wenn sie seine Sinnen rührten. Er geräth in eine Schwermerey, die, nach Beschaffenheit der Empfindung, die sie veranlaset hat, sich entweder heftig oder sanft, sowol in dem Ton der Stimme, als in dem Strohm der Worte, äussert.

Dieses lebhafte Gefühl aber ist zugleich mit einer eben so ausserordentlichen Vorstellungskraft verbunden, welche nach dem besondern Genie des Dichters verschieden ist. Er beurtheilet alles nach der ihm eigenen Art, sieht in dem Gegenstand, der ihm interessant ist, Beziehungen und Verhältnisse, die ein gesetzter Sinn nicht würde entdekt, oder kaum würde bemerkt haben.

Die Erzählungen von dem, was die Griechen vor Troja gethan hatten, machten auf Homers Gemüth so lebhafte Eindrüke, daß seine ganze Seele davon eingenommen wurd. Mit einer ausserordentlichen Würksamkeit des Geistes bestrebte er sich, Begebenheiten und Thaten, die ihn so sehr reitzten, sich auf das Lebhafteste vorzustellen, strengte seine Einbildungskraft an, die grossen Männer, die den Streit führten, vor sich zu sehen, stellte sich selbst vor Troja, zog mit ihnen in den Streit, hörte das Gerassel der Waffen, fühlte jeden Eindruk, den die Umstände auf jede dabey intereßirte Hauptperson machten. Um jeden Eindruk desto lebhafter zu fühlen, war er itzt Achilles, dann Hektor; redete und handelte, als wenn er itzt würklich in diese Personen wäre verwandelt worden; itzt mit Heftigkeit und Wuth, dann mit Gelassenheit. Mit gleicher Leichtigkeit wurd er itzt von dem Intresse der Griechen, dann der Trojaner beseelt. Die Gefahren oder Hoffnungen, in denen er sich jedesmal befand, reizten jede Fähigkeit seiner Seele zur äussersten Anstrengung ihrer Kräfte. Wenn er aus solchen Entzükungen wieder zu sich selbst kam, so fühlte er eine unwiderstehliche Begierde, das was er gesehen und empfunden hatte, wieder zu erzählen, weil er in diesen Sachen eine Wichtigkeit sah, die der Grösse seiner Empfindungen angemessen war; er wünschte alle Stämme der Griechen vor sich zu versammeln, um ihnen alles, was er selbst gefühlt hat, mitzutheilen. Dieser Wunsch begeistert ihn aufs neue; und nun fängt er in dem feyerlichen enthusiastischen Ton eines Menschen, der seiner Nation die wichtigsten Dinge zu erzählen hat, an.

Diese Eigenschaften, das Feuer der Einbildungskraft, die Lebhaftigkeit des Gefühls, und die unwiderstehliche Begierde, das, was man selbst so lebhaft fühlt, gegen andere zu äussern, sind die wahren Anlagen zum poetischen Genie; sie können aber auch die Anlagen zu einer fatalen Verwirrung des Gemüthes seyn, wenn sie nicht einen scharfen Verstand, eine sehr gesunde Beurtheilungskraft, und überhaupt eine hinlängliche Stärke des Geistes, sich seiner selbst und der Umstände, darin man ist, bewußt zu seyn, zur Unterstützung haben. Ohne diese Eigenschaften arten jene in blosse Ausschweiffungen aus. Wie der Mahler, der durch eine natürliche Richtigkeit seines Auges und durch eine sehr lange Uebung eine völlige Fertigkeit in der richtigen Zeichnung besitzt, mitten im heftigsten Feuer der Einbildungskraft, darin er sich selbst vergißt, keinen Pinselstrich zieht, der über die Gränzen des richtigen Umrisses heraustritt, so verläßt auch den guten Dichter das richtige Urtheil niemals, obgleich die Lebhaftigkeit des Gefühls, das Nachdenken zu unterdrüken scheint. Er ist so sehr gewohnt richtig zu urtheilen, an jedem Ort und bey jeder Gelegenheit das zu sagen, was sich schiket, jeden Gegenstand in Beziehungen, die eine gesunde Vernunft bestimmt, zu sehen, daß ihn auch denn, wenn er ausser sich ist, die Vernunft nicht verläßt.

