Scene

[1011] Scene. (Schauspielkunst)

Wir nehmen hier das Wort nicht in der abgeleiteten Bedeutung für einen einzelen Theil des Drama, den man sonst Auftritt nennt;1 sondern verstehen dadurch den Ort, wo die Handlung des Schauspiehls vorfällt. In diesem Sinne hat das Wort eine weitere, oder engere Bedeutung, da es entweder das Land, und den Ort, oder insbesonder den Plaz anzeiget, nämlich, ob die Handlung unter freyem Himmel auf einen öffentlichen Plaz, oder in einem Hause vorgeht. Wir wollen jenes die allgemeine, dieses, die besondere Scene nennen.

Im Trauerspiehl, das seinen Stoff meistentheils aus der Geschichte nihmt, ist die allgemeine Scene schon durch den Inhalt des Stüks bestimmt. Die Comödie aber, deren Inhalt erdichtet ist, oder die doch meistentheils erdichtete Personen wählt, trift auch eine Wahl über die allgemeine Scene. Sie ist nicht gleichgültig; denn auch hier muß nicht nur die Wahrscheinlichkeit beobachtet werden, daß die Sitten der Personen und das was geschieht, dem Ort angemessen seyen; sondern auch zur Täuschung und zur Würkung des Stüks kann die Scene das ihrige beytragen.

Verschiedene Dichter lassen die allgemeine Scene der Comödie völlig unbestimmt, und der Zuschauer hat die Wahl, in welches Land und in welche Stadt er sich in der Einbildung versezen wolle. Dies scheinet mir ein Mangel zu seyn. Wer ein Mährchen, oder eine Parabel erzählt, hat eben nicht nöthig zu sagen, wo man sich die Sache, die sich nirgend zugetragen hat, als geschehen vorstellen soll. Aber die Comödie kann uns schon durch den Ort, wo sie vorgefallen ist, zum voraus intereßiren, besonders wenn wir den Ort kennen, oder ihn zu kennen wünschten: und wenn uns die dort herrschenden Sitten schon bekannt sind; so kann die Uebereinstimmung dessen, was wir in der Vorstellung sehen, mit dem was wir bereits wissen, viel zur Wahrscheinlichkeit beytragen. Wenn die Comödie nicht blos belustigen, oder nicht blos allgemeine allen Menschen gleichnöthige Lehren geben, sondern auf die besondern Sitten der Zuhörer Einfluß haben soll; so muß die Scene nicht in fremde Länder verlegt, sondern in der Nähe genommen werden.

Aber eine genauere Ueberlegung erfodert die Wahl der besondern Scene, und die Sache verdienet hier die Anregung um so mehr, da nicht selten beträchtliche Unschiklichkeiten über diesen Punkt vorfallen. Ich sehe zwar wol, daß man wegen der großen Schwierigkeit der Sache, nicht alles so sehr genau nehmen kann: doch kann ich, so nachgebend ich auch zu seyn mir vornehme, mich nicht enthalten, etwas sehr wiedriges und unnatürliches dabey zu empfinden, wenn ich sehe, daß ein Vorzimmer, oder ein Flur des Hauses, der ein allgemeiner Durchgang für Bediente und Fremde ist, bisweilen zu geheimen Berathschlagungen gebraucht wird; oder wenn in einem Privathause so mancherley Personen, die dahin nicht gehören, durcheinander laufen, oder sich so begegnen, wie nur auf öffentlichen Pläzen gewöhnlich ist. [1011] Wenn das, was über diese Materie zu sagen ist, ausgeführt werden sollte; so müßte man sich in eine nähere Betrachtung aller Geheimnisse der dramatischen Kunst einlassen. Wir wollen von dem wesentlichen des Drama nur so viel anführen, als nöthig ist, um das was zu der Wahl der besondern Scenen gehöret, zu beurtheilen.

Ich glaube guten Grund zu haben aus der Beschaffenheit der griechischen Trauerspiehle zu schließen, daß ihre Verfasser sich zur Hauptmaxime gemacht haben, eine bekannte wichtige Handlung, so wie sie an einem bestimmten Ort hat vorfallen können, auf eine dem Zwek ihres Trauerspiehls gemäße Weise zu schildern. Nach der allgemeinen Wahl der Materie scheinet ihre erste Sorge auf die Wahl einer schiklichen Scene gerichtet gewesen zu seyn; da sie es für ein Grundgesez hielten, diese Scene durchaus unverändert beyzubehalten, konnte ihnen nicht einfallen etwas vorzustellen, oder dem Zuschauer etwas von der Handlung sehen zu lassen, das an einem andern Orte vorgefallen. Gehörte etwas, das ausserhalb dieser einzigen unveränderlichen Scene vorgefallen war, nothwendig mit zur Handlung, so wußten sie die Erzählung, oder die bloße Erwähnung desselben, wenn diese schon hinlänglich war, den auf der Scene erscheinenden Personen, auf eine schikliche Weise in den Mund zu legen. Nun gieng also ihre Hauptbemühung darauf, wie sie diese einzige unveränderliche Scene, die gleichsam der Pol war, nach welchem sie ihre Fahrt einrichteten, würdig anfüllen könnten. Daß sie Genie genug dazu gehabt haben, liegt am Tage.

