Thatsache

[444] Thatsache, überhaupt Alles, was irgend einmal in Zeit od. Raum geschehen od. entstanden ist, sei dies nun das Resultat einer menschlichen Thätigkeit (Handlung) od. anderer Kräfte (Ereigniß). Die T-n zerfallen in affirmative (Factum), wobei es sich um das Entstehen od. Geschehensein von etwas vorher nicht Existirenden handelt, u. in negative (Non-Factum), wobei die T. darin besteht, daß ein Ereigniß nicht eingetreten, also etwas vorher nicht Existirendes nicht entstanden od. geschehen, od. etwas bereits Existirendes nicht verändert worden ist. Die Kenntniß der bezüglichen T-n ist für jede positive Wissenschaft, wie für jedes Geschäft des praktischen Lebens eines der ersten Erfordernisse. Bes. wichtig wird dieselbe bei Fällung von Rechtssprüchen. Nur solche T-n, hinsichtlich deren eine juristische Gewißheit vorliegt, d.h. bezüglich welcher die von den Gesetzen aufgestellten Grundsätze die Annahme gestatten, daß die T. wirklich geschehen sei, können dabei in Betracht gezogen werden. Es genügt daher nicht, wenn auch manche Vermuthungen für eine T. sprechen; umgekehrt gibt es bes. im Civilrecht u. Civilproceß Fälle, in denen T-n z.B. wegen sogen. Präsumtionen (s.d.) als wahr angenommen werden, obschon für dieselben eine völlige Gewißheit keineswegs vorliegt od. überhaupt dieselbe zu erbringen gar nicht möglich ist. Das Nähere hierüber s.u. Beweis. Die Feststellung aller derjenigen T-n. welche bei[444] einem Rechtsspruch zu beachten sind, bildet die Thatfrage, im Gegensatz der Rechtsfrage, d.h. derjenigen logischen Operation, welche auf die Unterbringung der thatsächlichen Verhältnisse unter die bestehenden Gesetze u. auf die Anwendung der letzteren abzielt. Zuweilen ist die Feststellung der Thatfrage u. die Beantwortung der Rechtsfrage in einem Processe verschiedenen Abtheilungen des Gerichtes zugewiesen, wie z.B. bei den Assisenhöfen, bei denen die erstere der Geschwornenbank, die letztere dagegen den Assisenrichtern zusteht (s.u. Geschwornengericht). Hierbei bildet es eine besondere Kunst des Vorsitzenden des Gerichtshofs, den Geschworenen die auf die Feststellung der T-n bezüglichen Fragen mit möglichster Deutlichkeit u. Präcision vorzulegen. Auch in Bezug auf die Rechtsmittelinstanz hat die Scheidung zwischen That- u. Rechtsfrage im neueren Proceß große Wichtigkeit, indem z.B. nach den meisten neueren Criminalproceßgesetzen nur wegen Rechtsfragen, nicht auch wegen Thatfragen Appellation ergriffen werden darf.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 17. Altenburg 1863, S. 444-445.
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