Empfindung

[311] Empfindung. (Schöne Künste)

Dieses Wort drükt sowol einen psychologischen als einen moralischen Begriff aus; beyde kommen in [311] der Theorie der Künste vielfältig vor. In dem erstern Sinn, der allgemeiner ist, wird die Empfindung der deutlichen Erkenntnis entgegen gesetzt, und bedeutet eine Vorstellung, in so fern sie einen angenehmen oder unangenehmen Eindruk auf uns macht, oder in so fern sie auf unsre Begehrungskräfte würkt, oder in so fern sie die Begriffe des Guten oder Bösen, des Angenehmen oder Widrigen erwekt; da die Erkenntnis eine Vorstellung ist, in so fern sie auf die bloße Vorstellungskräfte würkt, oder in so fern sie uns die Beschaffenheit der Dinge mit mehr oder weniger Deutlichkeit erkennen läßt. Bey der Erkenntnis sind wir mit dem Gegenstand, als einer ganz ausser uns liegenden Sache beschäftiget; bey der Empfindung aber geben wir mehr auf uns selbst, auf den angenehmen oder unangenehmen Eindruk, den der Gegenstand auf uns macht, als auf seine Beschaffenheit, Achtung. Die Erkenntnis ist hell oder dunkel, deutlich und ausführlich, oder confus und eng eingeschränkt; die Empfindung aber ist lebhaft oder schwach, angenehm oder unangenehm.

In moralischem Sinn ist die Empfindung ein durch öftere Wiederholung zur Fertigkeit gewordenes Gefühl, in so fern es zur Quelle gewisser innerlicher oder äusserlicher Handlungen wird. So sind Empfindungen der Ehre, der Rechtschaffenheit, der Dankbarkeit, Eindrüke, die gewisse Gegenstände so oft auf uns gemacht haben, daß sie, wenn ähnliche Gegenstände wieder vorkommen, schnell in uns entstehen, und sich als herrschende Grundtriebe der Handlungen äussern. Dieses sind die Empfindungen, deren verschiedene Mischung und Stärke den sittlichen Charakter des Menschen bestimmen. In diesem Sinn sagt man von einigen Menschen, sie haben kein Gefühl oder keine Empfindungen, nämlich, keine herrschende Empfindungen von Ehre, von Rechtschaffenheit; von Menschlichkeit, von Liebe des Vaterlandes u. d. gl.

Menschen von etwas stumpfen Sinnen, die nie mit irgend einem beträchtlichen Grad der Lebhaftigkeit fühlen, bey denen angenehme sowol als unangenehme Empfindungen nur durch sehr stark würkende Eindrüke erregt werden, haben wenig Empfindung in psychologischem Sinn des Worts; die aber, auf welche die Gegenstände bald vorüber gehende Würkung thun, sie sey stark oder schwach, in denen keine Art der Empfindung herrschend worden, sind die, denen man das moralische Gefühl, das, was die Franzosen Sentimens nennen, und was wir oft durch Gesinnungen ausdrüken, abspricht.