Also könnte man in wenig Worten sagen, der grosse Dichter sey ein Mensch von starker und weit ausgebreiteter Beurtheilungskraft, von feinem Geschmak, von sehr lebhafter Einbildungskraft und starken Empfindungen. Die ungleiche Mischung, und die durch vielerley Grade veränderte Verhältnisse dieser Eigenschaften, machen nebst dem Temperament die Verschiedenheit des dichterischen Genies [247] aus. Anakreon ist in seiner Art so gut ein Dichter, als Homer, aber des Thejers Seele wird nur von Gegenständen einer sanften Wollust gereitzt; sie zünden darin ein Feuer an, das eine helle Flamme giebt, die sanft wärmt, ohne zu brennen. Von dieser Wollust trunken schwermet er mit feinem Geschmak, wie eine Biene auf den bluhmichten Scenen seiner leichten Einbildungskraft herum, um überall Honig zu saugen; und indem er diese angenehme Trunkenheit fühlt, wünscht er, der ganzen Welt sein Gefühl mitzutheilen. Der Sänger des Achilles wird vornehmlich von grossen Gegenständen gerührt. Er sieht alles in Beziehung auf starke, männliche Tugend, weil er selbst einen hohen Geist hat, mit patriotischem Eyfer, mit kriegerischem Muth und mit Begierde zu jeder grossen oder merkwürdigen Unternehmung angefüllt: da er die Menschen immer von der Seite ihrer größten Stärke ansieht, so geräth er bey jedem wichtigen Unternehmen in ein starkes Feuer, sieht alles auf der ernsthaftesten, oder kühnesten, und wichtigsten Seite an, wird selbst ein Held, ein Patriot, ein Staatsmann. Mit diesen grossen Empfindungen und mit dieser starken Würksamkeit verbindet er einen durchdringenden Verstand, einen unerschöpflichen Reichthum, die eigentlichen Mittel zum Zwek zu gelangen, auszufinden, eine lebhafte und mit solchem Genie verbundene Einbildungskraft, daß er jede sinnliche Scene mit den lebhaftesten Farben, mit Lieblichkeit oder Grösse, als ein wahres Gemählde sichtbar darstellt. Also zeiget er das dichterische Genie in seiner höchsten Grösse.

Mit diesen Talenten kann ein Mensch sich selbst zum Profeten, zum Lehrmeister und Wolthäter seiner Nation, und so gar aller gesitteten Nationen machen; denn unter allen Menschen von Genie ist es keinem so leicht, sich um das menschliche Geschlecht verdient zu machen, als dem Dichter. Seine lebhafte Phantasie giebt jedem Gegenstand einen unwiderstehlichen Reiz, die Schärfe seiner Beurtheilungskraft und die Stärke seiner Empfindungen, die er auf das nachdrüklichste äußert, überzeugen den Verstand, und reißen das Herz unaufhaltbar fort.

Ihm stehen mancherley Wege offen, in das Innere der Seele zu dringen, nachdem es die Umstände mit sich bringen; die Epopee, das Drama, die Ode, das Lied und manch andre Gestalt, in die er feine Materie einkleiden kann. Was irgend zum Nutzen der Menschen entdekt oder gesagt worden; Wahrheiten, Lebensregeln, Muster der Sitten, der Tugenden, großer Thaten, dieses alles legt er würksam in den Geist und die Gemüther der Menschen. Noch nirgend sind die Menschen weder so verständig, noch so gut, noch so gesittet, als sie es seyn könnten. Also stehen dem Dichter noch überall Wege offen, sich um sie verdient zu machen.

Wer aber dieses Verdienst erlangen will, der muß auch jene große Talente, von denen vorher gesprochen worden, auf die edelste Weise anwenden. Er muß sie als Mittel brauchen, nützlich auf die Gemüther der Menschen zu würken. Der liebliche Klang der Worte, die angenehmen Bilder der Phantasie, die lebhafte Rührung der Empfindung müssen angewendet werden, die Menschen mit sanfter Gewalt zur Tugend zu lenken, ihnen jede Pflicht süß zu machen, sie von ihrem wahren Interesse zu überzeugen, die unvermeidlichen Schläge des Schiksals leichter zu machen, die Bitterkeit des Kummers zu versüßen, die Leidenschaften zu zähmen, die Begierde nach wahrem Ruhm anzufachen. Wie Orpheus, mache er wilde Menschen zahm; wie Thales, bringe er die Bürger zur Eintracht und zum willigen Gehorsam der Gesetze; wie Tyrtäus, mache er sie gegen die Feinde des Staates unüberwindlich, und gewinne Schlachten durch seine Gesänge; wie Homer, werde er der vertraute Lehrer des Staatsmanns, des Helden und jedes Privatmannes. Dieses sind die Wege zur Ehrenkrone für Dichter.

