Aeneis

[16] Aeneis.

Ein episches Gedicht des Virgils, dessen Inhalt die Unternehmungen des Aeneas sind, die auf seine Niederlassung in Italien abzielen. Eine von den wenigen Epopeen, welche von allen Kennern bewundert, und so lange wird gelesen werden, als guter Geschmak in der Welt seyn wird.

Der Plan dieses Gedichts ist überaus weitläuftig, indem der Dichter nicht nur die Zerstöhrung der Stadt Troja, als die Gelegenheit des Auszuges seines Helden, nebst seinen weitläuftigen Wanderungen in verschiedene Länder; sondern auch die auf seine Niederlassung in Italien erfolgten Kriege hineingebracht hat. Diese Weitläuftigkeit könnte uns den Verdacht erweken, daß er einiges Mißtrauen in die schöpferische Kraft seines Genie gesetzt habe. Er hat die Begebenheiten von vielen Jahren und Zeiten und Ländern, mit nicht mehr Mannigfaltigkeit behandelt, als Homer eine Geschichte von wenigen Tagen. Diese Art der Kleinmüthigkeit zeiget sich auch in den beständigen Nachahmungen des Griechen, die sich sowol auf ganze Episoden, als auf besondere Begegnissen, und sogar auf einzele Verse erstreket.1 Wo dieser Hauptführer [16] ihm fehlt, da hilft er sich mit andern griechischen Dichtern. Vielleicht war seine Bescheidenheit zu groß? Man entdeket doch ein Genie in ihm, das stark genug möchte gewesen seyn ein Original zu machen.

Die Begebenheiten sind in der schönsten Verbindung, und folgen überall aus einer Quelle, die der Dichter keinen Augenblik aus dem Gesicht verliehret. In dem Plan selbst herrscht eine sehr feine Kunst. Alles ziehlt auf die Hoheit des römischen Reichs, auf die Veranstaltung der Götter, daßelbe über alle Mächte zu erheben, und auf den besondern Glanz des Hauses der Julier ab, welche beyde Dinge vollkommen vereiniget sind. Ohne Zweifel hat der Dichter das seinige mit beytragen wollen, dem römischen Volke die Herrschaft der Cäsaren nicht nur erträglich, sondern angenehm und verehrungswürdig zu machen. In so fern hat dieses Gedicht wenig moralische Verdienste, und Virgil konnte auch deßwegen den Römern niemal das werden, was Homer den Griechen gewesen ist. Allein wir beurtheilen hier nicht den Menschen2 sondern den Dichter.

Die Charaktere der handelnden Personen entwikeln sich in der Aeneis nicht sonderlich, und bey weitem nicht so, wie in der Ilias; woran zum Theil die große Weitläuftigkeit der Materie Schuld ist. Die, welche sich am deutlichsten entwiklen, setzen uns in keine große Bewundrung oder Bewegung. Wir lernen Menschen kennen, wie die sind, mit denen wir leben, da uns Homer Menschen vom Heldengeschlechte zeiget. Die Reden bestehen oft aus etwas allgemeinen Sprüchen, die sich für andere Personen eben so gut schikten. Schlechte und gemeine Gedanken sind zwar nicht da, aber auch wenig ganz hohe. Man sieht gar wol, daß der Dichter selbst das mittelmäßige der Charaktere seiner Zeit angenommen, wo das heroische der alten römischen Tugend nicht mehr gangbar war. Die Schwachheiten dieses Gedichts sind nicht Schwachheiten des Dichters, sondern seiner Zeit. Sehr selten erhebt sich ein Genie über seine Zeit, und wenn es geschieht, so erlangt er gewiß keinen Beyfall.

Im Ausdruk und in der Mechanik der Sprache ist er unverbesserlich, man wünscht bald jeden Vers auswendig zu behalten. Er ist kürzer im Ausdruk als Homer; ob gleich die lateinische Sprache schwieriger war, als die griechische, zu aller der Anmuth und Beugsamkeit erhoben zu werden, die er ihr gegeben hat. Seine Beywörter sind immer nachdrüklich, mahlerisch, und bezeichnen die Natur der Sache genau. Die Begriffe sind enge zusammen gepreßt, und man wird ohne Ruhe fortgerissen. Ueberhaupt hat der Dichter die Poesie der Sprache im höchsten Grade der Vollkommenheit besessen.

Seine Schildereyen erheben sich mehr durch die Höhe und den Glanz der Farben, als durch die Wahl der Umstände und durch die Höhe der Gedanken. Das feinste und verborgenste der Kunst, in jedem besondern Theil derselben, hatte er völlig in seiner Gewalt. Dabey blieb er immer bey sich selbst, und seines Plans eingedenk. Die Hitze des Genies riß ihn niemals aus seiner Bahn weg. Er ist der größte Künstler, und sein Genie ist durch das Studium zu aller Vollkommenheit erhoben worden, deren er fähig war. Wenn die Aeneis nicht die erhabenste und wunderbareste Epopee ist, so ist sie doch die untadelhafteste.

Jedoch kann man dem Virgil das Vermögen sich bis zum Erhabenen zu schwingen keinesweges absprechen. Die Schilderey im zweyten Buche, da die Venus dem Aeneas die unwiderstehliche Gewalt vorstellt, wodurch Troja sollte in ihren Untergang gerissen werden, ist von sehr erhabener Art. Neptun erschüttert in den Tiefen die untersten Fundamente der Stadt; Juno hält mit Gewalt den Griechen die Tohre offen, und treibet sie in einer Art von Wuth von den Schiffen zum Sturm; Pallas zerstöhrt selbst die festesten Schlösser, und Jupiter reizt Götter und Menschen zum Zorn gegen diese unglükliche Stadt. Ein großes und wunderbares Gemälde!

Eine der vorhergehenden Anmerkungen macht begreiflich, warum dieses fürtrefliche Gedicht in Rom nicht zu der Verehrung ist aufgestellt worden, als die Ilias und die Odyßea in Griechenland. Homer war der vollkommenste Dichter für die Griechen; [17] aber Virgil war es nicht für die Römer, die zu seiner Zeit doch noch nicht alle Stärke ihres ehemaligen Charakters verlohren hatten. Da er aber der Dichter aller Menschen von feinem Geschmak und einem etwas ruhigen Temperament ist, da seine Materie und seine Charaktere allgemeiner sind, als die, welche Homer behandelt, so ist auch sein Ruhm unter den Neuern, deren Art zu denken der seinigen näher kommt, allgemeiner geworden.

1S. Della ragion poetica di Vinc. Gravina Lib. I. c. 23. Macrob. Saturna.Lib. V. & VI.
2Einige feine Betrachtungen über diesen Dichter, aus einem moralischen Gesichtspunkt, findet man in zwey Todtengesprächen, welche der neuesten Ausgabe der neuen critischen Briefe des Herrn Bodmers angehängt sind.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 16-18.
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