Dichtkunst. Poetik

[258] Dichtkunst. Poetik.

Eine so wichtige Kunst, als die Poesie ist, verdienet von Männern, die den feinesten Geschmak mit der schärfsten Beurtheilung vereinigen, in ihrem psychologischen Ursprung, in ihren mannigfaltigen Aeusserungen und in ihrer besten Anwendung betrachtet zu werden. Nicht deswegen, daß durch die beste Theorie dieser Kunst ein Dichter könnte gebildet werden; denn nur die Natur kann dieses thun; sondern damit die, denen die Natur die Anlage gegeben, ihre Bestimmung deutlich erkennen lernten, und einen Weg vorgezeichnet fänden, auf welchem sie fortgehen müssen, um zu dem Grad der Grösse zu kommen, dessen ihr Genie fähig ist.

Obgleich sehr viel zu dieser Theorie dienendes geschrieben ist, so fehlt es noch an einem Lehrgebäude der Dichtkunst. Die, welche davon geschrieben haben, fanden das, was sie voraus setzen sollten, die Theorie der schönen Künste überhaupt, nicht vor sich, deswegen liessen sie sich in vielerley Beobachtungen und Untersuchungen ein, die die Poesie mit allen andern schönen Künsten gemein hat.

Wenn man die allgemeine Theorie der Künste, oder die Aesthetik voraus setzet, so scheinet die Poetik insbesondere folgende Untersuchungen zu erfodern. Zuerst eine richtige Bestimmung des eigenthümlichen Charakters der Poesie, wodurch sie zu einer besondern Kunst wird, und der besondern Mittel, die sie anwendet, den allgemeinen Zwek der Künste zu erreichen.

Hierauf würde der Charakter des Dichters, und die nähere Bestimmung seines absonderlichen Genies zu betrachten seyn, wodurch er gerade ein Dichter, und nicht ein Redner oder ein andrer Künstler wird.

Dann würde der wahre Begriff des Gedichts fest zu setzen und bestimmt zu zeigen seyn, wodurch es sich von jedem andern Werk der redenden Künste unterscheidet. Es würde sich hieraus ergeben, was in der Materie oder in den Gedanken, was in der Sprache und in der Art des Ausdrukes poetisch ist. Hierauf müßte man versuchen, die verschiedenen Gattungen des Gedichts allgemein zu bestimmen, und den besondern Charakter einer jeden Gattung festzusetzen. Man müßte den Ursprung der Gattung und Arten in der Natur des poetischen Genies aufsuchen, und daher wieder die, jeder Art vorzüglich angemessene Materie, die geschiktesten Formen, und den wahren Ton bestimmen.

Bey jedem besondern Theile dieser Untersuchungen müßte man eine beständige Rüksicht auf die praktische Anwendung der Theorie haben, damit der Dichter dabey alles fände, was zu Erforschung und Ausbildung seines Genies dienet. Er müßte daraus lernen, durch was für Studium und Uebung er seine Fähigkeiten erweitern, durch welche Wege er seinen Stoff erfinden, und durch was für Arbeiten er die Fertigkeit in seiner Art erwerben könne.

Wiewol es uns noch an einem solchen System fehlet, so haben über alle zur Poetik gehörige Materien verschiedene grosse Männer alter und neuer Zeit so viel einzele Betrachtungen vorgetragen, daß dem, der das Werk im Zusammenhang ausführen wollte, die Arbeit schon sehr würde erleichtert werden.

Aristoteles scheinet zuerst die Bahn hiezu eröffnet zu haben. Der Theil seiner Poetik, der auf unsre Zeiten gekommen ist, zeuget, wie die meisten Schriften dieses grossen Mannes, von scharfen philosophischen Einsichten und feinem Geschmak. Doch hat er, welches bey einem Genie, wie das seinige war, das immer von den ersten und allgemeinesten Grundsätzen anzufangen liebte, zu verwundren ist, sich blos bey dem aufgehalten, was der Zufall oder das Genie der Dichter bis auf seine Zeiten in der Poesie hervorgebracht hatte. Etwas allgemeiner und zugleich weiter aussehend ist das Lehrgedicht des Horaz; ein Werk, wo die wichtigsten Lehren der Kunst auf die vollkommenste Weise vorgetragen sind. Da es die größten Geheimnisse der Kunst anzeiget, so sollte jeder Dichter dieses Werk unaufhörlich studiren. Aber Horaz hat als ein Dichter geschrieben, dem es nicht erlaubt war, sich in genaue Entwiklung der Sachen einzulassen. Er spricht in dem Ton eines Gesetzgebers, dessen Wille[258] für Gründe dienet. In diesem Ton und mit nicht geringerer Scharfsinnigkeit haben in Frankreich Boileau1, und in England Pope2 von der Dichtkunst geschrieben.

Von den unzähligen in die Poetik einschlagenden dogmatischen Schriften, enthalten die in der Anmerkung hierunten3 angeführten, das gründlichste und wichtigste, was über diese Materien bis dahin entwikelt worden.

1Art poetique.
2Essay on Criticism.
3

Della ragion poetica Libri due di Vicentio Gravina.

Muratori della perfetta poesia.

Reflexions sur la poesie & la peinture par l'abbé du Bos.


Von deutschen Schriften:

Die critischen Werke von Bodmer und von Breitinger.

Homes Grundsätze der Critik.

Ramlers, Batteux.

Schlegels Abhandlungen, die seinem übersetzten Batteux beygefügt sind.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 258-259.
Lizenz:
Faksimiles:
258 | 259
Kategorien: