[50] Fabel. In jener schönern Zeit, wo noch die ganze Natur dem Menschen näher stand, wo jeder Baum, jede Blume lebte und selbst das zutraulichere Thier den Menschen mit sprechenden Augen ansah, in den Tagen, wo der Mensch noch ein harmloses Kind war, und unbefangen mit den ihn umgebenden Gegenständen spielte, in jener Zeit einer einfachen unschuldigen Sinnlichkeit entstand die Fabel. Kinder lieben das Erzählen, sie wollen im Sinnlichen das Geistige erschauen; ein Mährchen, eine Geschichte macht auf sie einen weit tiefern Eindruck als alle Ermahnungen und belehrende Vorlesungen; auch ziehen sie die moralischen Wurzeln leichter aus solchen erdichteten Vorfällen als aus selbsterlebten Ereignissen, mit denen sich Leidenschaft und Selbstbefangenheit vermischen, und wir werden leichter durch fremden Schaden klug als durch eignen. Dieß erkannten schon die ältesten Weisen; um eine Lehre, eine Moral, eine Maxime der Lebensklugheit zu veranschaulichen, gebrauchten sie ein Bild, ein Gleichniß, oder kleideten sie in das Gewand der Fabel. Die Fabel, die der didaktischen Poesie angehört, ist eine[50] Art Allegorie, die vermittelst der Naturwelt auf die geistige Welt anspielt. Sie stellt ein Sinnbild hin, dem sie die Anwendung folgen läßt. Der Fabeldichter halt sich vorzugsweise an die Thierwelt, die ihm den Vortheil fest ausgeprägter, unwandelbarer Charaktere gewährt. Das Treffendste über die Fabel findet sich bei Lessing und Herder. Letzterer unterscheidet theoretische, moralische und Schicksalsfabeln, jenachdem sie entweder auf den Verstand oder auf Sittlichkeit, oder auf das Gefühl wirken sollen. Die Fabel muß als Miniaturerzählung einfach in der Darstellung und kurz an Umfang sein, weil die Einbildungskraft die ihr zugemuthete Illusion zwar gern aufnimmt, aber ermüdet wird, wenn sie dieselbe lange unterhalten soll. Die Heimath der ältesten Fabeln ist der Orient; unter den indischen zeichnen sich die von Bilbai, und unter den arabischen die von Lockmann aus. Der berühmteste unter den griechischen Fabeldichtern ist der selbst fabelhafte Aesop, dem unter den Römern Phädrus nachahmte. Auch die deutsche Literatur hat mehrere gute Fabeldichter aufzuweisen, unter den ältern z. B. Boner, der unter dem Titel »Edelstein« eine Sammlung von hundert Fabeln herausgab, und Burkard Waldis aus dem 16. Jahrhundert. Unter den Spätern sind besonders Pfeffel, Lessing und Gellert zu bemerken. Unter den Franzosen nennen wir Lafontaine, und unter den Engländern Gay. In einem weitern Sinne versteht man unter Fabel die geschichtliche Basis epischer und dramatischer Dichtwerke, das historische Gerippe zu dem ganzen poetischen Körper derselben.
E. O.