Episode

[330] Episode. (Dichtkunst)

So nennte man ehemals, nach des Aristoteles Bericht, die Scenen des Drama, die zwischen den Gesängen des Chors aufgeführt wurden; denn das Wort bedeutet ursprünglich etwas, das nach dem Gesang, oder zwischen den Gesängen steht. Anfänglich bestuhnd die griechische Tragödie, so wie die Comödie, blos aus einem festlichen Gesang eines oder mehrern Chöre; nachher aber stellte man zwischen den Gesängen eine Handlung vor, die daher den Namen Episode bekam. Die Neuern drüken durch dieses Wort sowol in dem dramatischen, als epischen Gedichte solche Vorstellungen aus, die in den Zwischenraum, wo die Erzählung oder Vorstellung der Handlung unterbrochen wird, eingeschaltet werden. So giebt Homer im zweyten Buch der Ilias währender Zeit, daß beyde Heere sich in Schlachtordnung stellen, davon er die Umstände nicht erzählen wollte, eine Beschreibung der ganzen Seemacht der Griechen; und im III Buch, da beyde Heere gegen einander stehen, die Ankunft des Priamus erwarten und feyerliche Opfer zurüsten, führt uns der Dichter inzwischen nach Troja zu der Helena: dergleichen Zwischenvorstellungen nennt man gegenwärtig Episoden. Bisweilen nennt man auch, nicht nur in der Dichtkunst, sondern auch in Gemählden, gewisse Nebensachen, die keine nothwendige Verbindung mit der Hauptsache haben, episodische Auszierungen.

Die Episoden lenken die Aufmerksamkeit eine Zeitlang von der Hauptvorstellung ab, und verursachen in der Handlung Ruhestellen, auf welchen die Vorstellungskraft sich durch Gegenstände einer andern Art erholt, oder, weil es nicht möglich oder nicht schiklich war, ihr das, was inzwischen geschieht, vorzulegen, mit etwas andern beschäftiget wird. In großen und etwas verwikelten Handlungen geschieht es meistentheils, daß Dinge vorkommen, die im Drama nicht vorgestellt und im epischen Gedicht nicht wol können erzählt werden. Damit aber weder die Handlung, noch die Erzählung dadurch völlig still stehe, wird unterdessen etwas Episodisches in die Handlung oder Erzählung eingemischt.

Die Episoden können auch noch aus einem andern Grund nothwendig werden; nämlich da, wo zweyerley ganz intressante Vorstellungen von entgegen gesetztem Charakter auf einander folgen müßten. Da kann eine dazwischen gesetzte Episode den Geist und das Gemüth nach und nach in eine andre Faßung bringen, und zu dem folgenden vorbereiten. Dieses beobachten auch die Tonsetzer, die, wo es nicht die Natur der Sache ausdrüklich erfodert, nie von [330] einem Ton in einen andern sehr gegen ihm abstechenden herüber gehen, ohne das Gehör durch einen dazwischen liegenden geführt zu haben, der das Gefühl des erstern schwächet, und dadurch zu dem folgenden vorbereitet.

Es würde aber sehr unschiklich seyn, wenn die Materie der Episode der Hauptmaterie ganz fremd wäre: sie muß eine genaue Beziehung auf die Hauptsache haben, und recht zu gelegener Zeit kommen. Sie muß in den Charakter der Hauptsache hineinpaßen, und etwas enthalten, wodurch die Hauptvorstellung gewinnt, oder besonders einige Erläuterung bekommt, die sonst nicht wol schiklich hätte können angebracht werden. Dadurch werden die Episoden so genau in den Stoff der Handlung eingewebt, daß man sie ohne Schaden nicht heraus nehmen könnte.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 330-331.
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