So wie Philosophie oder Wissenschaft überhaupt, die Erkenntnis zum Endzwek hat, so zielen die schönen Künste auf Empfindung ab. Ihre unmittelbare Würkung ist Empfindung in psychologischem Sinn zu erweken; ihr letzter Endzwek aber geht auf moralische Empfindungen, wodurch der Mensch seinen sittlichen Werth bekommt.1 Sollen die schönen Künste Schwestern der Philosophie, nicht blos leichtfertige Dirnen seyn, die man zum Zeitvertreib herbey ruft, so müssen sie bey Ausstreuung der Empfindungen von Verstand und Weisheit geleitet werden. Dieses ist ein Gesetz, das auch den Wissenschaften vorgeschrieben ist. Nisi utile est, quod facimus, stulta est Sapientia, sagt ein eben so bescheidener, als verständiger Dichter.2 Die Wissenschaft, die bey Aufklärung und Entwiklung der Begriffe keine Wahl beobachtet, der jeder Begriff, er sey brauchbar oder nicht, gleich wichtig ist, strikt Netze von Spinnweben, darin nur Fliegen gefangen werden, sie wird allen Verständigen zum Gespött. Dieses ist in der allgemeinen gesunden Vernunft gegründet, daß wir über die lachen, die sich in Wissenschaften und in mechanischen Künsten mit mühsamen Kleinigkeiten abgeben. Sollte denn dieses Gesetz der Nutzbarkeit, dieser nothwendige Beystand der Weisheit, die schönen Künste nichts angehen? Welcher verständige Künstler wird sich selbst dadurch erniedrigen wollen, daß er sich und seine Kunst von den Gesetzen der Weisheit und der allgemeinen philosophischen Policey ausgeschlossen hält? Heinrich der IV. in Frankreich gab ein Gesetz, das die Kleiderpracht einschränkte; einige dem Volke zum Zeitvertreib dienende Frauenspersonen wollten sich dem Gesetz auch unterwerfen, aber der philosophische König sagte spöttisch zu ihnen; für euch ist dieses Gesetz nicht gemacht; ihr seyd nicht wichtig genug, daß ein Gesetzgeber sich um euch bekümmern sollte. In diese edle Gesellschaft verweisen wir auch die Künstler, die die Gesetze der Weisheit, denen sich die Philosophie völlig unterwirft, für sich nicht verbindlich halten.

Da es also das eigentliche Geschäft der schönen Künste ist Empfindungen zu erweken, und da sie in diesem Geschäfte von Vernunft und Weisheit müssen geleitet werden, so entstehet daher in der [312] Theorie der Künste diese wichtige Frage, wie die Empfindungen überhaupt müssen behandelt werden.

Die allgemeine Beantwortung dieser Frage ist nicht schweer. Der Mensch muß auf der einen Seite einen gewissen Grad der Empfindsamkeit für das Schöne und Häßliche, für das Gute und Böse haben; denn der unempfindliche Mensch ist in Ansehung des sittlichen Lebens so übel daran, als der dessen Sinnen stumpf sind, für das thierische Leben; auf der andern Seite ist es wichtig, daß er nach den allgemeinen und besondern Verhältnissen, darin er lebt, gewisse, mehr oder weniger herrschende, Empfindungen in seiner Seele habe, aus deren harmonischer Mischung ein seinem Stand und Beruf wol angemessener moralischer Charakter entsteht. Also müssen die schönen Künste diese beyden Bedürfnisse des Menschen zu ihrem letzten Endzweck haben; sie müssen das ihrige beytragen, ihm einen wol gemäßigten Grad der Empfindsamkeit zu geben, und eine gute Mischung herrschender Empfindungen in seiner Seele fest zu setzen; bey besondern Gelegenheiten aber müssen sie so wol die Empfindsamkeit, als die herrschenden Empfindungen in dem Grad erweken, als es nöthig ist, ihn thätig zu machen. Diejenigen also, die sich einbilden, der Künstler habe nichts zu thun, als mancherley Gegenstände der Empfindungen, in einer angenehmen Mischung durch einander, dem Geschmak so vorzulegen, daß aus dem Spiel der Empfindungen ein unterhaltender Zeitvertreib entsteht, haben zu niedrige Begriffe von der Kunst. Werke von dieser Art wollen wir nicht verwerfen; sie gehören, wie die mancherley angenehmen Scenen der leblosen Natur, die Empfindsamkeit des Herzens zu unterhalten: aber wie der schöne Schmuk der Natur nur das Kleid ist, das die, zur allgemeinen Erhaltung und Vervollkommnung aller Wesen abzielenden Kräfte einhüllet, so müssen auch die angenehmen Werke der Kunst, durch die, unter dem schönen Kleide liegenden, höhern Kräfte ihren Werth bekommen.

