Sitten

[1088] Sitten. (Schöne Künste)

Die Bedeutung des Worts ist etwas unbestimmt. Bisweilen begreift man unter dieser Benennung gar alles, was zum Charakter, der Gemüthsart und Handlungsweise eines Menschen, oder ganzer Völker gehöret, in so fern sie sich von andern unterscheiden. In diesem Sinne scheinen Aristoteles in seiner Poetik, und Wolf in seiner allgemeinen praktischen Philosophie1 die Wörter genommen zu haben, für die wir das Wort Sitten gebrauchen. Bisweilen aber scheinet man dadurch blos dasjenige zu verstehen, was dem Menschen in seinem Thun und Lassen zufälliger Weise zur Gewohnheit worden, in so fern es von dem, was andere in ähnlichen Fällen äußern, verschieden ist, so daß Menschen, die im Grund einerley Charakter haben, denselben durch verschiedene Sitten zeigen.

Wir verstehen hier durch Sitten gar alles zusammengenommen, was dem Menschen in Absicht auf sein Thun und Lassen gewöhnlich worden. Die Sitten beziehen sich nicht auf den denkenden, sondern auf den handelnden Menschen. Richtigkeit, oder Unrichtigkeit, Gründlichkeit, Scharfsinn u. d. gl. bezeichnen den Charakter des Menschen in so fern er denkt, und dieses rechnet man nicht zu den Sitten. Hingegen alles was er thut, in so fern es gut, oder bös, schiklich, oder unschiklich, rühmlich, oder ververwerflich ist, wird sittlich genennt. Also wird man durch die Sitten zum guten, oder schlechten, zum angenehmen, oder unangenehmen Menschen.

Für den sittlichen Menschen arbeiten die schönen Künste, da die Wissenschaften für den denkenden Menschen arbeiten. Diese haben den Unterricht, jene die Bildung der Sitten zum Zwek. Darum ist eine lebhafte Schilderung der Sitten eine vorzügliche und unmittelbar nüzliche Arbeit des Künstlers. Von allen Werken der Kunst aber schiken sich die Epopöe und das Drama vorzüglich zu solchen Schilderungen; weil sie nicht blos einzele Züge des sittlichen Charakters, sondern den ganzen Charakter selbst schildern können. Von dieser Schilderung ist hier eigentlich die Rede. Wir haben aber sehr viel von dem, was hieher gehöret, bereits in dem Artikel Charakter, näher betrachtet.

Jeder Dichter, der sich an die Epopöe, oder an das Drama waget, muß vornehmlich eine große Kenntnis der Sitten haben; weil die Schilderung derselben in diesen Dichtungsarten den Hauptstoff ausmacht. Dieses muß man allemal bey dem Dichter als etwas außer der Kunst liegendes voraussezen. Aber eigentlich zur Kunst gehört es die Sitten, deren Kenntnis man besizt, zu schildern, und sie auf eine gute Art zu behandeln.

Zur Schilderung der Sitten gehören die Handlungen, die man den Personen zuschreibt, und die Reden, die man ihnen in den Mund legt. Von den Reden haben wir in einem besondern Artikel gesprochen.2 Die Schilderung der Handlungen ist eine der schweeresten Arbeiten der schönen Künste. Bey den Handlungen äußern sich so sehr viel kleine äußerliche und innere Umstände, wodurch sie genau bestimmt, und individuel werden, daß es eine höchst schweere Sach ist, sie vollkommen auszudrüken. Es gehört ausnehmende Scharfsinnigkeit dazu, davon gerade das, was die Handlung am genauesten bestimmt, zu wählen, und einen Ausdruk dazu zu finden, der auch das, was sich nicht sagen läßt, oder zu weitschweiffend seyn würde, den Leser empfinden läßt. Auch hierin ist Homer unstreitig das größte Muster, und wer seine Kräfte hierüber versuchen will, därf nur seine Beschreibungen gegen die halten, die in der Ilias und Odyssee so häufig vorkommen.

In Ansehung der Behandlung der Sitten fodert Aristoteles, daß sie gut, geziehmend, wahrscheinlich und sich selbst durchaus gleich seyn sollen. Seine [1088] Ausleger haben sehr verschiedene Meinungen über das, was der Philosoph durch gute Sitten verstehe. Eine sehr vernünftige Auslegung der Regeln, die Aristoteles über die Sitten vorschreibet, hat unser Breitinger gegeben, auf den ich den Leser verweise.3

Wir finden, daß die Regeln von Behandlung der Sitten überhaupt, sich auf folgende bringen lassen. Erstlich müssen sie wahrscheinlich seyn; weil wir gar bald die Aufmerksamkeit dem entziehen, was uns nicht wahr, oder würklich dünkt. Einen Römer aus den alten Zeiten der Republik so manierlich handeln zu lassen, als einen heutigen französischen Hofmann; oder einen König so bedächtlich und so blöde handeln zu lassen, als einen spizfündigen Menschen, der nie unter Menschen gelebt hat, würd uns gleich abschreken, weiter auf das was geschieht, Achtung zu geben. Zweytens müssen die Sitten weder im Guten noch im Bösen, weder im Einfachen, noch Verfeinerten übertrieben seyn. Sind sie abscheulich, so wird das Werk anstößig, und man findet sich gezwungen die Augen davon wegzuwenden. Sind sie übermenschlich vollkommen, so werden sie phantastisch. Dieses gilt vornehmlich von Sitten, die man zur Nachahmung, als Muster abbildet. Und in dieser Absicht können sie auch schlecht werden, wenn man das Feine darin übertreibet, weil sie alsdenn gar leicht in das Geziehrte, Weichliche, oder Spizfündige ausarten. Es gehört ungemein viel Verstand und Kenntnis der Welt dazu, in den Sitten nichts zu übertreiben.

Drittens müssen sie in Ansehung der Zeit, des Orts und der Personen, für die ein Werk vornehmlich bestimmt ist, nichts unschikliches und anstößiges haben. Auf unsrer Schaubühne würden verschiedene Sitten, die Plautus auf seiner Bühne geschildert hat, sehr unschiklich seyn. Das, woran gesezte Männer sich sehr unschädlich ergözen, kann für die Jugend sehr anstößig seyn. Die tragische Bühne erfodert andere Sitten, als die comische u.s.w.

Viertens müssen sie bey einer Person, bey Menschen von einerley Stand, von einerley Volk, mit dem allgemeinen Gepräg ihres Charakters übereinstimmend seyn. Aber in den Sitten verschiedener Menschen, Stände und Völker muß auch Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit herrschen. Man erkennet an jedem Helden des Homers die Sitten der damaligen Griechen, aber keiner gleichet dem andern, und die Ilias enthält bey der allgemeinen Aehnlichkeit der Sitten eine bewundrungswürdige Mannigfaltigkeit derselben, in den verschiedenen Personen.

1S. Philos. pract. Universal. T. II. Cap. de conjectan dis hominum moribus.
2S. Reden.
3Breit critische Dichtkunst 1 Th 13. Abschnitt.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1088-1089.
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