Hingegen kommt es mir vor, daß die Neuern nach einer andern Grundmaxime verfahren. Nicht die besondere Scene ist der Pol, der ihren Lauf leitet; sondern die Handlung, die Charaktere, und überhaupt das, was sie vorzustellen sich schon vorgenommen haben. Nach diesem Bedürfnis muß die Scene, so oft es nöthig ist, sich verändern. Wir haben so gar Stüke, die keine Haupthandlung haben, wo der Dichter sich zur Grundmaxime gemacht hat, um den Charakter seiner Hauptperson recht zu schildern, aus seinen Thaten von mehrern Jahren, das heraus zu suchen, was zu der Schilderung dienet.2 Kurz bey den meisten Neuern hat die Betrachtung der Scenen gar keinen Einfluß auf die Wahl des besondern in der Materie, sondern diese ziehet die Scenen nach sich; da bey den Alten, die Scene jenes nach sich zog.

Es ist hier der Ort nicht zu untersuchen, welche von diesen beyden Arten zu verfahren, die beste sey. Nur im Vorbeygange bemerken wir, daß die leztere für die Gemächlichkeit des Dichters, bequämer, als jene sey, und daß sie auch weniger Erfindungskraft erfodere. Denn es ist ungleich leichter, aus der Geschicht eines Menschen das herauszusuchen, was seinen Charakter ins Licht sezet; oder wenn die Geschicht es nicht darbiethet, etwas in dieser Absicht zu erdenken, wenn man durch die Scene nicht gebunden wird; als solche Sachen gerade für diese schon bestimmte Scene, die für die ganze Handlung dieselbe bleibet, auszudenken. Dieses beyseite gesezt, merken wir hier nur so viel an, daß die Behandlung, nach der Maxime der Neuern, die beständige Veränderung der Scene nothwendig mache. Wird dieses gehörig beobachtet, so ist alsdenn der Dichter, so bald man nur die Grundmaxime seines Verfahrens gut geheißen hat, (und sie ist würklich, als eine besondere Art, gar nicht zu verwerfen) nicht mehr zu tadeln.

Nun kommt aber noch eine dritte Behandlungsart vor, welche sich eigentlich an gar kein Grundgesez mehr bindet. Weder die Scene, noch die Natur der Handlung, noch die Charaktere bestimmen die Wahl des Einzelen; sondern der Dichter nihmt von der Handlung alles mit, was ihm einfällt, wenn er nur glaubt, daß es dem Zuschauer von irgend einer Seite her gefalle. Da kommen Zeit und Ort gar nicht mehr in Betrachtung. Der Dichter hat, ohne die geringste Rüksicht, daß jedes, was geschieht, nothwendig eine gewisse Zeit erfodere, und an einem schiklichen Orte geschehen müsse, seine ganze Handlung so eingerichtet, wie es etwa bey einer bloßen Erzählung geschieht, da weder Zeit noch Ort der Handlung Einfluß auf die Erzählung haben können. [1012] Aus einem solchen Verfahren, das nun freylich für den Dichter die wenigsten Schwierigkeiten hat, entstehen denn die häufigen Unschiklichkeiten in Ansehung der Scenen. Der Dichter denkt: »Sey es, wie es wolle, izt müssen die Leuthe nach meinem Plan dieses thun, und so sprechen. Die Zeit sey dazu hinlänglich und der Ort schiklich oder nicht, daran hab ich mich nicht zu kehren.« So gänzlich hätte man doch schwachen, oder gemächlichen Dichtern zu gefallen, das Drama nicht von allen Banden losmachen sollen, weil zulezt zwischen der Dramatischen und Epischen Kunst kein Unterschied mehr bleibt.

Wie wol diese Beobachtungen aus der verschiedenen Art, wie die Alten und Neuen die Tragödie behandeln, gezogen sind, so ist es leicht alles auch auf die Comödie anzuwenden. Man wird überhaupt daraus abnehmen, daß der Dichter sich schlechterdings nach der Scene zu richten habe, es sey nun, daß er sie unveränderlich durch die ganze Handlung beybehalte, oder vielfältig abändere. Dieses schließt denn freylich manchen Einfall, den er bey Ausarbeitung seines Stükes hat, als unbrauchbar aus, so gut er sonst auch seyn möchte. Aber eben darum weil er ein Dichter ist, ein Dichter aber Genie und Erfindungskraft haben muß, fodert man von ihm, daß er anstatt des hier unschiklichen, was ihm eingefallen ist, etwas eben so Gutes, das sich zugleich für diesen Ort schiket zu erfinden wisse.

Diejenigen, die den Dichter gern von gar allen Banden befreyen, und seiner Einbildungskraft völlig freyen Lauf lassen möchten, (und diese Kezerey reißt bey uns immer mehr ein) bedenken nicht, daß dadurch zulezt alle Kunst aufgehoben wird, und daß man auf dem Weg, den sie so sehr anpreisen, wieder auf die autoschediasmatischen Werke, die der Kunst vorhergegangen sind zurüke kommt.3 Wenn der Dichter von allen Zwang frey seyn soll, so muß man ihn auch von dem Vers erledigen, der ihm unstreitig Zwang anthut.

1S. Auftritt.
2Hievon ist das kürzlich herausgekommene Stük, Göz von Berlichingen die neueste Probe. Ich habe nichts gegen den Werth solcher Stüke, die man pieçes a tiroir nennen könnte, zu erinnern. Nur muß man sie nicht für Muster der Tragödie überhaupt ausgeben, sonst geht die Kunst des Sophokles ganz verlohren; denn wäre der Verlust doch größer, als der gänzliche Mangel solcher Trauerspiehle der neuesten Art.
3S. Dichtkunst. S. 253.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774.
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