Dichtkunst

[117] Dichtkunst (Poesie), unter den Schönen Künsten die an Mitteln reichste u. in ihren Wirkungen mächtigste. Das Mittel, dessen sich die D. zur Darstellung des Schönen bedient, ist die Sprache, ein körperloses Erzeugniß des menschlichen Geistes, welches die Bilder der schaffenden Phantasie in die Vorstellung Anderer unmittelbar überträgt. Die D. bedarf also nicht, wie die Bildenden Künste, einer realen, körperhaften od. durch Farbenwirkung körperhaft erscheinenden Verwirklichung der Idee des schaffenden Künstlers, sie ist unabhängig von der Materie, kann sich also in freierem Fluge dem Ideale nähern, dessen Hauch die Darstellung der Wirklichkeit zur künstlerischen Schöpfung, zur Schönheit erhebt. Mit der Musik hat sie die unmittelbare Wirkung auf das menschliche Gemüth gemein, aber sie ist befähigt, bestimmtere, klarere Vorstellungen zu erwecken, als die Tonkunst, welche sich begnügen muß, blos eine Stimmung hervorzurufen. Sie vereinigt, indem sie sowohl in die Tiefen des menschlichen Gemüthes hinab zu steigen als auch die reale Welt in ihren mannigfachen Erscheinungen zur künstlerischen Darstellung zu bringen vermag, alle Kräfte in sich, welche die übrigen Künste nur zum Theil besitzen. Wie die Kunst sich überhaupt in ihrem Ursprunge an die Außenwelt anlehnte, so ging auch die Poesie aus der Betrachtung derselben hervor. Die Poesie aller Völker ist in ihrem Anfange die Mythe, die Erhebung der Naturerscheinungen zu selbständigen, willenbegabten Mächten. Die Vorstellung von dem Zusammenhang dieser von der Poesie geschaffenen Götterwelt mit dem Thun u. Lassen der Menschen führte zum Epos (s.d.). Die epische Dichtung stellt das Geschehene als unter dem Einfluß von Schicksalsmächten geschehend dar. Erst mit der fortschreitenden Cultur, wo der Mensch mehr u. mehr zum Bewußtsein seiner Kraft u. Fähigkeiten gelangte, gingen die Völker zur Lyrik (s.d.), zur Äußerung subjectiver Gefühle u. Empfindungen, zur Betrachtung der Welt aus rein individuellen Gesichtspunkten, über. Zur höchsten Vollendung steigerte sich aber die D. erst, als das Individuum sich des Contrastes bewußt wurde, welcher zwischen dem eigenen Willen u. den allgemeinen Verhältnissen, welche dasselbe umgeben, besteht, als in Folge des näheren Zusammenrückens der Menschen Rechte u. Pflichten entstanden, deren Verletzung den Einzelnen in Opposition gegen die gesammte od. einen großen Theil der Gesellschaft setzt. Die Schilderung des Kampfes zwischen dem Einzelnen u. der Gesammtheit u. sein Untergang in diesem Kampfe ist die Aufgabe der dramatischen Poesie (s. Drama). Im Epos sehen wir breite Massen, von demselben nationalen Geiste beseelt, von derselben religiösen Idee zusammengehalten, im Kampfe gegen einander, aber wir sehen nur das äußere Thun derselben, u. jeder einzelne der hervorragenden Kämpfer unterscheidet sich nur durch besondere Eigenschaften u. Neigungen, ohne daß dieselben, zusammengenommen, das Bild eines Charakters geben. Die Lyrik zeigt uns das Gemüth des Menschen in einem bestimmten Affect, der sich uns selbst mittheilt, also nur ein kleines Theilchen der inneren Natur des Menschen. Erst im Drama erreicht die D. ihr höchstes Ziel, die Darstellung des ganzen Menschen, des Handelns nach Grundsätzen u. höheren Zwecken. Außer diesen drei Hauptgattungen der D. gibt es noch Dichtungsarten, welche aus der Mischung epischer u. dramatischer od. lyrischer Elemente hervorgegangen sind; so das Idyll, die Ballade, die Fabel. Noch andere Dichtungsarten nähern sich der Darstellung u. Beschreibung der Wirklichkeit ohne Beziehung auf ihr Ideal, d.i. der prosaischen Geschichtserzählung u. Beschreibung; dahin gehört die didaktische Poesie, der Roman u. die Novelle. Denselben Vorzug, welchen die D. in ihrem freien Streben nach dem Idealen vor den übrigen Künsten voraus hat, besitzt sie in noch höherem Grade in Bezug auf die Verkehrung des Ideals, auf die Darstellung des Realen unter einem niedrigen, seiner Unzweckmäßigkeit wegen überraschenden, d.h. komischen Gesichtspunkte. Sowohl im Epos u. in der Lyrik als auch in der dramatischen Poesie kann an die Stelle des Ideals der Gegensatz desselben treten, u. es entstehen auf diese Weise das komische Heldengedicht, das Thierepos, die Satyre, das Lustspiel, der humoristische Roman u.a. Abarten der Poesie. Wie der Inhalt jeder poetischen Schöpfung verklärt u. vergeistigt ist durch das Licht des Ideals, so entrückt der Dichter sein Werk auch durch die Form des sprachlichen Ausdrucks der gemeinen Wirklichkeit. Er gibt den Worten einen dem Ohre gefälligen Klang, indem er zwischen Hebung u. Senkung des Tons nach gewissen Regeln wechselt, durch Alliteration od. Reim einen Gleichklang, einen Wohllaut hervorbringt. Diese äußere Form hat je nach der Art der Dichtung einen eigenthümlichen Charakter u. entfernt sich mehr od. weniger von der gewöhnlichen Redeweise. Die Lyrik hat in dieser Beziehung den weitesten Spielraum, weniger das Epos, noch weniger das Drama (vgl. Vers u. Strophe). Die Lyrik ist durchaus an die rhythmische Form gebunden, weil sie am meisten Verwandtschaft mit der Musik hat u. unmittelbar auf das menschliche Gefühl wirkt. Das Epos erfordert Breite u. Klarheit der Darstellung, eine plastische Ruhe u. Gemessenheit, welche an einer Verschlingung der Rede zu bunten Formen scheitern würde; das Drama aber darf sich am wenigsten von der natürlichen Art der Gedanken- u. Gefühlsäußerung entfernen, weil es seine Gestalten selbstredend u. selbsthandelnd auftreten läßt u. das treueste Spiegelbild menschlichen [117] Wesens ist. Die Geschichte der D. bildet den wichtigsten Theil der Culturgeschichte, weil sich in den Werken der D. die geistigen Strömungen der Zeit u. das nationale u. religiöse Bewußtsein der Völker am reinsten abspiegelt. Daher hat sich die historische Forschung der D. auch früher bemächtigt, als jeder anderen Kunst, u. über die D. fast aller Zeiten u. Völker besitzen wir eine große Anzahl Darstellungen, s. die Literaturen der einzelnen Völker. Eine Gesammtübersicht gibt Rosenkranz, Handbuch der Geschichte der Poesie, Halle 1832, 3 Bde., u. Zimmermann, Geschichteder Poesie aller Völker, Stuttg. 1847.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 5. Altenburg 1858, S. 117-118.
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