Wer sich aber begnüget, seine poetischen Talente blos anzuwenden, unsrer Phantasie lachende und tanzende Bilder vorzumahlen; Vorstellungen, die uns keine Pflicht erleichtern, mit Reiz zu bekleiden, den wollen wir zwar als einen guten Gesellschafter freundschaftlich unter uns beherbergen, und wie eine Nachtigall, deren Gesang uns belustiget, ernähren; aber unser Vertrauter soll er nie werden. Wir werden seinen Gesang mit Vergnügen hören, aber einander ins Ohr sagen, daß es kaum der Mühe werth ist, eine so außerordentliche Sprache anzunehmen, in Entzükung, und so gar in eine Art Raserey zu gerathen, blos um andre zu ergötzen; wir werden eine Vergleichung zwischen ihm und dem Solon anstellen, der vor seinen Bürgern auch als ein Schwermer, in einer Art Raserey erscheinet, und ihnen eine Elegie vorsingt, dabey aber die große Absicht hat und auch erreicht, ihnen heilsame und [248] sehr wichtige Entschlüsse beyzubringen.5 Wir wollen ihm sagen, daß auch Werke von großem und ernsthaften Inhalt von der Seite der Annehmlichkeit betrachtet, große Vorzüge haben können. Daß der lehrreiche Homer,


Qui quid sit pulchrum; quid turpe, quid utile, quid non,

Plenius ac melius Chrysippo et Crantore dicit6.


reizende Annehmlichkeiten zur Ergözung der Einbildungskraft habe.7

Wenn wir blos angenehmen Dichtern einen ehrenhaften Platz unter wolgesitteten und verständigen Menschen gerne gönnen, so erstrekt sich dieses nicht auf diejenigen, die uns mit eben so unwitzig als unsittlichen Gesängen, gleich Fröschen, die aus Sümpfen quaxen, beschwerlich fallen. Die Zahl solcher Undichter ist so groß, daß sie die Poesie überhaupt in die Gefahr setzen, als etwas verächtliches angesehen zu werden; sie sind es, die der edelsten aller edlen Künste die schweeren Vorwürfe zugezogen haben, darüber Opitz klagt, und die noch itzt diese göttliche Kunst drüken. Der Vater der deutschen Dichter sagt, daß einige »aus der Poeterey, nicht weiß ich, was für ein geringes Wesen machen, und sie wo nicht gar verwerfen, doch nicht sonderlich achten, auch wol vorgeben, man wisse einen Poeten in öffentlichen Aemtern wenig, oder gar nicht zu gebrauchen, weil er sich in dieser angenehmen Thorheit und ruhigen Wollust so vertiefe, daß er die andern Künste und Wissenschaften, von welchen man rechten Nutz und Ehre schöpfen kann, gemeiniglich hindan setze. Ja wenn sie einen gar verächtlich haben wollen, so nennen sie ihn einen Poeten: Wie denn Erasmo Koterodamo von groben Leuten geschehen – Sie wissen ferner viel von ihren Lügen, ärgerlichen Schriften und Leben zu sagen, und erinnern, es sey keiner ein guter Poet, er müsse denn zugleich ein böser Mensch seyn.8« Diese Vorwürfe scheinen einen groben Unverstand, oder tollkühne Schmähsucht zum Grund zu haben, so bald man sich erinnert, daß Homer, Sophokles, Euripides und Männer von dieser Art, Dichter gewesen sind; aber was für eine grosse Liste von alten und neuen Dichtern könnte man nicht geben, auf die diese Beschuldigung mit Recht kann gelegt werden? Man kann sowol zur Beschimpfung der schlechten, als zur Ehrenrettung der guten Dichter, nichts nachdrüklichers anführen, als die folgenden Worte eines der feinesten Kenner.9 Ich muß gestehen, sagt er, daß schweerlich eine abgeschmaktere Gattung Menschen irgend wo zu finden ist, als die, denen man in den neuern Zeiten, wegen einiger Fertigkeit woltönend zusprechen, wegen eines unüberlegten abgeschmakten Witzes, und einiger Einbildungskraft, den Namen der Dichter gegeben hat. Der Mann, der den Namen eines Dichters wahrhaftig und in dem eigentlichen Sinn verdienet, der, als ein wahrer Künstler oder Baumeister in dieser Art, so wol Menschen als Sitten schildern, der einer Handlung ihre gehörige Form und ihre Verhältnisse geben kann, ist, wo ich nicht irre, ein ganz anders Geschöpf. Denn ein solcher Dichter ist in der That ein andrer Schöpfer, ein wahrer Prometheus unter Jupiter. Gleich jenem obersten Künstler oder der allgemeinen bildenden Natur, formet er ein Ganzes, wol zusammenhangend, und in sich selbst wol abgemessen, mit richtiger Anordnung und Zusammenfügung seiner Theile. Er bezeichnet das Gebieth jeder Leidenschaft, und kennet genau jeder derselben Ton und Maaß, wodurch er sie mit Richtigkeit schildert; er zeichnet das Erhabene der Empfindungen und der Handlung, und unterscheidet das Schöne von dem Häßlichen, das Liebenswürdige von dem Verächtlichen. Der sittliche Künstler, der auf diese Weise dem Schöpfer nachahmen kann, und eine solche Kenntnis der innern Gestalt und des Baues seiner Mitgeschöpfe hat, wird, wie ich denke, schweerlich sich selbst mißkennen, oder über diejenigen Verhältnisse [249] unwissend seyn, die die Harmonie der Seele ausmachen; denn eine niederträchtige Sinnesart macht die eigentliche Dissonanz und Disproportion aus. Und ob gleich nichtswürdige Menschen auch ihren hohen Ton und natürliche Fähigkeit zu handeln haben können; so ist es doch nicht möglich, daß richtige Urtheilskraft und sittliches Gefühl sich da finden sollten, wo Harmonie und Redlichkeit mangeln.«

