Fabel (Dichtkunst)

[358] Fabel. (Dichtkunst)

Die Handlung oder Begebenheit, die den Stoff des epischen und des dramatischen Gedichts ausmacht, sie sey würklich geschehen, oder blos erdichtet. Aristoteles nennt sie συστασιν των πραγματων, die Beschaffenheit der Unternehmungen und Vorfälle. Sie ist das Gewebe, in welches der Dichter die Charaktere, Reden und Entschliessungen der handelnden Personen seiner Absicht gemäs einflicht. Sein eigentlicher Zwek ist die mannigfaltigen Aeusserungen der menschlichen Kräfte, bey merkwürdigen Vorfällen, lebhaft zu schildern, die Stärke und Schwäche des Menschen, seine gute und schlechte Seite sehen zulassen und zu zeigen, wie er hier durch die Stärke der Seele über alle Zufälle erhaben, dort ein Spielzeug des Schiksals oder seiner eigenen Leidenschaften ist. Er sucht Vorfälle und Begebenheiten von der Beschaffenheit, daß sie alles, was von würkender oder leidender Kraft in der menschlichen Seele liegt, reizen und an den Tag bringen. Die Fabel dienet dem Gedicht, wie das Knochengerippe des Körpers, zum Gerüst, an dem die Edlern zum Leben und zur Empfindung dienenden Theile angeheftet werden, damit sie ihre Würksamkeit ausüben können.

Also ist die Fabel nicht das Wesentliche, auch nicht der wichtigere Theil dieser Gedichte; sie ist nur da um dem Dichter Gelegenheit zu geben, seine Kenntnis der menschlichen Natur auf die vortheilhafteste Weise an uns zu bringen. Wer wird glauben, daß Homerus bey der Ilias die Absicht gehabt habe, den Griechen zu erzählen, was sich vor Troja zugetragen, oder daß Sophokles seinen Oedipus geschrieben, blos, um seinen Mitbürgern das Schauspiel des unglüklichen Falles dieses Regenten vor Augen zu legen? Die Fabel ist nicht, wie die Geschicht, um ihrer selbst willen da, und muß nach dem Grad ihrer Tüchtigkeit zu Entwiklung der Charaktere und Sinnesarten der darin vorkommenden Personen beurtheilt werden. Die beste Fabel ist die, welche dem Dichter die beste Gelegenheit giebt, das, was er uns zu zeigen hat, auf das kräftigste vor Augen zu legen. Jede würkliche oder erdichtete Geschicht oder Begebenheit, in dem Gesichtspunkte betrachtet, wie bey Gelegenheit derselben die Aeusserungen der verschiedenen in dem menschlichen Gemüthe liegenden Kräfte, deutlich und lebhaft könnten abgeschildert werden, wird durch diesen besondern Gesichtspunkt, aus dem man sie ansieht, zur Fabel. [359] Demnach ist die Fabel eine aus der Geschichte genommene, oder ganz erdichtete Begebenheit, nach den besondern Absichten des Dichters angeordnet. Meistentheils wird sie aus der Geschichte genommen, weil ganz erdichtete Personen und Handlungen unsre Aufmerksamkeit weniger reizen, als solche die wir für würklich halten. Wo Personen und Handlungen völlig erdichtet sind, da muß wenigstens der Ort und die Zeit der Handlung so seyn, daß sie in unsern schon vorhandenen Begriffen liegen. Eine Fabel aus einem nicht bestimmten Zeitalter und aus einem uns ganz unbekannten Lande würde, wenigstens im Anfang, uns wenig reizen. Erst wenn wir durch wiederholtes Lesen mit Zeit, Ort und den Personen näher bekannt worden, hat die Fabel hinlängliche Reizung für uns.

