Sophokles

[1095] Sophokles.

Ein bekannter griechischer Trauerspiehldichter, von welchem sieben Tragödien bis auf unsre Zeiten ganz erhalten worden. Dem Alter nach fällt er zwischen den Aeschylus und den Euripides, den er noch überlebt haben soll. Die historischen Nachrichten von ihm lassen sich kurz zusammen ziehen. Er war ein gebohrner Athenienser von geringer Herkunft. Von den besondern Veranlassungen, die ihn zum Trauerspiehldichter gemacht haben, wissen wir nichts. Die [1095] Anzahl aller von ihm verfertigten Tragödien soll sich auf 125 belaufen haben, und vier und zwanzigmale soll er damit den Preis oder Sieg davon getragen haben. Von allen seinen Stüken sollen die Antigone und die Elektra, die wir beyde noch haben, seinen Mitbürgern am meisten gefallen haben. Zur Belohnung für die erstere soll er von dem Volke die Präfektur von Samos bekommen haben. Vermuthlich geschah es auch mehr Ehrenhalber, als wegen seiner Geschiklichkeit in Staatsgeschäften, daß er dem Perikles zum Amtsgenossen in der höchsten Staatsbedienung ist gesezt worden. Er soll in einem Alter von 95 Jahren vor Freude über einen unverhoften Sieg, den er mit einer Tragödie erhalten hat, gestorben seyn.

Man sagt von dem Bildhauer Polyklet, er habe eine Statue von so auserlesenen Verhältnissen, und so großer Schönheit gemacht, daß sie den andern Künstlern zum Muster gedienet und deswegen die Regel genennt worden. Fast jede der sieben Tragödien des Sophokles, die wir noch haben, verdiente den Namen der Regel dieser Dichtungsart. Wenigstens dünkt uns, wenn das Ideal einer ganz vollkommenen Tragödie zu entwerfen wäre, daß man es nicht besser entwerfen könnte, als wenn man die Stüke dieses Dichters zum Muster dazu nähme: wiewol wir damit gar nicht behaupten wollen, daß keine Tragödie gut sey, als die nach diesem Muster gemacht ist.

Dem Plan und der Anordnung nach, sind diese Stüke vollkommen. Jedes stellt uns eine Handlung vor Augen, die von Anfang bis zum Ende in unsrer Gegenwart so vorgeht, daß alles den höchsten Grad der Wahrheit, den natürlichsten und ungezwungensten Zusammenhang hat; so daß wir ohne Mühe mit der größten Klarheit den ganzen Zusammenhang der Sachen fassen, und wie jedes geschieht, einsehen. Die Handlung selbst hat, wenn wir uns als Athenienser betrachten, allemal etwas sehr merkwürdiges, und intereßirt ohne Unterbrechung vom Anfange bis zum Ende, so daß es uns sehr leid thun würde, wenn wir nur einen Augenblik gehindert würden, das, was geschieht, zu sehen oder zu hören.

Seine Personen sind eben so interessant, als die Handlungen. Jede hat ihren sehr wolbestimmten eigenen Charakter, dem alles, was sie spricht und thut, vollkommen angemessen ist. Alles, was wir von ihnen hören, und, was wir sie verrichten sehen, hat das Gepräg der Natur, wie sie sich in den Umständen, und nach dem Charakter, würklich zeiget. Sie handeln und sprechen nicht mit der ganz leidenschaftlichen Energie einer noch rohen Natur, wie die Personen des Aeschylus: sie sezen nicht in Erstaunen, und erschüttern nicht; aber durchaus fühlt man sich mit von tragischen Ernst ergriffen. Ueberall ist das Sittliche mit dem Leidenschaftlichen verbunden, und beydes hat einen Grad der Wichtigkeit, der uns durchaus gleich stark denken und empfinden läßt. Aber weder in den Gedanken, noch in den Gesinnungen, noch in den Leidenschaften, stößt uns etwas auf, das uns zerstreuet, oder auf Nebensachen, oder auf den Dichter führet; weil nichts, weder zur Unzeit geschieht, noch übertrieben, noch sonst unangemessen, unrichtig, oder unschiklich ist.

Dieser Dichter stehet in allen Absichten gerad in der Mitte zwischen der rohen Hoheit und Heftigkeit des Aeschylus und der höchst rührenden, zärtlichen Empfindsamkeit, und wortreichen, sittlichen Weißheit des Euripides. Man ist deswegen ziemlich durchgehends darin einig, ihm die erste Stelle unter den tragischen Dichtern zu geben. Doch finden wir es gar nicht anstößig, daß Quintilian es unentschieden läßt, ob er dem Euripides vorzuziehen sey.1 So viel ist gewiß, daß er das Herz nicht so tief verwundet, als sein jüngerer Nacheyferer; aber er hat auch keinen einzigen von den Fehlern des Euripides.

Einzele kleine Fleken kleben allerdings seinen Stüken noch hier und da an, die mit der größten Leichtigkeit abzuwischen wären. Wir haben in einem andern Artikel ein Beyspiehl des Spizfündigen2 aus ihm angeführt, und es scheinet so gar, daß ihm in einem der besten Stüke ein Wortspiehl entfahren sey; wenigstens kommt mir folgendes so vor. Antigone und Ißmene sehen die von dem Creon verweigerte Beerdigung des Leichnams ihres Bruders mit sehr ungleichen Augen an. Da die erstere sich der Sache mit großer Wärme der Empfindung annihmt, sagt ihr Ißmene:


Θερμην ἐπι ψυχροισι καρδιαν ἐχεις.


[1096] du zeigest bey einer so kalten Sache, viel Hize. Wenigstens scheinet es, daß hier ein schiklicheres Wort, als ψυχροισι hätte gewählt werden sollen, um zu sagen, die Sache sey von keiner großen Wichtigkeit. Allein, selbst solche kleine Fleken sind höchst selten, und werden an einem Dichter der fast bis in Kleinigkeiten vollkommen ist, kaum bemerkt.

1 Uter (Sophocles an Euripides) sit poeta melior inter plurimos quæritur. Idque ego sane, quoniam ad præsentem materiam nihil pertinet, injudicatum relinquo. Inst. L. X. c. 1, 67.
2S. Spizfündigkeit.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1095-1097.
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