Ansehen

[70] Ansehen. (Schöne Künste)

Der Charakter der äußerlichen Form einer Sache. Man sagt von einem Gebäude, es habe ein gutes oder schlechtes, ein edles oder gemeines Ansehen. Bey Personen ist das Ansehen das, was in der französischen Sprache Air genennt wird. Es entsteht aus dem ganzen der Form, und ist von dem Charakter, der aus einzelen Theilen entsteht, verschieden. Das Gesicht eines Menschen zeiget bisweilen einen andern Charakter, als derjenige ist, den seine ganze Person ausdrükt.

Da die unbelebten Formen an einem andern Orte betrachtet worden sind;1 so ist hier die Rede blos von der menschlichen Gestalt, in so fern ihr Ansehen ein Gegenstand der Kunst ist. Für den Mahler, den Bildhauer und den Schauspieler, ist das Studium des Ansehens der wichtigste Theil der Kunst; dem Redner und dem epischen Dichter, ist selbiges unentbehrlich.

Schon an sich selbst betrachtet, ist das Ansehen ein wichtiger Gegenstand der Künste; weil es eine sehr merkwürdige Sache ist, Eigenschaften eines denkenden und empfindenden Wesens, in körperlichen Formen zu entdeken.2 Also kann der Künstler, dem es gelinget einen Gemüthscharakter, oder auch nur einen vorübergehenden Gemüthszustand, durch das Ansehen der Personen, genau abzubilden, gewisse Rechnung auf unsern Beyfall machen. Selbst die bäurischen Figuren eines Teiniers oder Ostade und der von Hogarth gezeichnete Pöbel,3 erweken einiger maßen Bewunderung; auch würde ein Schauspiel, in welchem jede Person, durch ihr Ansehen, ihren Charakter oder ihren Gemüthszustand, bestimmt zu erkennen gäbe, schon allein dadurch gefallen.

Weit wichtiger wird die Würkung des Ansehens in Werken, die auf etwas höheres, als die bloße Belustigung ist, abzielen. Wir werden für oder wider Personen, Handlungen und Gesinnungen, durch das äußerliche Ansehen, mit unwiderstehlicher Kraft eingenommen. So wird uns Thersites schon durch sein Ansehen verächtlich, ehe er noch etwas gethan oder geredet hat.

Der Künstler also, der diesen Theil der Kunst in seiner Gewalt hat, ist Meister über unsre Empfindungen. Die höchste Würkung der Kunst liegt in diesem Theile. Man sehe in welche Entzükung Winkelmann über das Ansehen eines bloßen Rumpfs geräth, und erkenne daraus die Wichtigkeit des Ansehens.

Es ist aber nur den größten Künstlern gegeben, hierin glüklich zu seyn: Regeln wären hier vollkommen unnüze, wo das Genie allein würken muß. Das einzige was man dem Künstler hierüber sagen kann, wenn man ihm das Studium der Natur empfiehlt, hilft ihm doch nichts, wenn er nicht eine höchst empfindliche Seele hat, die sich mit der größten Leichtigkeit, gänzlich in jeden Zustand setzen, und ihrem Körper jede Gestalt geben kann. Man trifft bisweilen Menschen von sehr mittelmäßigen Gaben an, die mit der größten Leichtigkeit, das Ansehen jeder Person, annehmen. Diese sind gebohrne Schauspieler.

Doch ist nicht zu zweifeln, daß nicht eine fleißige Uebung auch mittelmäßige Anlagen zu diesem Talent, merklich verstärken sollte. Der Künstler, den eine genaue Aufmerksamkeit auf das Ansehen, überall begleitet; der alle Classen der Menschen, der viele Völker gesehen, und nicht blos ins Auge, sondern fest in die Einbildungskraft gefaßt hat, wird darin nicht ganz unglüklich seyn; zumal wenn er sich unaufhörlich übet, sich selbst in jeden Gemüths-Zustand [70] zu setzen. Die Einbildungskraft will, wie alle andre Fähigkeiten, beständig geübet seyn.

Der Ausdruk des Ansehens, den der epische Dichter in seiner Gewalt haben muß, ist vielleicht, das schwerste seiner Kunst. Da ihm nicht erlaubt ist in Beschreibung des Ansehens umständlich zu seyn, so muß er mit wenig Zügen sehr viel auszudrüken wissen.

Dem Redner ist die Kunst sich jede Art des Ansehens zu geben, von der höchsten Wichtigkeit. Denn dadurch wird er beredter, als durch die Rede selbst. Wir empfehlen dem angehenden Redner dasjenige fleißig zu erwegen, was über die Wichtigkeit der Fassung ist erinnert worden.4 Er muß aber so gut, als der Schauspieler, ein Proteus oder ein Ulysses seyn, der alle Gestalten anzunehmen weiß. Denn mitten in der Rede, muß er, so ofte er den Ton oder die Materie ändert, auch das, sich dazu schikende, Ansehen annehmen.

1S. Form.
2S. Aehnlichkeit.
3S. Hog. Kupfer zu Buttlers Hudibras.
4S. Fassung.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 70-71.
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