Aber würkliche Begebenheiten, gerade so, wie sie sich zugetragen haben, mit ihren besondern Umständen, werden sich sehr selten zur Fabel brauchen lassen. Die Sachen geschehen selten in der Ordnung, wie der Dichter sie braucht, und wie sie uns am lebhaftesten rühren; es kommen darin Dinge vor, die seiner Absicht im Wege stehen; die Menschen sind dabey nicht allemal gerade in den Umständen, die ein völlig helles Licht über ihren Charakter verbreiten. Diesen Mängeln abzuhelfen richtet der Dichter die Geschichte nach seiner Absicht ein, er läßt einige Sachen weg, erdichtet andere dazu, verkürzt oder verlängert die Dauer der Handlungen; zeichnet die wichtigsten Gegenstände genauer aus, daß wir sie vor unsern Augen zu sehen glauben. Die Fabel hat, in Absicht der Sachen, die geschehen, vor der Geschichte den Vorzug, daß sie uns durch Erdichtung besonderer Umstände alles lebhafter, ausführlicher und lehrreicher und durch des Dichters Anordnung ordentlicher, und wie es uns am stärksten intreßirt, vorstellt; vornehmlich aber wie jedes am bequämsten ist, die handelnden Personen von der merkwürdigsten Seite zu zeigen und uns die Stärke und Schwäche ihrer Seelen lebhaft empfinden zu lassen. Deßwegen merkt Aristoteles sehr wol an, daß die Poesie philosophischer und überlegter sey, als die Geschichte.1 Daher kömmt es, daß wir durch die Geschichte den Menschen nur in einem schwachen Licht, und wie in einer Zeichnung, ohne Farben und Leben, in dem epischen und dramatischen Gedicht aber in seiner ganzen Natur und in seinem vollen Leben erbliken.

Der Dichter kommt durch zweyerley Wege zu der Fabel; entweder fällt er zufälliger Weise darauf, eine sich ihm darbietende merkwürdige Begebenheit zur Fabel eines Gedichts zu machen, und erfindet alsdenn die Seele oder den Geist, womit er diesen Körper beleben will; oder er sucht zur Ausführung eines Endzweks, den er sich vorgesetzt hat, eine Begebenheit auf, die er zur Fabel brauchen kann. In beyden Fällen aber muß er die Begebenheit durch Erfindung und Anordnung der Theile, nach seiner Absicht einrichten. Es ist wahrscheinlich, daß Virgilius durch den ersten Weg auf seine Aeneis gekommen ist. Er mag zufälliger Weise an die Niederlassung des Aeneas in Italien und an die Folgen desselben gedacht haben, und dabey auf den Gedanken gekommen seyn, daß diese Begebenheit eine sehr gute Fabel abgeben könnte, den göttlichen Ursprung des römischen Reichs und die vom Schiksal selbst den Juliern bestimmte Herrschaft darin, vorzustellen. Also erfand er zu der schon vorhandenen Geschicht den Geist oder die Seele, womit er diesen Körper hernach belebt hat. Homer ist vermuthlich durch den andern Weg auf die Ilias gekommen. Er mag sich vorher vorgesetzt haben, die berühmten Häupter der ehemaligen griechischen Völkerschaften, und auch diese selbst, nach ihren Charaktern zu schildern und ihre Thaten in ein helles Licht zu setzen. Dann mag ihm eingefallen seyn, daß er aus der Geschichte des trojanischen Krieges, worin alle verwikelt gewesen, denjenigen Punkt aussuchen müsse, der ihm die beste Gelegenheit geben würde, jeden in seinem hellesten Lichte zu zeigen. Dieses sind überhaupt die zwey Wege, wie man in den schönen Künsten auf Erfindungen kömmt, wie an seinem Orte gezeiget worden.2