Es ist zu wünschen, daß diejenigen, die das Richteramt im Reich des Geschmaks auf sich genommen haben, die Dichter öfterer und ernstlicher, als sie es thun, an die Würde ihres Berufs erinneren. Gar zu ofte loben sie den feinen Witz, den fließenden und angenehmen Ausdruk, ohne darauf zu sehen, ob diese, an sich zwar angenehme und nöthige Theile der poetischen Kunst, auf eine Materie angewendet worden, die Menschen, denen es nicht blos um angenehmen Zeitvertreib, oder um unbestimmte und leicht wieder vorübergehende Aufwallungen der Empfindung zu thun ist, intressant seyn können. Es gehört wahrlich viel dazu, dem feinesten und verständigsten Theil einer Nation etwas zu sagen, das auf seine Art zu denken und zu handeln vortheilhaften Einflus habe. Der Dichter, der sich eines solchen Erfolges schmeicheln will, muß nothwendig über Menschen, Sitten, Handlungen und Geschäfte, entweder schärfer und richtiger gedacht haben, als die, für welche er schreibt; oder er muß wenigstens, wenn er sie darin nicht übertrifft, dem, was sie schon wissen und denken, in ihren Gemüthern einen höhern Grad der Lebhaftigkeit und Würksamkeit zu geben wissen, wenn sie anders auf seinen Gesang hören sollen. Dazu gehören nicht blos Talente, wenn sie auch mit jeder zum Ausdruk nöthigen Fertigkeit verbunden sind; nur eine große Kenntnis des menschlichen Herzens, eine scharfsinnige Beobachtung der Sitten, ein feines und richtiges Gefühl des Guten, und eine gesunde Beurtheilungskraft des wahren und falschen in den Maaßregeln des gemeinen und öffentlichen Lebens, mit jenen zur Kunst gehörigen Talenten und Fertigkeiten verbunden, machen einen Dichter aus, der gerechten Anspruch auf die Hochachtung seiner Nation machen kann.

1Horat. ferm. I. 4.
2Opitz von der deutschen Poeterey.
3Hor. l. c.
4S. Vers, Singen, Tanz, Musik.
5S. Plutarch im Solon.
6Hor. Epist. I. 2.
7Ha grand' obligazione l'animo mio a quel poeta, a quel dipintore, il quale col arte sua mi conduce à rimmirar, come con gli occhi propri, la famosa caduta di Troja, le prodezze d'Achille, o d'Enea, e tanti maravigliosi giri d'Ulysse ramingo sul mare. Muratori della perfetta poesia L. I. c. 14.
8Opitz von der deutschen Poeterey im III. Cap. Die Klagen, die der Jesuit Strada über den Mißbrauch der Poesie zu seiner Zeit führet, sind auch itzt nicht unzeitig. Adeo deformia et foeda carminum portenta nostra hæc ætas videt, adeo postremi quique poetarum lutulenti fluunt hauriuntque de fæce; ut sanctum poetæ olim nomen timide jam à bonis usurpetur, perinde quasi honesto ingenuoque viro poetam salutari convicio ac dehonestamento sit. Strada Prolus. Acad. L. I. prol. 3.
9S. Shaftesbury Advice to an Author, Part. I. sect. 3.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 246-250.
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