Augenblik

[93] Augenblik. (Mahlerey)

Der Zeitpunkt in einer Begebenheit, den der Historienmahler zu seiner Vorstellung gewählt hat. Weil nämlich in dem Gemählde keine Folge von Begebenheiten statt findet, sondern alles still stehet, so kann von einer Geschichte in dem Gemählde nur ein einziger untheilbarer Punkt der Zeit vorgestellt werden, das ist, der Mahler drükt eine gewisse Scene aus, wie sie in einem von ihm gewählten Augenblik gewesen ist.

Die Wahl des Augenbliks ist ein wichtiger Theil der Erfindung des historischen Gemähldes. Denn jeder Augenblik einer wichtigen Handlung hat seine besondern Umstände, und giebt den Personen besondere Empfindungen. Der Mahler, der sich z. E. überhaupt vorgesetzt hat, Christum am Creuz zu mahlen, kann entweder den Augenblik wählen, da er angeheftet wird, oder den, da der Heiland mit seinen Verwandten in einer gewissen Gemüthsruhe vom Creuz herunter spricht, oder, da er voll Schmerzen und Seelenangst ist, oder, da er ruft: es ist vollbracht u. s. f. Jeder dieser Augenblike kann dem Gemähld einen besondern Charakter, eine besondre Anordnung, ihm eigene Erfindungen, Stellungen, Leidenschaften u. s. f. geben.

Der Mahler muß deswegen nach der Wahl der Materie der Wahl des Augenbliks ernstlich nachdenken. Er muß der Geschichte, die er vorstellen will, durch alle Augenblike nachgehen, sich bey jedem alle Umstände wol vorstellen, und erst alsdenn von allen den wählen, der sich zu seiner Absicht am besten schiket. So wol die mahlerische als die poetische Anordnung hängen von dem gewählten Augenblik ab.

Bey einem gemeinen und sehr oft wiederholten Inhalt kann das Werk durch die glükliche Wahl des Augenbliks, das Ansehen der Neuigkeit bekommen. Z. E. der Mahler würde sehr viel neues anbringen können, der für seinen gekreuzigten, oder sterbenden Christus den Augenblik wählte, da das Erdbeben entsteht.

Augenblik. (Schauspiel.) Auch die Schauspieler und die für die Bühne arbeitenden Dichter müssen gewisse Augenblike sich besonders empfohlen seyn lassen. Es giebt in wichtigen Handlungen gewisse Augenblike, wo die Bewegungen der Gemüther am merkwürdigsten sind; wo es wichtig ist, daß der Zuschauer Zeit habe, alles genau zu bemerken, um zur vollständigen Rührung zu kommen. So wol Dichter als Schauspieler haben darauf zu denken, dem Zuschauer diese Zeit zu geben. Denn wenn man sie zu schnell sollte vorbey gehen lassen, so würde der Eindruk nicht stark genug seyn. Der Mahler hat bey solchen Augenbliken den Vortheil, daß er alles fest hält, und dem Auge Zeit läßt, jede Mine und jede Gebehrde wol zu bemerken. Der Schauspieler muß nothwendig die Personen in solchen Augenbliken in das beste Licht setzen, und auf das vortheilhafteste gruppiren. Er muß dabey in die Schule des Mahlers gehen. Es giebt Trauerspiele, wo einige stumme Augenblike, da die ganze Handlung gehemmt scheint, und jeder nur innerlich, mit sich selbst zu thun hat, von großer Würkung sind.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 93.
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