Eine allgemeine, wol geordnete Empfindsamkeit des Herzens ist also der allgemeineste Zwek der schönen Künste. Darum suchen sie jede Sayte der Seele, sowol die die Lust, als die welche Unlust erweken, zu rühren. Denn da der Mensch sowol antreibende, als zurükstossende Kräfte nöthig hat, so muß er für das Schöne und für das Häßliche, für das Gute und für das Böse empfindsam seyn. Dazu dienen die so unendlich verschiedenen Gegenstände und Scenen, aus der leblosen und aus der belebten, aus der blos physischen und aus der sittlichen Welt. Alle Gegenstände des Geschmaks werden im Gemähld, in der Beschreibung, in der Ode, in der Epopee oder im Drama, in jeder Gattung der Behandlung so vorgelegt, daß die Seele ihre Empfindsamkeit daran üben könne, daß sie das Schöne und Gute angenehm, das Häßliche und Böse wiedrig empfinde. Hiebey hat also der Künstler nur dafür zu sorgen, daß jedes in seiner wahren Gestalt hell vor uns stehe, damit wir es empfinden mögen. Er hat sich vor dem unbestimmten und unwürksamen zu hüten, auf die richtigste Zeichnung jedes Gegenstandes zu befleissen, und auf eine gute Form seines Werks zu denken, wodurch es im Ganzen intressant wird.

Aber die allgemeine Regel der Weisheit muß er nicht aus den Augen lassen, daß er das Maaß der Empfindsamkeit nicht überschreite. Denn wie der Mangel der genugsamen Empfindsamkeit eine große Unvollkommenheit ist, indem er den Menschen steiff und unthätig macht, so ist auch ihr Uebermaaß sehr schädlich, weil es ihn weichlich, schwach und unmännlich macht. Diese wichtige Warnung, die Sachen nicht zu weit zu treiben, scheinen einige unsrer deutschen Dichter, die sonst unter die besten gehören, besonders nöthig zu haben. Sie scheinen in dem Wahn zu stehen, daß die Gemüther nie zu viel können gereitzt werden. Den Schmerz wollen sie gern bis zum Wahnsinn und zur Verzweiflung, den Abscheu bis zum äussersten Grad des Entsetzens, jede Lust bis zum Taumel, und jedes zärtliche Gefühl bis zur Zerfliessung aller Sinnen treiben. Dieses zielt gerade darauf ab, den Menschen zu einem elenden schwachen Ding zu machen, das von Lust, Zärtlichkeit und Schmerzen so überwältiget wird, daß es keine würksame Kraft mehr behält, dem alle Standhaftigkeit und aller männliche Muth fehlt.

Man erzählt von der Porcia, des großen Catos Tochter, und Gemahlin des Marcus Brutus, daß sie den Abschied ihres Gemahls, der nun auszog das große Werk der Befreyung der Republik, das durch Cäsars Tod angefangen worden, durch die Waffen zu unterstützen, mit großer Standhaftigkeit ertragen. Einige Zeit hernach aber, als sie ein Gemählde gesehen, das den Abschied des Hektors von der Andromache[313] nur allzu beweglich vorstellte, verlohr sie den männlichen Muth, der ihr so viel Ehre gemacht hatte. Also hat der Mahler einer sonst großen Seele den Muth und die Stärke benommen. An einem eben so schädlichen Werk arbeiten alle Künstler, die die Empfindungen zu weit treiben. Der äusserste Grad des Großen in der Empfindung geht wieder ins kleine hinüber. Selbst Liebe und Freundschaft müssen, wie ein großer Künstler anmerkt, in gewissen Schranken gehalten und nicht so weit getrieben werden, daß sie bis in das innerste Mark der Seele dringen.3