Sehr wichtig ist es für den Dichter, durch welchen Weg er auch auf den Stoff der Fabel gekommen ist, daß er seinen Werth genau und reiflich beurtheile. Wenn die Fabel nicht gänzlich erdichtet ist, so sind mehr oder weniger wesentliche Dinge darin, die er nicht ändern darf; da könnte es sich gerade treffen, daß dieses Wesentliche dem Geist des Gedichts im Weg stühnde, oder daß es auch dem, was etwa zur Absicht des Dichters nothwendig hinzugedichtet [360] werden muß, hinderlich wäre, und so könnten sich wichtige Fehler über das ganze Gedicht verbreiten. Zur Beurtheilung der Fabel aber wird eine genaue Bestimmung des Geistes oder der Seele, die man diesem Körper zu geben gedenkt, erfodert. Denn wenn da etwas ungewisses oder unbestimmtes bleibet, so wird die Erfindung dessen, was zur Fabel gehört, ungewiß, und es ist ein bloßer Zufall, wenn es geräth. Wir wollen nicht mit dem Pater Le Boßu behaupten, daß das Ganze der Fabel ein bestimmter moralischer Satz seyn müsse; dieses ist eine sehr pedantische Einschränkung; doch fodern wir, daß der Dichter den Charakter des Stüks wol bestimme, daß er die Fabel von mehrern Seiten betrachte, bis er einen bestimmten Eindruk von derselben empfindet, den er auch andern mitzutheilen wünscht. Dieser Eindruk ist das, was wir den Geist der Fabel nennen. Beyspiele, wie der besondere Gesichtspunkt, aus welchem die Dichter die Fabel ansehen, das Zufällige in derselben bestimmt, haben wir an der von den drey griechischen Trauerspieldichtern behandelten Fabel vom Tode der Clytemnestra. Aus dem Trauerspiel des Aeschylus, das den Namen Coephoren trägt, sehen wir deutlich, daß den Dichter in dieser Fabel vorzüglich die Vorstellung der Strafe gerührt hat, welche früh oder späth auf große Verbrechen erfolget. Die ganze Fabel ist auf den finstern Ton gestimmt, der dieser Vorstellung gemäß ist. Daher kömmt die Erdichtung des schrekhaften Traumes der Clytemnestra, des ängstlichen Versöhnungsopfers auf dem Grabe des Agamemnons, das Entsetzliche, was von dem Meuchelmord dieses Königs erzählt wird, das böse Gewissen des Aegisthus, und endlich, nach vollbrachter That des Orestes, die angehende Tollheit dieses unglüklichen Sohnes. Der Dichter ist durchgehends von dem Haupteindruk geleitet worden.

Sophokles sah die Sach aus einem andern Gesichtspunkte. Ihn rührten hauptsächlich der gottlose Charakter der Clytemnestra, und der feurige, aber mit Hoheit verbundene Charakter, unter welchem er sich die Elektra vorgestellt hat. Alles zielt auf die deutliche Bezeichnung und Entwiklung derselben ab. Zu dem Ende hat er die Chrysothemis eingeführt, wodurch er hinlängliche Gelegenheit bekommen, die eine Seite des Charakters der Elektra zu entwikeln, und die schöne Erdichtung von der Urna, die dem Vorgeben nach die Asche des Orestes enthielt, wodurch die andre Seite des Charakters der Elektra und zugleich der schändliche Charakter ihrer Mutter in das schönste Licht gesetzt worden.

Euripides hat die Fabel wieder in einem andern Lichte gesehen. Ihn rührte hauptsächlich das Niederträchtige und Lasterhafte in dem ganzen Betragen der Clytemnestra und ihres ehebrecherischen Gemahls. Um diese beyden Personen in der niederträchtigsten Sinnesart zu zeigen, hat er zu dem Wesentlichen der Fabel die schöne Erdichtung von der Verheyratung der Elecktra an einen armen Landmann, hinzugethan. Nichts war geschickter, als diese Sache an sich selbst, und der tugendhafte und edle Charakter dieses geringen Menschen, um den Aegysthus und die Clytemnestra in dem verächtlichsten Lichte zu zeigen.

Hiedurch wird also die vorhergemachte Anmerkung, daß der Dichter seine Fabel allemal aus einem gewissen Gesichtspunkt anzusehen habe, um sie zu seinem Vorhaben geschickt einzurichten, verständlich werden. Wenn der Dichter darin glüklich gewesen ist, so wird der ganze Plan seines Werks selten mißlingen.

1Καμ φιλοσοφωτερον καμ σπoδαιωτερον ποιησις ίςοριας ἐσεν. Poetic. c. 9.
2S. Art. Erfindung.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 358-361.
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358 | 359 | 360 | 361
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