Farben (Dichtkunst)

[373] Farben. (Dichtkunst)

Poetische Farben nennet man alle die Hülfsmittel, deren sich der Dichter bedienet seinen Gegenstand der Einbildungskraft so deutlich darzustellen, als wenn er vor unsern Augen gemahlt wäre, Leben oder Bewegung hätte. Dazu gehören die Bilder, und alle Tropen und Figuren, wodurch die Einbildungskraft lebhafter gerührt wird, als sie durch die eigentliche Beschreibung, durch den natürlichen Ausdruk geworden wäre.

Du Bos meint, daß die Farben der Dichtkunst das Schiksal der Gedichte bestimmen. Vermuthlich denken einige Dichter eben so, die in der poetischen Mahlerey weder Maaß, noch Ziel, noch Grade beobachten. Ihre Reden sind ein beständiges Gewebe von Bildern und Tropen von der seltsamsten Art. Nicht nur Tugenden und Laster, sondern auch die zufälligsten Begriffe werden zu Personen erhöhet, so daß den Personen selbst wenig zu thun übrig bleibet. Die eigenthümlichen Redensarten werden fast überall vermieden, als wenn sie ganz unbrauchbar wären.

Diese Ueppigkeit hat eine Armuth wichtigerer Vorstellungen zum Grund; das Herz bleibt dabey kalt, und die Einbildungskraft wird so überhäuft, daß sie ermüdet. Solcher Ueberfluß schadet, wie die Verschwendung der Zierrathen am Kopfputz und der Kleidung, durch welche das Aug nicht hindurch dringen kann, um das Schöne im Gesicht und der ganzen Gestalt zu sehen. Selbst in lyrischen Stüken, die doch den poetischen Farben ihren eigentlichen Ort leihen, schiket sich diese Ueppigkeit so wenig, als im Trauerspiel und in dem heroischen Gedicht.

Der Dichter soll bedenken, daß aller dieser Schmuk höhern und wichtigern Eindrüken nothwendig muß untergeordnet seyn. Wozu dienete denn endlich die wolausgezierteste Aussenseite eines Gebäudes, wenn hinter derselben keine Zimmer wären? Jeder Dichter sollte bedenken, daß ein mit aller Einfalt vorgetragener, wichtiger, das Herz oder den Verstand intreßirender Gedanke eine größere Würkung thut, als alle Bilder der Phantasie.

Der rechte Gebrauch der poetischen Farben giebt uns von den Einsichten und dem Geschmak eines Dichters und Redners den zuverläßigsten Begriff. Ein glänzendes Colorit, ohne Stärke der Zeichnung, ohne natürliche Schilderung solcher Gegenstände, die über die Einbildungskraft hineindringen, und wichtige Empfindungen zurük lassen, verräth einen an Kleinigkeiten hangenden Geschmak. Der gänzliche Mangel poetischer Farben ist noch eher zu ertragen, als ihr Ueberfluß. Die größten Dichter, Homer und die tragischen Verfasser der Griechen haben darin einen großen Geschmak gezeiget, daß sie die hellesten Farben auf die Stellen gesezt, die zwar des Zusammenhangs halber unumgänglich nothwendig gewesen, aber einen geringen Eindruk ohne diese Erhöhung würden gemacht haben. Wo man dem Verstand und dem Herzen Ruhestellen sezt, da kann die Einbildungskraft gerührt werden.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 373.
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