Lüke (Dichtkunst)

[725] Lüke. (Dichtkunst)

In einem ganz besondern Sinn bedeutet dieses Wort, das, was einige Neuern auch sonst durch das lateinische Wort hiatus ausdrüken, die Unterbrechung in der Bewegung der, zur Sprache dienenden, Gliedmaaßen, die aus der unmittelbaren Folge zweyer Töne entsteht, wobey der Uebergang des einen zum andern durch eine Art von Sprung geschieht, welches dem Wolklang entgegen seyn kann. Weil dieses nicht selten bey dem Zusammenstoß der Vocalen geschieht, so haben verschiedene neuere Kunstrichter dieses, als eine dem Wolklang schädliche Sache gänzlich verboten, wogegen aber andere verschiedenes einwenden.

[725] Es ist wahr, daß das öftere Zusammenstoßen der Selbstlauter die Rede schweer macht, zumal wenn beyde lang sind. Daß aber die Griechen nicht so ängstlich gewesen, sie in ihren Versen ganz zu vermeiden, ist aus tausend Versen offenbar. Auch kann daran nicht gezweifelt werden, daß sie solche Lüken bisweilen mit Fleiß gesucht haben, wie schon A. Gellius angemerkt hat.1 Er sagt ausdrüklich, daß in der Stelle aus Virgils Gedichte vom Landbau


Talem dives arat Capua et vicina Vesevo

Ora jugo:


das Wort Ora auch deswegen besser stehe, als Nola, welches der Dichter zuerst soll gesezt haben, weil das Zusammenstoßen des lezten Vocals im ersten Vers und des ersten im zweyten, angenehm sey. Nam vocalis in priore versu extrema eademque in sequenti prima canoro simul atque jucundo hiatu tractim sonat. Er führt auch den bekannten Vers Homers: Λᾶαν ἀνω ωθεσκε etc. an, um zu beweisen, daß solche hiatus nicht von ohngefehr, sondern aus Ueberlegung in die Verse gekommen seyen. Dieses allein ist hinlänglich zu beweisen, daß jene Regel eben nicht ängstlich dürfe beobachtet werden.

Und denn ist es vielleicht noch wichtiger, das Zusammenstoßen gewisser Mitlauter zu vermeiden, die eine weit merklichere Lüke geben. Ein N, das auf ein M folget, kann nicht ohne Mühe ausgesprochen werden. Also begnüge man sich dem Dichter überhaupt zu sagen, er soll überall so viel möglich auf die Leichtigkeit der Aussprach sehen, ohne ihm zu genaue Regeln vorzuschreiben.

1Noct. L. VII. c. 20.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 725-726.
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