Wahl

[1259] Wahl. (Schöne Künste)

Es ist zu einem vollkommenen Künstler nicht genug, daß er alle Talente und Fertigkeiten besize, den Gegenstand, den er sich zu bearbeiten vorgenommen hat, auf das genaueste darzustellen; er muß auch den Werth des Gegenstandes, und seine Tüchtigkeit in Rüksicht auf den Geschmak zu beurtheilen wissen. Es giebt Gegenstände, die der Bearbeitung der Kunst nicht werth sind; und andere, die zwar nach dem innern Werth schäzbar, aber so beschaffen sind, daß sie durch keine Bearbeitung zu Werken des Geschmaks werden können. Der Mahler, der in der höchsten Vollkommenheit der Kunst einen Gegenstand mahlte, den kein Mensch in der Natur zu sehen verlangte, hat seine schäzbaren Talente so übel angewandt, als jener Thor, der die Kunst gelernt hatte, ein Hirsenkorn allemal durch eine Nadelöhre zu werfen. In gleichem Falle wäre der Redner, oder Dichter, der uns in den schönsten Worten und Perioden, oder in den wolklingendsten Versen und mit der höchsten Leichtigkeit des Ausdruks, Sachen sagte, die kein Mensch hören möchte. Auf der andern Seite würde der beste Künstler sich vergeblich bemühen, einen unästhetischen Stoff, zu einem Werk der Kunst zu bilden. Die an sich fürtrefliche Geschichte des Herodotus in den schönsten Versen vorgetragen, würde, wie Aristoteles sagt, dennoch kein Gedicht seyn.

Hieraus folget, daß der Künstler sowol seinen Stoff überhaupt, als jeden Theil desselben in einer doppelten Absicht zu beurtheilen, und zu wählen habe. Einmal muß er darauf sehen, daß er keinen der Bearbeitung unwürdigen Stoff wähle.

Man muß für alle Künste zur Hauptmaxime der Wahl machen, was Vitruvius von Gemählden sagt; sie seyen nichts werth, wenn sie nur durch Kunst gefallen.1

Hievon haben wir im Artikel Künste hinlänglich gesprochen, und wollen unsre Künstler zum Ueberflus noch auf die gute Lehre verweisen, die Cicero dem Redner giebt.2 Hernach aber muß der Künstler auch überlegen, ob der Stoff überhaupt, und jeder Theil desselben sich ästhetisch bearbeiten lasse, um ein Gegenstand des Geschmaks zu werden. Zu jenem wird Verstand und Beurtheilung, zu diesem Geschmak erfodert. Mengs hat angemerkt, daß Albert Dürer die Kunst der Zeichnung eben so sehr in seiner Gewalt gehabt, als Raphael, aber in Absicht auf den Geschmak, nicht so gut zu wählen gewußt habe, als dieser. Ofte findet ein Dichter ein Gleichnis, das fürtreflich paßt, und dennoch nicht kann gebraucht werden, weil es dem guten Geschmak entgegen ist. Darum sagt Horaz vom guten Künstler


–– quæ

Desperat tractata nitescere posse relinquit.


Der Künstler muß also nirgend leichtsinnig, oder unbedachtsam, das erste, was sich seiner Vorstellungskraft darbiethet, nehmen; sondern allemal mit Sorgfalt untersuchen, ob es das ist, was es seyn soll, ob es schon in seiner natürlichen Beschaffenheit hinlängliche ästhetische Kraft hat, und ob es so ist, wie der gute Geschmak es erfodert. Je mehr Beurtheilung und Geschmak er hat, je besser wird er in beyden Absichten wählen.

Noch ist bey der Wahl der Materie überhaupt auch darauf zu sehen, ob sie zu der besondern Gattung des Werks, wofür sie dienen soll, bequäm und schiklich sey. Es giebt Handlungen, die sich sehr gut zur Tragödie schiken, und schlecht zur Epopöe, und umgekehrt; Empfindungen, die man fürtreflich in einem Lied und nicht wol schiklich in einer Ode vortragen könnte. Ist der Stoff nicht nur überhaupt interessant, zur ästhetischen Bearbeitung tüchtig, sondern auch noch für die Form des Werks [1260] schiklich, so wird einem guten Künstler die Ausführung nicht mehr schweer werden.


–– cui lecta potenter erit res,

Nec facundia deseret hunc nec lucidus ordo.


Die Dichter haben größere Sorgfalt bey der Wahl nöthig: der Mahler der übel gewählt hat, gefällt noch immer, wenn die Arbeit vollkommen ausgeführt, oder wenn der Gegenstand vollkommen dargestellt ist. Nicht darum, wie Du Bos meint, weil es schweerer ist, gut zu zeichnen, und zu mahlen, als einen guten Vers zu machen; sondern deswegen, weil eine vollkommene Nachahmung der Aehnlichkeit halber Wolgefallen erwekt.3 In so fern aber der Dichter schildern will, hat er eben den Vortheil, daß gute Schilderungen auch von schlechten Sachen gefallen, mit dem Mahler gemein. Die Schilderung des alten Buches in Boileaus Lutrin gefällt gerade aus dem Grunde, warum eine vollkommen gemahlte Kröte gefallen würde.

Der eben angeführte Schriftsteller untersucht in einem besonderen Abschnitt seines fürtreflichen und überall bekannten Werks über die schönen Künste4, was einen Stoff für die Dichtkunst und für die Mahlerey vorzüglich tüchtig mache. Aber er scheinet diese Materie nicht in das helleste Licht gesezt zu haben. Man kann die vorzügliche Brauchbarkeit eines Stoffs für jede Kunst durch das, was jeder Kunst wesentlich ist, genauer bestimmen. Für die Musik schiket sich nichts, als Aeußerungen der Leidenschaften; sie kann ihrer Natur nach weder Gedanken, noch sichtbare Gegenstände schildern.5 Für den epischen Dichter ist die Schilderung einer Scene, wo viel Menschen zugleich müssen beobachtet werden, wenn man den zwekmäßigen Eindruk davon haben soll, ungleich weniger schiklich, als für den Mahler; und die Aussicht, die ein Landschaftmahler vorzüglich wählen könnte, weil sie im ganzen übersehen die beste Würkung thut, möchte sich sehr schlecht für den schildernden Dichter schiken. So hat jede Kunst etwas, das die Wahl des Gegenstandes bestimmen kann. Wir haben aber das, was wir hierüber anzumerken hatten, bereits theils in den Artikeln über besondere Künste, theils in denen über die besondern Gattungen der Kunstwerke, bereits angeführt.

1Neque enim picturæ probari debent – si sactæ sunt elegantes ab arte. Vitr. L. VII. c. 5.
2Sumendæ res erunt aut magnitudine præstabiles aut novitate primæ aut genere ipso singulares. Neque enim parvæ, nec usitatæ, neque vulgares admiratione, aut omnino laudis dignæ videri solent. Cic. in Brut.
3S. Aehnlichkeit.
4Reflexions sur la poesie & la peinture, sect. XIII.
5Man sehe, was aus diesem Grund über die Wahl des Stoffs für die Oper, in dem Artikel Oper ist erinnert worden.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 1259-1261.
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