Man wird wenig Beyspiele der zu weit getriebenen Empfindungen bey den Alten antreffen, die also auch in diesem Stük unsre Muster seyn können. Wenigstens wird man selbst im Trauerspiel, bis auf den Seneca herunter, eine weise Behandlung der Empfindungen antreffen. Auch in den heftigsten Leidenschaften behalten ihre Personen eine gewisse Grösse, die ihr Ziel nicht überschreitet. Wenn Anakreon sich durch Wein und Liebe zur Fröhlichkeit ermuntert, wenn er damit seinen Scherz treibet; so bleibet er in den Schranken einer wolgeordneten Empfindung: wenn aber viel seiner neuern Nachfolger keinen Scherz verstehen, wenn sie dabey in Leidenschaft gerathen, die so gar bisweilen bis zum Unsinn getrieben wird; wenn sich einige wie Trunkenbolde, andre wie entnervte Wollüstlinge zeigen, so schweiffen sie weit über die Schranken heraus: und indem wir uns an Anakreon ergötzen, erweken diese unser Mitleiden, oder ziehen sich unsre Verachtung zu. Dieses sey von den Schranken der Empfindungen gesagt.

Der wichtigste Dienst, den die schönen Künste den Menschen leisten können, besteht ohne Zweifel darin, daß sie wolgeordnete herrschende Neigungen, die den sittlichen Charakter des Menschen und seinen moralischen Werth bestimmen, einpflanzen können. Empfindungen der Rechtschaffenheit und allgemeinen Redlichkeit, der wahren Ehre, der Liebe des Vaterlandes, der Freyheit, der Menschlichkeit u. s. f. sind in der sittlichen Welt die allgemeinen Kräfte, wodurch die Ordnung, Uebereinstimmung, Ruh und Wolstand erhalten werden. Nur durch sie gelangen die Menschen zu Verdiensten, werden Beschützer der Rechte der Menschlichkeit, Stützen des Staats und Erhalter der Ordnung, der Ruh und des Wolstandes in grössern oder kleinern Gesellschaften, die gewiß verlohren sind, wenn es ihnen an Männern dieser Art fehlt. Weh dem Volke, der Gesellschaft, der Familie, wo die Empfindungen der Ehre, der Redlichkeit, des Rechts erloschen oder nur so schwach sind, daß sie nicht mehr die Triebfedern der Handlungen seyn können.

Hier öffnet sich also ein schönes Feld für alle Künstler, vorzüglich aber für Dichter, die es in ihrer Macht haben, jede wolthätige Neigung und Empfindung in den Gemüthern wolgebohrner Menschen herrschend zu machen. Nach dieser Crone laufe du, Jüngling, dem die Natur die Gabe verliehen hat, durch süße Worte jedes Ohr zu fesseln, und durch reizende Bilder jede Phantasie einzunehmen. Erweke deiner Nation Männer, deren herrschende Leidenschaft die Liebe des allgemeinen Besten, die Liebe des Rechts und der Ordnung, Haß des Unrechts und der Gewaltthätigkeit, Feindschaft gegen jeden Kränker der Rechte der Menschlichkeit ist: dann wollen wir dir Ehrensäulen aufrichten; dann soll dir unter den großen Männern des Staates eine Stelle gegeben werden.

Die schönen Künste haben zwey Wege dem Menschen Empfindungen einzuflössen. Wenn du mich willst zum Weinen bewegen, sagt Horaz, so weine du selbst; dieses ist der eine Weg. Der andre ist die lebhafte Darstellung oder Vorbildung der Gegenstände, worauf die Empfindung unmittelbar geht; wer Mitleiden erweken will, muß den Gegenstand des Mitleidens uns lebhaft fürs Gesichte bringen. Fast alle Arten der Dichtungen schiken sich so wol zum einen als zum andern Weg. Der epische Dichter und der dramatische, beyde können die Empfindung, die sie uns einflössen wollen, in andern so lebhaft, so stark und so liebenswürdig zeichnen, daß auch unser Herz dafür eingenommen wird. So schildert Bodmer die herrschende Gottesfurcht und die daher entstehende Unschuld und himmlische Seelenruh an den Noachiden auf eine Art, die jeden empfindsamen Menschen dafür einnihmt.4 Der Oden- und Liederdichter äussert die Empfindung, die er in unser Herz legen will, an sich selbst; er öffnet sein Herz, daß wir die lebhafteste Würksamkeit der [314] Empfindung darin sehen, und wir legen unser eigenes Herz an das seinige, damit es von derselben Empfindung gerührt und von demselben Feuer entflammt werde.

