Fehler

[375] Fehler. (Schöne Künste)

Fehlen heißt eigentlich etwas thun, das von dem Zwek, den man sich vorgesetzt hat, abführet; daher ist in den Werken der schönen Künste dasjenige ein Fehler, was nicht auf den Zwek des Werks hinleitet. In jedem Werke der Kunst liegen Absichten von zweyerley Art; der Stoff des Werks, was wir anderswo den Geist desselben genennt haben, zielt auf Erwekung gewisser Vorstellungen oder Empfindungen ab; in der Form aber oder dem Körper hat jedes wieder seinen eigenen Zwek1, der jenem untergeordnet ist. Man sieht dieses am deutlichsten an den Werken der Baukunst, wo die eine Absicht auf Bequämlichkeit, die andre auf Schönheit geht. Das Gebäude, oder irgend ein einzeler Theil desselben ist fehlerhaft, in so fern ein oder mehrere Theile zu dem Gebrauch, wozu sie vorhanden, nicht tüchtig genug sind; wie ein Schlafzimmer, in dem man seiner Lage halber wenig Ruhe haben könnte, oder ein Speisezimmer das dunkel wäre, oder die andern zu seiner Bestimmung dienenden Bequämlichkeiten nicht hätte; eben dieses Gebäude und diese Theile desselben wären aber, bey allen Bequämlichkeiten, die ihre Bestimmung erfodert, fehlerhaft, wenn alles ohne Verhältniß, ohne Regelmäßigkeit, ohne Festigkeit wäre. Eben so verhält es sich mit allen Werken der schönen Künste; denn Batteux hat die Sachen nicht genug überlegt, da er gelehrt hat, daß die Baukunst in Ansehung ihres Zweks eine ganz besondere Gattung ausmache. In dieser Kunst ist das, was zum Gebrauch und zur Bequämlichkeit gehört, der Geist des Werks, das gute Ansehen aber der Körper; da in jedem andern Werke, die Vorstellungen, die der Künstler erweken will, die Seele; die Schönheit aber, die Regelmäßigkeit, das fließende und angenehme Wesen der Form, den Körper ausmachen.

Die Fehler, die dem Geist eines Werks der Kunst ankleben, sind Fehler, die nicht der Künstler sondern der Mensch begeht, gemeine Fehler, die er mit allen andern Menschen gemein hat, die in ihren Handlungen und Unternehmungen ihres Zweks verfehlen. Der Baumeister, der eine Küche baute, in welcher man nicht ohne Gefahr Feuer unterhalten könnte, hätte nicht einen Kunstfehler begangen, sondern einen Fehler gegen die allgemeine gesunde Vernunft. Der Dichter, der Mitleiden erweken will, und zu dem Ende Gegenstände mahlt, die Ekel machen, fehlt nicht gegen die Regeln der Poesie, sondern er handelt gegen die Vernunft. Dergleichen Fehler also sind nicht ästhetische Fehler, sie gehen eigentlich nicht den Geschmack, sondern nur den Verstand an. Sie sind so mannigfaltig, als der Irrthum überhaupt ist.

Die eigentlichen Kunstfehler, die wir ästhetische Fehler nennen, betreffen das Aeusserliche, oder den Körper der Werke; denn nur darin fehlt der Künstler, als Künstler. Die Natur und die Mannigfaltigkeit dieser Fehler zu erkennen, darf man nur überlegen, was eigentlich das Aesthetische in den Werken der Kunst seyn soll. Es ist eine solche Anordnung, ein solcher Vortrag, eine solche Ausbildung der, dem Werke wesentlichen, Vorstellungen, die sie geschikt macht, auf die sinnliche Vorstellungskraft vortheilhaft zu würken. Ein Werk der Kunst ist ästhetisch vollkommen, wenn die Vorstellungen, die es erweken soll, auf die leichteste, lebhafteste, dauerhafteste und überhaupt das Gemüth einnehmendste Art, erwekt werden. Dieses zu erhalten ist das eigentliche Werk des Geschmaks, da jene Vorstellungen selbst ein Werk des Verstands und des Genies sind.

Um die ästhetischen Fehler zu vermeiden, muß man die Natur, jeden Trieb und jede Lenkung der untern Seelenkräfte2 kennen. Man kann Fehler begehen, die dem natürlichen Verfahren, oder der Art, wie diese Kräfte sich äussern, geradezu zuwider sind, dieses sind wesentliche Fehler; man kann aber auch solche begehen, die ihnen die Vorstellung blos schweer machen, diese sind weniger wesentlich. Diese doppelte Beschaffenheit haben die ästhetischen Fehler mit den philosophischen gemein; diese sind entweder würkliche Widersprüche, oder sie sind blosse Mängel, wodurch zwar die Begriffe und Urtheile sich unter einander nicht aufheben oder zerstöhren, [375] aber doch unbestimmt, ungewiß und verworren werden. Auch hier kann die Baukunst die nöthigen Erläuterungen geben; denn da kann man die wesentlichen und zufälligen Regeln am deutlichsten erkennen. Wenn das, was seiner Natur nach gerade, oder senkrecht, oder bleyrecht seyn soll, krumm oder hängend ist, wenn das, was seiner Natur nach ganz seyn soll, gebrochen wird3; so begeht der Baumeister wesentliche Fehler, die sehr beleidigen: wenn er aber in den Verhältnißen fehlet, wenn er zu zierlich, oder zu kahl wird, wenn in dem Ganzen nicht einerley Geschmak, oder nicht genug Harmonie ist, so begeht er weniger wesentliche Fehler. Es wäre für die Critik nicht unwichtig, die verschiedenen Arten der Fehler in jeder der beyden Hauptgattungen näher zu bestimmen und genau zu benennen. Hier kann es genug seyn, den Kunstrichtern den nöthigen Wink dazu gegeben zu haben.

1Man sehe den Art. Einförmigkeit.
2Der bestimmte Begriff dessen, was man die untern Seelenkräfte nennt, muß aus der Philosophie geholt werden. Diejenigen, welche die Wolffischen oder Baumgartenschen Schriften noch nicht kennen, werden dahin verwiesen.
3S. Baukunst. Gebälke.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 375-376.
Lizenz:
Faksimiles:
375 | 376
Kategorien: