Gedanken

[431] Gedanken. (Schöne Künste)

Heißt überhaupt jede Vorstellung, in welcher einige Deutlichkeit ist, vermöge welcher man sie durch Zeichen bekannt machen kann. Wenn man insbesonder in Absicht auf die schönen Künste von Gedanken spricht, so versteht man dadurch die Vorstellungen, welche der Künstler durch sein Werk hervorzubringen sucht, in so fern sie von der Art, wie sie erregt werden, oder sich darstellen, unterschieden sind. Die Gedanken in den Werken der Kunst sind dasjenige, was von einem Werk übrig bleibet, wenn der ästhetische Schmuk davon genommen wird. So sind die Gedanken des Dichters das, was übrig bleibet, wenn der Bau des Verses, der Ton und einige blos zum Schmuk und zur Ausbildung, oder zur Verstärkung dienende Begriffe weggelassen werden.

Die Gedanken sind demnach die Materie oder der Stoff, der von der Kunst bearbeitet und auf eine ihrem Zwek gemäße Weise vorgetragen wird. Das Aesthetische selbst ist das Zufällige der Gedanken, das Kleid worin sie gezeiget werden, oder die Form in welche sie der Künstler bildet. Derowegen sind sie das erste, worauf in jedem Werk der Kunst zu sehen ist. Sie sind der Geist und die Seele des Werks, und wenn sie schlecht sind, so kann das ganze Werk keinen großen Werth haben; sondern gleicht jenem Pallaste von Eis, der zwar die richtigste Form eines brauchbaren Gebäudes hat, aber seiner Materie halber unnütz ist, und zu dem Gebrauch, den seine Form anzeiget, nicht dienen kann.

Zu jedem vollkommenen Werk der Kunst werden also zuerst gute, das ist, richtige und nach der Beschaffenheit des Werks intressante Gedanken erfodert. Was Horaz blos von den redenden Künsten sagt: Scribendi fons est sapere, kann auf alle Künste angewendet werden: Fingendi fons est sapere. Gedanken aber sind Früchte der Vernunft. Mithin ist die wesentliche Grundeigenschaft eines Künstlers, Beurtheilungskraft und Vernunft. Denn ohne diese stellet er uns bloße Formen dar, die einen Schein, aber kein würkliches Wesen haben; pulchra facies cerebrum non habens. Ein bloßer Künstler, der nicht zugleich ein Philosoph ist, das ist, ein vernünftiger Mann, der wichtige und uns intressante Gedanken zu bilden vermag, gleicht einem Koch, der zwar allerhand Arten von schmakhaftem Gewürz im Vorrath hätte, aber keine nahrhafte Speisen, die er damit zu rechte machen könnte.

Wie der Koch eine Speise haben muß, die er durch seine Kunst zurichtet und schmakhaft macht, so muß der Künstler Gedanken, das ist, Vorstellungen, die dem Geiste Nahrung geben, in Bereitschaft haben, und sie durch die Kunst angenehm oder kräftig machen. Diesen Begriff von der Kunst müssen die Künstler beständig vor Augen haben, damit sie, [431] durch eine ernstliche Bemühung die wichtigsten Wahrheiten der Philosophie sich bekannt zu machen, durch eine genaue Beobachtung der Menschen und Sitten, hinlänglichen Vorrath von Gedanken anschaffen. Wer nicht fähig ist, wichtige Gedanken in seinem Verstand hervor zu bringen, der hat keinen Stoff zur Bearbeitung für die Künste. Denn dasjenige, was der Mühe nicht werth geachtet wird, ohne ästhetischen Schmuk erkennt zu werden, ist auch des Aufwandes der Auszierung nicht werth. Wer, als ein Thor, könnte ein schlechtes und unnützes Gefäß in Gold fassen lassen?

Bey einem rechtschaffenen Künstler müssen Verstand und gesunde Vernunft die Gaben seyn, mit denen sich Witz und feiner Geschmak vereinigen. Ohne jene wird er ein bloßer Zeitvertreiber oder Lustigmacher. Nur eine gründliche, große Art zu denken, mit Talenten die zum Geschmak gehören, verbunden, machen den großen Künstler aus1. Ohne den großen Verstand, ohne die wichtigen Gedanken, die Homer als ein Kenner und Beobachter der Menschen gesammelt, und in seinen unsterblichen Gesängen vorgetragen hat, würde er mit allem Feuer der Dichtkunst, mit allem Wolklang seiner Verse, mit allen wolgemahlten Bildern, niemal der Dichter der vernünftigen Alten geworden seyn.

Nach eben diesen Grundsätzen müssen wir alle Werke der Kunst beurtheilen, wenn wir nicht bloße Spiele des Witzes und der Einbildungskraft für wichtige Werke ausgeben wollen. Ein gründlicher Beurtheiler der Kunst läßt sich niemal durch die bloße Kunst blenden. Er zieht dem Werk erst das Kleid der Kunst ab, um die Gedanken nakend zu sehen. In dieser Gestalt beurtheilet er ihre Wahrheit, ihre Wichtigkeit. Findet er bey dieser Betrachtung nichts wichtiges oder großes, so setzet er das Werk in die Classe der angenehmen Kleinigkeiten.

Man muß es sich bey Beurtheilung der Werke der Kunst zur Hauptmaxime machen, jeden Gedanken in seiner nakenden Gestalt zu prüfen. Der Künstler, der dieses versäumt, läuft Gefahr ofte nichts zu sagen; denn der Schmuk blendet. Man glaubet ofte mit dem Ixion, die Juno in seinen Armen zu haben, und hat nur ein leeres Phantom. Selbst große Künstler lassen sich bisweilen durch den äusserlichen Glanz verführen, den Gedanken mehr Werth beyzulegen, als sie haben. Hat nicht der schöne Ausdruk in folgenden Versen den Virgil selbst gehindert, das Falsche in den Gedanken zu sehen? Die Sybille sagt zum Aeneas, als er eine Reise nach dem Tartarus vornimmt


Tros Anchidiades, facilis descensus Averni,

Noctes atque diu patet atri janua Ditis:

Sed revocare gradum superasque evadere ad auras

Hoc opus, hic labor est.


Der ganze Gedanke ist grundfalsch. In den Worten facilis descensus averni, Noctes etc. wird der Tod oder das Sterben verstanden. Aeneas aber will bey lebendigem Leib herunter, und da ist das Herunterfahren und Heraufsteigen gleich leicht oder schweer. So bald man einer Vorstellung ihr Kleid ausgezogen, kann man ein zuverläßiges Urtheil von dem Werth der Gedanken fällen.

Sehet ihr ein historisches Gemälde, so suchet zu vergessen, daß es ein Gemähld ist; vergeßt den Mahler, dessen zauberische Kunst durch Licht und Schatten Körper hervorgebracht hat, wo keine sind. Stellt euch vor würkliche Menschen zu sehen, und gebet alsdenn auf die Handlungen dieser Menschen Achtung. Sehet zu, ob sie wichtig seyen, ob die Personen in ihren Gesichtern, Gebehrden und Bewegungen, Gedanken und Empfindungen anzeigen; ob ihr die Sprache ihrer Mienen und Gebehrden verstehet, und ob sie euch etwas merkwürdiges sagen. Findet ihr es nicht der Mühe werth, diesen in eurer Einbildung würklichen Menschen zuzusehen, so hat der Mahler schlecht gedacht. Hört ihr ein Tonstük, so suchet zu vergessen, daß ihr Töne von einem leblosen Instrument höret, die nicht anders, als durch eine große Fertigkeit der Finger oder der Lippen hervorgebracht werden können. Stellet euch vor, ihr höret einen Menschen in einer unbekannten Sprache reden, und gebet Achtung, ob seine Töne Empfindung ausdrüken; ob sie Ruhe des Gemüthes, oder Unruhe, sanfte oder heftige Leidenschaften, fröhliche oder traurige anzeigen; ob diese, den einzeln Worten nach unverständliche Sprache, den Charakter eines Redenden ausdrükt, ob er edel oder gemein, ob er als ein vernünftiger, oder als ein wahnsinniger spricht. Könnet ihr nichts dergleichen entdeken, so beklaget den Meister, daß er mit so viel Kunst keine Gedanken verbunden hat.

Auf eben diese Art müssen auch die Gedichte, besonders die lyrischen, beurtheilet werden. Nur die Ode hat einen Werth, die, nachdem sie alles [432] Schmuks der Poesie beraubet ist, in dem Gemüth etwas zurüke läßt, das ihm Nahrung und Kräfte giebt. Man kann am besten davon urtheilen, wenn man sie in die gemeine Sprach übersetzet, und ihr so wol die poetischen Farben, als den Klang benihmt. Bleibet alsdenn nichts übrig, das ein Mensch von Verstand und Nachdenken zu seiner Ueberlegung behalten möchte, so ist die Ode beym schönsten Klang und bey dem glänzendsten Colorit2 ein schönes Kleid, das einem Mann von Stroh angezogen ist. Wie sehr irren sich die, die sich einbilden, man könne mit reicher Phantasie und einem guten Ohr, ein Odendichter seyn.

Erst alsdenn, wenn man die Gedanken eines Werks in ihrer bloßen Gestalt entdekt hat, läßt sich urtheilen, ob das Kleid, das die Kunst ihnen angezogen hat, anständig und ihnen angemessen sey oder nicht. Ein Gedanke, dessen Rang und Werth aus seiner Einkleidung muß erkennt werden, hat eben so wenig eigenen Werth, als ein Mensch, der seine Verdienste durch äusserlichen Prunk zeigen will.

1S. Dichter.
2S. Farben (poetische)
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 431-433.
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431 | 432 | 433
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