Eben so gewiß kann der Künstler jeder Empfindung den Weg in unser Herz bahnen, wenn er durch seine zauberische Kunst den Gegenstand derselben unsrer Phantasie lebhaft vorbildet. Kein Grieche konnte das erhabene Bild des Jupiters, von Phidias gemacht, im Tempel zu Olympia sehen, ohne von Ehrfurcht gegen diesen Gott erfüllt zu werden. Welcher Mensch von einiger Empfindsamkeit kann die Schilderung der Tyranney Magogs lesen,5 ohne daß er mit Haß und Abscheu dagegen eingenommen werde? Oder wer kann den wüthenden Philo reden hören,6 und nicht auf immer mit Haß und Abscheu gegen einen gewaltthätigen Heuchler erfüllt werden? Welcher Sohn kann das Bild eines wegen seiner väterlichen Sorgfalt und seiner nachgebenden Liebe verehrungswürdigen Vaters, das Terenz in der Person des Chremes geschildert hat, sehen, und nicht mit kindlicher Ehrfurcht für einen solchen Vater erfüllt werden, und wenn er einen solchen Vater hat, mit dem Sohn ausrufen »und dieser ist mein Vater, und ich sein Sohn? Wär er mein Bruder, mein Freund, wie könnt' er gefälliger seyn? Den sollt ich nicht lieben? Nicht auf den Armen tragen? O! Wahrlich ich fürchte mich so sehr ihn zu beleidigen, daß meine größte Sorge seyn wird, auch nicht aus Unvorsichtigkeit etwas zu thun, das ihm zuwider seyn könnte«7

Da es das eigentliche Werk der Künstler ist, die Gegenstände der Empfindungen und die Empfindungen selbst auf das lebhafteste zu schildern, beydes aber wichtigen Einfluß auf die Bildung der Gemüther haben kann, so steht es offenbar bey ihnen jede Empfindung zu erweken, wenn sie nur nicht ganz unempfindliche Menschen vor sich haben. Der Künstler also, der seines Berufs eingedenk, seine Kräfte fühlet, weyhet sich selbst zum Lehrer und Führer seiner Mitbürger. Mit dem Aug eines Philosophen und Patrioten, erforscht er ihren Charakter und ihre Gesinnungen; er kennt darin die Quellen und Ursachen des gegenwärtigen oder zukünftigen Wolstandes oder Verfalls einzeler Häuser und der ganzen Gesellschaft. Dann begeistert ihn sein Eyfer für Ordnung und Recht, seine Begierde rechtschaffene und auch glükliche Menschen zu sehen; er entflammt die noch nicht jedem Gefühl der Rechtschaffenheit abgestorbenen Herzen mit neuen Empfindungen; unterhält und verstärket das Feuer derselben, wo es noch nicht erloschen ist.

Diesen großen Einfluß könnten und sollten die schönen Künste haben; sie würden ihn haben, wenn bey dem Künstler das große Genie, mit einem großen Herzen verbunden, und die Regenten der Völker auch Väter derselben wären, die der Würksamkeit des Genies der Künstler ihre rechte Lenkung gäben. Nur ein Mensch, wie Voltaire, was würde der nicht ausgerichtet haben, wenn sein Herz so groß, als sein Genie gewesen, und wenn er im Dienst eines Solons oder Lycurgus gestanden hätte? Wenn diese Betrachtungen blos süße Träume sind, so sind sie es gewiß nicht darum, daß es ihnen an innerer in der Natur der Sachen liegenden Gründlichkeit fehlt; denn die Möglichkeit der Sache liegt am Tage.

