Phantasie

[33] Phantasie (v. gr.), 1) eine Vorstellung od. Vorstellungsgruppe, namentlich in so fern sie für sich[33] allein die Wirklichkeit (Realität) des Vorgestellten nicht verbürgt, od. in Beziehung auf sie nachgewiesen werden kann, daß ihr etwas Wirkliches nicht entspricht. Man nennt daher die von den Bedingungen der sinnlichen Wahrnehmung u. den Gesetzen des verständigen Denkens losgelösten Vorstellungsspiele des Träumenden, des Fieberkranken, des geistig Gestörten vorzugsweise Phantasien, u. wenn sie einen solchen Grad von Lebhaftigkeit erlangen, daß sie für Wirklichkeiten gehalten werden, Phantasmen, Phantasmagorieen, Hallucinationen (s.d.). Als P-en werden aber auch die Vorstellungsspiele bezeichnet, denen sich der körperlich u. geistig gesunde Mensch häufig überläßt, ohne nach der Wirklichkeit dessen zu fragen, was ihn innerlich beschäftigt; so hat die Liebe, die Furcht, die Hoffnung ihre P-en, u. in ihnen liegt häufig der poetische Reiz des Lebens im Gegensatz zu der trocknen Prosa der Wirklichkeit. Vorzugsweise gilt dies von allen Gebieten der poetischen u. künstlerischen Thätigkeit; namentlich in der Musik nennt man P. entweder eine musikalische Improvisation, in welcher der Künstler in freier Form unmittelbar seine Empfindungen durch Töne darstellt, od. eine einer solchen Improvisation sich annähernde musikalische Composition; 2) dasjenige geistige Vermögen, dessen Äußerungen die verschiedenen Arten des Phantasirens sein sollen, also die Einbildungskraft. Die Entscheidung der Frage, ob es zulässig od. nothwendig sei, ein besonderes Seelenvermögen unter dem Namen der P. anzunehmen, hängt von allgemeineren Untersuchungen über die Gründe ab, welche überhaupt zu der Annahme verschiedener Seelenvermögen geführt haben, deren jedes seine eigenen Functionen habe. Die Veranlassung, die P. für ein besonderes Seelenvermögen zu erklären, lag in dem, in der inneren Erfahrung deutlich hervortretenden Unterschiede solcher Vorstellungen, deren Entstehung u. Verknüpfung an bestimmte sinnliche Wahrnehmungen, an den wirklichen Verlauf der Ereignisse gebunden ist, u. solcher, welche unabhängig von dem gegenwärtigen Verkehr mit der Erfahrungswelt im Bewußtsein auftauchen u. die früher ins Bewußtsein eingetretenen Vorstellungen in Verbindungen u. Verknüpfungen erscheinen lassen, welche von dem erfahrungsmäßig Wahrgenommenen abweichen. Man bezeichnet daher die P. zunächst als reproduclive, als die Kraft, schon gehabte Vorstellungen in anderer Verbindung ins Bewußtsein wieder eintreten zu lassen. Diese phantasirende Reproduction hat mit der gedächtnißmäßigen einerlei Wurzel, nämlich die Reproduction; aber sie unterscheidet sich von ihr durch die mannigfaltigsten Abweichungen von der Ordnung u. Reihenfolge, in welcher die Vorstellungen ursprünglich ins Bewußtsein eingetreten waren, also durch ein buntes, unerschöpflich abwechselndes, scheinbar von jeder Gesetzmäßigkeit losgelöstes Spiel der Ideenassociation (s.d.). Insofern sich aber die phantasirenden Reproductionen zu Vorstellungsgruppen gestalten, welche in der Combination u. Verknüpfung ihrer Elemente etwas Neues, in dieser Form von der Erfahrung nicht Entlehntes darstellen, nennt man die P. productiv, schöpferisch. Die Thätigkeit dieser productiven P. ist aber keineswegs auf. das Gebiet der Poesie u. Kunst beschränkt, sondern der Mathematiker, der Mechaniker, überhaupt alle Erfinder in den verschiedensten Gebieten bedürfen derselben; aber so wie die productive P. des Dichters u. Künstlers durch die Rücksicht auf. die Bedingungen einerästhetischen Gesammtwirkung seines Werks, so ist überall, wo sie auf wissenschaftlichen od. praktischen Gebieten producirte, ihre Thätigkeit an die Gesetze des verständigen u. vernünftigen Denkens u. die Erreichbarkeit des praktischen Zwecks durch bestimmte Mittel gebunden. Wenn daher die Grenzen dessen, was man reproductive u. productive P. genannt hat, in vielen Fällen der Wirklichkeit sich nicht streng sondern lassen, so fließen in der Wirklichkeit nicht nur die Grenzen der reproductiven P. mit der gedächtnißmäßigen Reproduction theilweis zusammen, sondern es nähern sich auch die der productiven P. zugeschriebenen Functionen häufig den Operationen des höheren, ästhetisch u. logisch gebildeten Denkens. Die hierher gehörigen überaus mannigfaltigen, vielfach in einander eingreifenden psychischen Thatsachen werden daher nur dann einigermaßen begreiflich werden, wenn es gelungen ist, der allgemeinen Gesetze des bald an den Leitfaden der Erfahrung sich bereichernden u. fortschreitenden, bald die Grenzen des erfahrungsmäßig Gegebenen überschreitenden u. sich entweder dem bunten Spiele der Vorstellungen überlassenden od. mit selbst erzeugten Mitteln zu der Gestaltung u. Beherrschung der inneren u. äußeren Welt sich zurückwendenden Gedankenlaufs zu ergründen. Vgl. Muratori, Über die Einbildungskraft (übersetzt von Richter), 1785, 2 Bde.; Maaß, Versuch über die Einbildungskraft, Lpz. 1792.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 13. Altenburg 1861, S. 33-34.
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