Noch eine Anmerkung wollen wir diesen Betrachtungen für die Künstler hinzufügen, die würklich die Absicht haben nützlich zu seyn. Wir wollen sie warnen bey den Empfindungen, die sie erweken wollen, nicht allzu sehr nach einem allgemeinen Ideal zu arbeiten. So wie der, welcher alle Menschen seiner Freundschaft versichert, keines einzigen Menschen Freund ist, so ist auch der nach einem allgemeinen Ideal der Vollkommenheit gebildete Mensch schweerlich in irgend einem Staat der rechtschaffene Bürger. Die Empfindung, die recht würksam werden soll, muß einen ganz nahen und völlig bestimmten Gegenstand haben. Es giebt freylich allgemeine Empfindungen der Menschlichkeit, die in allen Ländern, in allen Zeiten und unter allen Völkern gleich gut sind. Aber auch diese müssen bey jedem Menschen ihre besondere, seinem Stand und den nähern Verhältnissen, darin er ist, angemessene Bestimmung haben. Der allgemeine rechtschaffene Mensch muß noch besonders gebildet werden, wenn er in Sparta, oder in Athen, oder in Rom, der rechtschaffene Bürger seyn soll. Wir rathen keinem Künstler für alle Völker und so gar für alle nachfolgende Zeiten zu arbeiten; dies wäre der Weg bey keinem Volk und in keiner Zeit nützlich zu seyn. Homer und Oßian der schottische Barde, haben weder an die Nachwelt, noch an andre Völker, als die unter denen sie lebten, gedacht, als sie Gesänge gedichtet, [315] die zu allen Zeiten werden gelesen werden. So haben Sophokles, Euripides und Horaz nicht für das menschliche Geschlecht, sondern für Athen und Rom geschrieben. Je mehr der Künstler die besondern Verhältnisse seiner Zeit und seines Orts vor Augen hat, je gewisser wird er die Sayten treffen, die er berühren will. Am allerwenigsten sollten sich die Künstler einfallen lassen, Gegenstände die blos auf einen fremden Horizont abgepaßt sind, auf dem unsrigen aufzustellen? was für eine abgeschmakte Figur machen nicht die Götter der Griechen in unsern Gärten und auf unsern Pallästen? Sie sind eben so schiklich, als es seyn würde, wenn der Lapländer die leichten seidenen Kleider der Indianer in seinem Land einführen wollte. Dieses sollten vornehmlich die Mahler und die dramatischen Dichter beobachten, und uns nicht unaufhörlich mit mythologischen und aus einer uns ganz unbekannten Welt hergenommenen Gegenständen unterhalten. Wir können an den gemahlten Verwandlungen des Ovidius wenig mehr, als den Pinsel des Mahlers schätzen; dies ist aber nicht der Zwek der Kunst; und was kann uns auf der deutschen Schaubühne der lächerlichste Marquis, die leichtfertigste Soubrette, oder ein schelmischer Lakey helfen? Was würde der beste Liederdichter, der die witzigsten und artigsten Vaudevilles der Franzosen aufs beste nachahmen könnte, in irgend einer deutschen Stadt damit ausrichten? Der Künstler trift am gewissesten den Weg zum Herzen, der einheimische Gegenstände schildert, und der das allgemeine der Empfindung durch Localumstände fühlbarer und reizender macht.

1S. Künste.
2Phædrus.
3Euripid. in Hippol. vers 253. seq.
4Man sehe unter andern in der Noachide S. III. in IV Gesang; 153 u. s. f. in dem VI, S. 204 in dem VII Ges. nach der berlinischen Ausgabe.
5Noachide II Ges. S. 44 u. s. f.
6Meßias IV Ges.
7Terent. Adelph. Act. IV Scen. 5.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 311-316.
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